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Ein Ringen um Klarheit

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Von Sauers berühmter Rektoratsrede im Jahre 1907, die man in Unkenntnis der wahren Zusammenhänge gerne als „Urquelle“ für Nadlers Hypothese heranzieht, hatte der Student damals nämlich nur Bruchstücke hören und verstehen können, weil Tschechen und Deutsche während der feierlichen Inauguration vor der Universität randaliert hatten. Und so konnte der 70jährige Gelehrte in seiner Selbstbiographie in Erinnerung an den Aufbau von Sauers Rede, welche die kunstwissenschaftlichen und ideengeschichtlichen Aufgaben der Literaturwissenschaft in Verbindung mit der Volkskunde umriß, festhalten: „Und daran schloß sich dann... die Frage nach dem Ordnungsgedanken für die gesamte Masse der überlieferten Literatur. Als Ordnungsgedanke wurde der landschaftliche und stamrnheitliche angesprochen. Das hatte ich aber schon zwei Jahre vor dieser Rektoratsrede (1905!) in meiner ausführlichen Skizze, in die schon die gesamte Literatur verarbeitet war. In dieser Sache selbst konnte mir also auch diese Rede nicht helfen.“ („Kleines Nachspiel“, S. 34)

Die Sache hieß zunächst: beständiges Ringen um die Klarheit des genial erfaßten Ordnungsgedankens von Stamm und Landschaft. Bereitung des weit verstreuten Materials aus den zugehörigen Hilfswissenschaften Philologie, Familiengeschichte, Ethnographie, Geographie und Volkskunde, um die im Wesen erkannte Hypothese zu verifizieren. Daneben ging es um eine neue „Wissenschaftslehre“ seiner literaturwissenschaftlichen Disziplin, die er 1914 im „Euphorion“ als gewichtigen Beitrag zur „Philosophie der Literaturwissenschaft“ niedergelegt hat. In erneuter, womöglich noch klarerer Form erscheinen ihre Gedankengänge im Einführungskapitel „Vorschule“ zur zitierten einbändigen Ausgabe, wobei festgestellt werden kann, daß Nadler in dieser Fassung den Begriff der Persönlichkeit trotz der sie bewirkenden „überpersönlichen biologischen und soziologischen Mächte“ stärker akzentuiert als in seiner „Wissenschaftslehre“. Diese fußt auf den logischen und erkenntnistheoretischen Begriffen des Neukantianers Rickert, den historischen und soziologischen Gedankengängen Lamprechts und Tai-nes und nimmt Fäden auf, die Lang-behn und Lagarde auf ihre Weise bereits zu spinnen begonnen hatten, zutiefst ist sie aber dem Organismusgedanken Hamanns und Herders verpflichtet. Das gibt ihren streng logischen Deduktionen die zeit- und geistesgeschichtliche Farbe. Es erklärt uns auch das merkwürdige Paradoxon, warum dieser ausgezeichnete Kenner Grillparzers in seinem berühmten Co-rona-Aufsatz „Goethe oder Herder?“ sich für den großen Anreger Herder und seinen organischen Volkstumsbe-griff entschied, damit aber auch — gegen Grillparzer — für jenen Nationsbegriff, der zur Zertrümmerung der Monarchie führen mußte.

Inzwischen sind die Genealogie und die Volkskunde zu Ehren von Universitätsdisziplinen gekommen, und das soziologische Denken von Troeltsch, Weber bis Dempf hat längst von den Geisteswissenschaften Besitz ergriffen. 1911 waren ihre Materialien für Nad-ler noch äußerst mühsam zu beschaffen gewesen, und doch brauchte er sie als wichtige Grundbausteine für sein wissenschaftliches Lebenswerk, das ja nicht nur aus der „LiteraturgescUicktt der deutschen Stämme und Landschaf» ten“ besteht.

Der mißverstandene Stammesbegriff

Was hierbei seinen so oft mißver» standenen „Stammesbegriff“ angeht, so wollen wir uns nochmals in Erinnerung rufen, was er 193 5 in einem Vortrag in Holland klar und eindeutig ausgeführt hat:

„Die reine Erfahrung macht uns bei aufmerksamer Betrachtung der gesamten deutschen Literatur auf di« Wiederkehr ähnlich gedachter und geformter Dichtungen in bestimmten Landschaften durch lange Zeiträume aufmerksam ... Es kann nur eine Erklärung geben. Ähnlich organisierte Menschen eines bestimmten Raumes erzeugen aus einem mehr oder minder gleichen Weltgefühl und aus einem untereinander verwandten Stilvermögen künstlerische Gebilde, die, unbeschadet aller persönlichen Besonderheiten und des abwechselnden Zeitgeschmackes, in gewissen allgemeinen Wesenszügen einander ähnlich sind. Was ist nun diese gemeinsame Grundkraft, die man hypothetisch voraussetzen muß? Die einen sagen: Rasse .. . Nur eines sei angedeutet: Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil aller deutschen Dichter läßt sich rassisch überhaupt und einwandfrei bestimmen ... Andere nennen diese gemeinsame Grundkraft, die man hypothetisch voraussetzen muß, Stamm . .. Gegenüber den Rassen, die in sozialen Verbänden rein und ungemischt, worauf es ja ankommt, kaum auftreten, ist der Stamm ein durchaus soziologisches Gebilde, landschaftlich und zuweilen oder zuzeiten sogar staatlich deutlich umgrenzt, geschichtlich genau zu verfolgen. Und was den Ausschlag gibt, fast alle deutschen Dichter, selbst jene, die wir nur dem Namen nach und nur aus ihren Werken kennen, lassen sich nach ihrer Stammeszugehörigkeit einwandfrei bestimmen.

Sein Ehrgeiz stand auf Ganzheit

Betrachten wir das Lebenswerk des Gelehrten, auf das der Tod nun sein Siegel gesetzt hat, so erscheint es uns, daß es, aus 60 Büchern und 242 Aufsätzen bestehend, von zwei Gipfeln überragt wird. Der eine bildet die „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“, von 1911 bis 1951 immer neugeformt und umgedacht, getreu der Mahnung Hugo von Hofmannsthal, „das Buch immer wieder umzuschreiben, durchzukneten und zu verdichten“. An sie schließen sich die ,,Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“ (1932) und die beiden Auflagen der „Literaturgeschichte Österreichs“ von 1948 und 1951, wobei die zweite Auflage die ursprünglich geplante Anlage und Fassung wieder herstellt. In dieser Werkgruppe herrscht der „Organismusgedanke“

Herders und Goethes, es herrscht ein maßvoller, durchgeistigter „Biologis-tnus“ und „Soziologismus“, zu dem sich Nadler zeitlebens bekannt hat. Hinsichtlich des Unerforschlichen aber hat er sich in edler Ehrfurcht die Aussage versagt, denn „die Wissenschaft kann der Jugend keinen Einzug in Reiche verheißen, zu denen sie selber keinen Zugang hat. Was meinen Lösungsversuch anlangt, so ist er nicht aus naturwissenschaftlichen, sondern aus' soziologischen und erkenntniskritischen Antrieben unternommen worden. Sein Ehrgeiz stand auf eine Ganzheit, in der die natürliche Ordnung, zugleich als die geistige sich bezeugte.'; („Nachspiel:, $. so)

Dieser Ehrgeiz verführte allerdings den Kulturbistoriker Nadler unter dem logischen Zwang des Herderschen Organismusdenkens dazu, die Begriffe von Stamm und Landschaft, Nation und Volkstum zu überspannen. Wenn Hofmannsthal in seinen Notizen zu Nadlers Literaturgeschichte ausrufen konnte: „Niemand in unserer Zeit hat mehr für die Einigung der Nation getan!“, so glauben wir, daß diese Einigung der Nation mehr ein utopischprophetisches Postulat denn wahre Wirklichkeit gewesen ist. Nur so läßt es sich zumindest begreifen, daß Nadler, geblendet von den Augenblickserfolgen eines Tagespolitikers, dessen wahre und verbrecherischen Absichten er wie viele seiner Zeitgenossen nicht durchschaute, den vierten Band seiner Literaturgeschichte als Abschluß der „Volkwerdung“ konzipieren und in fem Augenblick erscheinen lassen konnte, da dieses Volk in seinen „totalen Untergang“ zu marschieren begann. (Die Handschrift zu diesem Band, der auf Befehl Goebbels' teilweise umgeschrieben wurde, war aller-iings zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, da die ganze Welt noch in Frieden mit Deutschland leben wollte, wie

Zeugnis von der Dichtung

Den zweiten Gipfel in Nadle» Lebenswerk bildet die Hamann-Forschung mit der sechsbändigen historisch-kritischen Ausgabe (1949 bis 1957) und der Hamann-Biographie von 1949 — das Ergebnis einer fünfundzwanzig jährigen Gelehrtenarbeit, die uns das Werk des Königsberger Ahnherrn von Klassik und Romantik, Hamann wirkte ja über Herder sowohl auf Goethe wie auch auf die Romantiker, gerettet, entschlüsselt und erstmalig aus der Kenntnis der bisher unbeachteten, ungedruckten Schriften des „Magus aus dem Norden“ gedeutet hat.

Fügen wir noch die wohl für viele Jahre gültige Grillparzer-Biographie (1948) und die für Reinhold Backmann vollendete fünfbändige Grill-parzer-Ausgabe sowie die Lebensgeschichte Weinhebers (1952) und die historisch-kritische Ausgabe Wein-hebers (1953 ff) sowie die bisher ungedruckte Benrath-Biographie hinzu, so stehen wir vor einem überreichen Lebenswerk, vor dem wir uns — bei allen kritischen Einwendungen, die wir oben gegen seinen Biologismus und das Aufsaugen der Individualität durch die „bewirkenden“ überpersönlichen Kräfte von Landschaft und Stamm vorgebracht haben — in Ehrfurcht neigen müssen.

Das nordböhmische Dorf Neudörfl, in dem Nadler am 23. Mai 1884 als Sohn eines Werkmeisters zur Welt kam, die Linde im väterlichen Garten zu Nixdorf, unter welcher der Student seine Dissertation über Eichendorffs Lyrik schrieb, sie hören heute — nach den Stürmen zweier Weltkriege, die über die Welt und auch über das Werk des Gelehrten hinweggebraust sind — wohl kaum mehr einen deutschen Laut, geschweige gar ein deutsches Dichterwort. Im Werke des dahingegangenen Universitätslehrers vor» Freiburg, Königsberg und Wien, wo man ihn im Gegensatz zu seinen anderen Wirkungsstätten unbedankt in den Ruhestand versetzte und erst sehr spät zu seinem Recht verhalf, im Werke losef Nadlers, dem man zu seinem 75. Geburtstag als späten Trost die Adalbert-Stifter-Medaille verlieh, wird Zeugnis von der Dichtung deutscher Zunge, Zeugnis vom Geiste Österreichs abgelegt, von ihrem Werden aus den Wurzeln, von Landschaft und Stamm. Wenn in der Totenmesse in der Sequenz die bange Frage des Christen aufklingt, „Qui sum miser tunc dicturus?“, so kann Josef Nadler dem Richterengel mit den Worten aus seinem „Nachspiel“ antworten: „Der Verfasser bekennt sich zu allem, was er veröffentlicht hat. Er wüßte auch nicht, wem er darüber Rechenschaft schuldig wäre, es sei denn, dem eigenen Gewissen und Gott.“

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