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Drei Gelehrte nahmen Abschied

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Kaum hat sich Holland von den größten materiellen Schäden erholt, fordert die unbarmherzige Zeit ihre Opfer auf geistigem Gebiet. Für jemand, der das katholische Leben Hollands in den letzten Jahrzehnten gekannt hat, ist es fast unvorstellbar, daß Männer wie der bekannte Theologe van N o o r t, der Jesuit van G i n n e k e n und der Utrechter Professor Schmutzer nicht mehr sind. Für den holländischen Katholizismus war es ein empfindlicher Verlust, als diese drei bedeutenden Männer im Herbst dieses Jahres kurz nacheinander starben, denn sie waren nicht nur große und angesehene Gelehrte, sondern sie spielten auch eine positive Rolle in der Entfaltung des niederländischen Katholizismus. Dabei waren sie in Erscheinung, Wesen, Wirken und Auftreten so grundverschieden, daß schon allein dieses Beispiel zeigt, wie der räumlich so eng umgrenzte Katholizismus in Holland noch Raum genug bietet für außerordentliche und wesentlich verschiedene Begabungen.

Der Älteste von ihnen, van Noort, wurde in den theologischen Kreisen der ganzen Welt berühmt durch seine klassischen Lehrbücher der Dogmatik, die er in der erstaunlich kurzen Zeit von 16 Jahren verfaßte. Er war einer der ersten, der den Ruf Leos XIII. sofort verstand und seine großen Gaben in den Dienst des Neo-Thomismus stellte. Indem er einerseits die traditionelle thomistische Lehre für den modernen Menschen annehmbar zu machen versuchte, bemühte er sich andererseits als Scheebens Schüler die neuen wissenschaftlichen Errungenschaften in das katholische Lehrsystem einzubauen, ohne in die Fehler des Modernismus zu fallen. Van Noorts Bedeutung für die katholische Theologie bestand darin, daß er für die Periode von 1900 bis 1930 das gangbare, klar geschriebene, kurz gefaßte und doch moderne Handbuch verfaßte, aus dem sowohl der junge Theologe als der reife Seelsorger sich sofort über die kirchliche Auffassung und den modernen Stand der Wissenschaft orientieren konnte. Nach seiner relativ kurzen Lehrtätigkeit wurde er Stadtpfarrer in Amsterdam, wo er mehr als zwanzig größere und kleinere Schriften verfaßte, von denen die letzte über den Nationalsozialismus die erlösende Antwort für manchen verwirrten Geist enthielt.

Es muß auf Ausländer einen merkwürdigen Eindruck gemacht haben, daß van Noort keinen einzigen akademischen Grad besaß; aber diese Tatsache hängt mit dem holländischen eigensinnigen Charakter zusammen, der gerne auf äußere Auszeichnungen verzichtet. Auch van Noorts Bischof vertrat diesen Standpunkt; er ließ den jungen Theologen 4 nicht weiterstudieren, sondern ernannte ihn sofort zum Theologieprofessor. Erst als van Noort schon längst seine Lehrtätigkeit aufgegeben hatte und Dechant von Amsterdam geworden “war, wurde er von der päpstlichen Studienkongregation zum Ehrendoktor ernannt.

Er war der Typus des im Ausland bekanntgewordenen Holländers: er schien fast phantasielos, ausgesprochen nüchtern und systematisch wie ein Lehrbuch. Aber wer ihn besser kennen lernte, entdeckte in ihm einen Menschen mit tiefem Gefühlsleben, das er fast ängstlich zu verbergen suchte, das sich aber trotzdem in einer erschütternden Frömmigkeit offenbarte. Seine klare Intelligenz war für den holländischen Katholizismus bei der Lösung manchen komplizierten Problems das strahlende Licht, von dem sich Bischöfe, Gelehrte, Gewerkschaftsführer, Politiker und jüngere Theologen führen ließen. Van Noort, der jeder Popularitätssudit abhold war und alle Äußerlichkeiten floh, wurde durch seinen immer wachsenden Einfluß und seine Stellung als Dechant von Amsterdam auch bei Andersdenkenden eine so angesehene Persönlichkeit, daß sein Sterben von allen Konfessionen als ein Verlust für ganz Holland betrachtet wurde.

Ganz anders stand es mit dem Jesuitenpater van Ginneken, der die Popularität suchte und auch fand und der im Gegensatz zu van Noort sofort den Eindruck eines genialen Menschen machte, was sich auch in seinem ausdrudcsvollen Gesicht, dem „wüsten Künstlerkopf“ und seiner überladenen Sprechweise zeigte. Während van Noort sich auf sein Fachgebiet beschränkte, stürzte sich van Ginneken auf fast alle Zweige des Geisteslebens. Er begann als Sprachforscher und eröffnete in seiner Dissertation „Introduction ä la psychologie lin-guistique“ ganz neue Wege. Aber schon bald überschritt er die von ihm selbst gezogenen Grenzen und schrieb sein großangelegtes „Handboek der Nederlandsche Taal“, von dem nur die ersten zwei großen Quarto-

Auf Haß und bloßer Gewalt läßt sich kein Friede aufbauen. Es ist aber die Tragik der Friedensschlüsse, daß sie unter dem nachwirkenden Einfluß der Kriegsleidenschaften erfolgen und daher meist die ruhige Abwägung der widerstreitenden Interessen vermissen lassen. So bergen sie in sich die Gefahr neuer Spannungen und Zusammenstöße. Heute, da Millionen von Menschen, ja ganze Völker mit dem Tode ringen, müßte allseits darüber Klarheit herrschen, daß die gewaltigen Übel der Gegenwart nicht mit den gewohnten Auskunftsmitteln der Diplomatie und Politik, nicht mit Verschiebung von Landes grenzen und Umsiedlung nationaler Minderheiten geheilt werden können; denn alle diese Maßnahmen schaffen vielleicht noch mehr Schwierigkeiten'und Verbitterungen, als sie beseitigen sollen. Auch der heißeste Wunsch nach Frieden wird unfruchtbar sein, wenn die Ursachen des Krieges bestehen bleiben. Nur ein ganz neuer Geist kann der todwunden Mens.chheit Rettung bringen. Einmal muß doch die traurige Erbschaft des Krieges bereinigt und die Unheilkette von Unrecht und Vergeltung, Vergeltung und Wiedervergeltung durch gegenseitige Vergebung und Versöhnung unterbrochen werden, damit die Völker aus dem mörderischen Haß gegeneinander zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit miteinander gelangen. Der Friede ist unteilbar und muß alle Völker umfassen; er kann nur das Werk der Gerechtigkeit sein. Das ist die ungeheuere Verantwortung dieser Stunde; sie lastet auf den Siegern und Besiegten, aber in erhöhtem Maße auf denen, die durch den Sieg die Macht erhalten haben, die Verhältnisse neu zu gestalten.

Max P r i b il 1 a: „Das Schweigen des deutschen Volkes“ in „Stimmen der Zeit“, Heft 1, 1946 bände erschienen, denn inzwischen fesselten ihn die Dialektuntersuchungen, die kaukasischen und Negersprachen, über die er viel Neues und auch Gewagtes schrieb. Aber das alles konnte einen van Ginneken nicht ausfeilen. Als die Universität Nymwegen -röffnet Würde, las er nebenbei auch noch über die niederländische Literaturgeschichte, betrat dabei ganz neue Wege in der Frage nach dem Verfasser der „Nachfolge Christi“, und ging dann allmählich zur allgemeinen Literaturgeschichte und Ethnologie über.

Van Ginneken war kein einsamer Stubengelehrter, er suchte das Leben und fühlte skh dabei immer Seelsorger. So hielt er als erster für Nichtkatholiken seine berühmt gewordenen Vorträge, die in einer Prachtausgabe erschienen. Er schrieb Bücher und wertvolle Abhandlungen über Berufswahl und gründete in Utrecht das erste psydho-technische Informationsbüro, wo er mit seinen Assistenten junge Menschen auf ihre Berufsfähigkeiten prüfte. Er war der Vater des niederländischen Laienapostolats und war wiederum der erste Marktprediger in Holland, der nach englischem Muster öffentliche Diskussionen mit Atheisten abhielt und später eine eigene Schülergemeinschaft ausbildete. Zum Schluß gründete er eine moderne Schwesternkonkregation, „Der Gral“, deren Mitglieder abwechselnd ein beschauliches Leben führten, und dann wieder im Laiengewand sich der Erziehung des Jugendproletanats widmeten.

In dieser letzten Periode zeigte er eine große Ähnlichkeit mit Dr. Carl Sonnenschein, dessen Einfluß er bestimmt übertroffen hätte, wäre seine Arbeit nicht auf den kleinen holländischen Raum beschränkt gewesen. Denn bei allem, was er tat, sagte und schrieb, spürte man das weite und tiefe Wissen des Gelehrten, sah man das Leuchten seines wirklich genialen Geistes und mußte man die Sprachgewandtheit des Künstlers bewundern. Im Gegensatz mit van Noort, der sich selten äußerte, aber sich dann kaum irrte, war van Ginneken ein Mann der vielen Worte, dem manchmal Fehler unterliefen. Aber diese Verirrungen gab er später gerne zu, ja mit der Naivität des genialen Menschen war er ebenso stolz auf seine Irrtümer als auf seine anerkannten Erfolge. Der Dechant von Amsterdam war ein gemäßigter Mann, der keine Feinde hatte; van Ginneken hatte viele, sogar verbitterte Gegner, hingegen aber eine ganze „van-Ginneken-Gemeinde“, die ihn bewunderte, während van Noort nur Verehrer hatte. Aber beide Männer haben die katholische Wissenschaft gefördert und der Kirche gedient: van Noort indem er vorsichtig beriet und weise führte, während van Ginneken bewies, daß auch ein Katholik neue, unerforschte Wege gehen könne.

Neben diesen beiden Männern trauert Holland um den Verlust des in seinem 63. Lebensjahr verstorbenen Professors Ingenieur S c h m u t z e r, der vielleicht als Gelehrter in Holland weniger bekannt war, jedoch im öffentlichen katholischen Leben eine ganz bed.u:ende Rolle innehatte. Wenn van Noort, wie auch sein Name andeutet, ein Vollblutholländer war, und van Ginneken, wie er gerne behauptete, mütterlidier-seits aus Frankreich stammte, so erschien Schmutzer seinem Wesen und seinem Namen nach eher ein Deutscher. Aber in Wirklichkeit war er ein Holländer, der seinem Vaterland vor allem in den schwersten Kriegsjahren wie kein anderer diente. Schmutzers Fadigebiet war die Geologie. Durch seinen jahrelangen Aufenthalt in den Kolonien hatte er sich Spezialkenntnisse auf dem Gebiet der indonesischen Bodenkultur erworben, auf Grund derer er Professor in Utrecht wurde. Bald zeigte er ganz besondere Verwaltungsqualitäten und wurde stellvertreten ler Vorsitzender des indonesischen Rates un,i nachher Minister für Konial-angeiegenhe.ten. Dann kehrte er wieder nach Utrecht zurück und blieb bis zu seinem Lebensende der leitende Geist der katholischen Studentenbewegung. Bei ihm fand die suchende akademische Jugend ihren klar gezeichneten Weg; er war es auch, der gerade in den letzten Jahren den Idealismus hochhielt, wo jugendliche Begeisterung so leicht versagte.

In Schmutzer verliert Holland einen seiner größten Jugendführer, in van Ginneken den genialen Pionier auf fast allen Geistesgebieten, und in van Noort den bedachtsamen, klar denkenden Lenker.

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