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Elektron und Ideologie

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Philosophische oder politische Darlegungen, die mit Erkenntnissen aus der Atomphysik „untermauert“ sind, stehen heute allenthalben hoch im Kurs. Das breite Publikum hält eine solche Art von Beweisführung für die einzige, „der man noch glauben kann“; die moderne Physik genießt ja seit Hiroshima ungeheures Ansehen. Allmählich aber müßte es auffallen, daß die diversen philosophischen „Erweiterungen“ neuer physikalischer Erkenntnisse einander herzlich oft widersprechen. Es kann gar nicht die Rede davon sein, daß die Philosophen aus der Physik nun endlich die eine Wahrheit abgezogen hätten, im Gegenteil, Kantianer, Hegel-Schüler, Semantiker und dialektische Materialisten fühlen sich „dank" der Quantentheorie usw. nur noch fester im Sattel sitzen. Die Idealisten behaupten, daß der Materialismus nun endgültig erledigt sei, und die Materialisten behaupten ebenso überzeugt das Gegenteil. Eine besondere Note erhält der Meinungsstreit dadurch, daß nicht nur die Philosophen ihre Lehren physikalisch, sondern daß ebenso viele Naturwissenschaftler die Physik philosophisch untermauern; Emst Mach begründete um die Jahrhundertwende den „Empiriokritizismus“, Max Planck verbreiterte sich über das Problem der Willensfreiheit, Arthur Eddington schrieb eine „Philosophie der Naturwissenschaften“ und von James Jeans, dem Cambridger Physiker, erschien zuletzt ein Buch, betitelt „Physik und Philosophie“.

Als die Anschauungen des Wiener Gelehrten Ernst Mach, der die D i n g e als Empfindungskomplexe verstanden wissen wollte, um 1900 in Rußland Fuß faßten, entstand für den dortigen Marxismus eine neue Situation; der Philosoph Bogdanow begründete nämlich eine marxistische Schule, die anstatt auf den Materialismus auf den Machschen Empiriokritizismus gestellt war. Um die „Reinheit“ des Marxismus wiederherzustellen, begann Lenin in London Hegel, Mach und andere für die Materialismusfrage wichtige Philosophen zu studieren; 1909 erschien in Moskau unter dem Pseudonym Wl. Iljin das einzige philosophische Werk Lenins, das als Streitschrift gegen Mach und Bogdanow gedacht war und so etwas wie eine Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus, das heißt der künftigen sowjetischen Staatsphilosophie enthielt. Wenn die Moskauer Materialisten sich heute mit der modernen Physik auseinandersetzen, greifen sie immer auf dieses Buch Lenins zurück, das den historischen Materialismus auf eine breitere philosophische Grundlage gestellt hat. Seine Meinung über die Physik präzisierte Lenin freilich nicht sehr genau. Einesteils glaubte er, daß die Physik mit der Entdeckung des Elektrons tatsächlich ein unteilbares Elementarteilchen gefunden hätte und nicht noch tiefer in die Materie werde verstoßen können. An anderer Stelle aber wies er auf die „Unendlichkeit der Natur in die Tiefe" hin; „das Elektron", sagte er, „ist ebenso unerschöpflich wie das Atom“, welches man bekanntlich einst ebenfalls für elementar, das heißt theoretisch wie praktisch unzerlegbar gehalten hatte.

Für diese zuletzt genannte Ansicht hat man sich auch heute in Moskau entschieden. Der Physiker Kedrow veröffentlichte in der zweiten Jännernummer 1948 des „Bolschewik“ einen längeren Aufsatz, der die derzeitige amtliche Meinung aussprach: 1. Das Elektron ist „unerschöpflich“, es gibt kein kleinstes Materieteilchen (wie es auch keine Größengrenze im Makrokosmos „nach oben hin" gibt), die Natur ist in beiden Größendimensionen unendlich. 2. Es gibt keine „Grenzen der Erkenntnis“, das heißt wir sind prinzipiell befähigt, die Materie physikalisch zu erkennen, beziehungsweise praktisch befähigt, immer tiefer in die Unendlichkeit des Mikrokosmos über das Elektron hinaus vorzustoßen.

Kedrow erläutert diese Theorie in ihrer historischen Entstehung, er weist darauf hin, wie das ursprüngliche statische Atommodell immer komplizierter geworden ist; nichts spreche gegen eine weitere Verkomplizierung. Diese Folgerung Kedrows ist freilich rein spekulativer Natur. Denn die „Verkomplizierung“ ist im wesentlichen eine Folge der verfeinerten Beobachtungsweise. Was die Physiker aber heute feststellen müssen, ist der Umstand, daß sie eben mit ihren Beobachtungen an eine prinzipielle Grenze geraten. Sie behaupten, daß sehr wohl von Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit gesprochen werden muß. Das ist näher zu erläutern.

Um irgendeinen mikroskopisch kleinen Körper sichtbar zu machen, muß ich ihn zunächst beleuchten, das heißt ich muß gegen ihn einen Lichtstrahl aussenden Ein Lichtstrahl besteht aber aus kleinen Teil- dien, sogenannten Photonen, die auf den beobachteten Körper aufprallen. Ist das Objekt groß genug, dann verändert es dieser „Lichtaufprall“ nicht merklich. Ist aber das Objekt selbst so klein, wie die Lichtpartikel- chen (Photonen) es sind, dann wird es durch den Zusammenstoß mit dem Licht aus seiner bisherigen Lage gebracht. Das ist der Fall, wenn ich ein Elektron beobachten will. Ida entdecke also nicht die ursprüngliche Lage des Elektrons, sondern diejenige, die sich aus der Einwirkung des Photons auf das Elektron ergeben hat. Bei näherer Untersuchung dieses Meßverfahrens zeigt sich dann, daß ich den „früheren" Ort und die „frühere“ Geschwindigkeit des Elektrons auf keinerlei Weise rekonstruieren kann. Die gleichzeitige Feststellung von Geschwindigkeit und Lage eines Korpuskels ist nicht durchführbar, besagt demnach das berühmte Gesetz, das die Heisenbergsdie Unsicherheitsrelation genannt wird.

Dieses Prinzip der Ungewißheit setzt der weiteren Erkennung der inneratomaren Vorgänge eine, wie es scheint, unübersteigbare Schranke entgegen; die Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes innerhalb des Atoms kann zum Beispiel positiv (nämlich auf dem Wege der Beobachtung) nicht nachgewiesen werden. Für die Philosophie ist die Unsicherheitsrelation ebenfalls von außerordentlicher Bedeutung. Denn aie ist ein neuer Hinweis darauf, in wie großem Maße der subjektive Vorgang des Beobachtens (die Maßnahme des Beobachtens, die Sinnesorganisation des Beobachters) unser Naturerkennen beeinflußt und einschränkt.

Eine andere, entschiedener gegen den Erkenntnisoptimismus Kedrows und der anderen Moskauer Ideologen gerichtete Folgerung aus der Unsicherheitsrelation ist aber diese: man fühlt sich nach einer Periode des grenzenlosen Selbstvertrauens in die Allmacht der Wissenschaft „zur Räson gerufen“. Die Überheblichkeit des 19. Jahrhunderts, daß die Ratio, die menschliche Vernunft, der Natur jedes und das letzte Geheimnis in Kürze entreißen werde, ist an der „rationalsten" Wissenschaft, der Physik, zerbrochen. Es gibt Grenzen, sagt Heisenberg und die staunende Wissenschaft findet diese Grenzen (nach Eddington) in der alten „Kritik der reinen Vernunft“ Kants vom Jahre 1781 präzise vorgezeichnet.

James Jeans meint in seinem 1942 erschienenen Werk „Physics and Philosophy", daß die Wirklichkeit der Natur viel größer sei als Materie und Strahlung. Für Materie und Strahlung seien unsere Sinne empfänglich, für andere Bestandteile der Wirklichkeit nicht; daher könnten wir uns zum Beispiel die inneratomaren Vorgänge nur unvollkommen erklären, hier wirke etwas, das „zufällig keine direkte Wirkung auf unsere Sinnesorgane ausübt“, etwas das tiefer liegt. Die Welt von Energie und Strahlung ist die Oberfläche eines Stroms, wir sehen nur Wellen und Wirbel, aber nicht, was in der Wassertiefe vor sich geht. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Hegels „Weltgeist", der die Materie bewegt, oder etwa zu Jeans’ Zeitgenossen und Landsmann Aldous Huxley, der das Primat des Glaubens auch in der Wissenschaft und die Alldurchwirktheit de,- Materie nicht mit dem Hegelschen Logos, sondern mit einem mystischen Pneuma verkündet.

Die brennende Frage, die wir uns angesichts dieser Wendung der modernen Physik stellen, lautet: Wie verhält sich die Staatsphilosophie Sowjetsrußlands zu diesem Wandel, sie, die doch mit beispielloser Hartnäckigkeit allen „Fideismus" (von fides, das heißt der Glaube) bekämpft und die rationale Erfaßbarkeit der Welt zu ihrem Grundgesetz erklärt hat? Die oben genannten Kedrowschen Thesen sind nur ein Ausfluß jenes von Marx herrührenden utopischen Optimismus, der das Heraufdämmern eines proletarischen Vernunftstaates und die Überwindung aller nichtrationalen Tendenzen im Menschen (der Religiosität und ähnlicher „Irrtümer“) verkündete.

Von demselben Kedrow erschien ein Buch „Engels und die Naturerkenntnis“, in dem der Autor auch speziell auf die Heisenbergsche Unsicherheitsrelation und auf den von den Idealisten behaupteten „Beginn der prinzipiellen Nichtbeobachtbarkeit" einging. Die „materialistische These von der Möglichkeit eines Erkennens der gesamten Natur auf dem Weg der endlosen Weiterentwicklung unseres Wissens“ dürfe durch die Heisenbergsche Theorie nicht betroffen werden, sagt Kedrow. Die marxistische dialektische Methode gestattet, den Weg der Wissenschaft vorauszusehen, und was in diesem Falle vorauszusehen ist, ist ein künftiger dialektischer Umschwung, der gegen die Heisenbergsche These und gegen dessen Motiv (die Quantenmechanik) die zur Zeit versperrten Wege neu öffnen wird. (Planck, der Begründer der Quantenmechanik, hat übrigens wiederholt selbst auf das „Vorläufige“ seiner Theorie hingewiesen.) Die Physik beginnt sich heute in „Naturkonstanten“ festzufahren, und das ist das beste Anzeichen für einen bevorstehenden qualitativen Umbruch („Re volu t i o n“), dessen positive Tendenz freilich noch nicht vorauszusehen ist.

Eine derartige Argumentation mag zunächst enttäuschend klingen. Nichtsdestoweniger ist sie typisch. Sie fußt auf der von Hegel herrührenden , Überzeugung, daß jede Erkenntnis den Keim zu ihrer Negation in sich trägt, auch jede physikalische Erkenntnis. Während die bürgerlichen Philosophen gemäß marxistischer Theorie den derzeitigen Stand der Naturwissenschaft metaphysisch interpretieren, ist der Geist der sowjetischen Philosophie darauf aus, in den Forschungsgang der Wissenschaften selbst erkennend, erleuchtend, fördernd einzugreifen. Ob freilich die Sowjetphysiker von diesem aktivistischen „Nachdrängen“ profitieren, ob die amtliche, für alle ver bindliche Avantgarde-Philosophie nicht eher als ein hemmendes Reglement sich auswirkt, müßte erst festgestellt werden.

Die positive, nach Sowjetterminologie „fortschrittliche" Seite im Heisenbergschen Unsicherheitsprinzip (und wohl nicht nur in diesem speziell) ist die besondere Betonung der Bewegtheit jedes Korpuskels, oder richtiger: der Unmöglichkeit für den Beobachter, die Bewegung von der Materie abzulösen, abzusubtrahieren, um das „Elektron an sich" ins Blickfeld zu bekommen. Den Sowjetideologen wäre es nämlich sehr daran gelegen, daß die Physik die Leninsche These bestätigt, daß die Bewegung ein Wesensattribut der Materie ist, daß unbewegte Materie schlechthin nicht denkbar ist; so soll die Annahme eines „ersten Bewegers", das heißt Gottes, überflüssig gemacht werden.

Der übliche Einwand, den man von selten der Physik gegen den Materialismus vorbringt, lautet: Die Materie ist „im Verschwinden“ begriffen, sie besteht zum größten Teil aus leeren Räumen zwischen Elektronen und anderen Elementarteilchen, und nicht einmal von diesen winzigen Korpuskeln kann man noch sagen, wieweit es mit ihrer „Stofflichkeit“ her ist. Aber diese Argumentation verfängt im dialektischen Materialismus nicht. Sie richtet sich gegen den alten Materieklümpchen-Materialismus, den wir als Mechanizismus bezeichnen und der in Rußland ausdrücklich für überwunden gilt. Lenin konnte 1908 die Schwierigkeit voraussehen, in die man den Materialismus mit dem alten Stoffbegriff treiben wird. Er sagte daher: „Die einzige Eigenschaft der Materie, an die der philosophische Materialismus gekettet ist, ist die, objektive Wirklichkeit zu sein, außerhalb unserer Erkenntnis zu existieren.“ Materie ist also (sich selbstbewegendes) Sein im allgemeinen, sogar der Geist als eine Form des Seins zählt zur Materie. Freilich muß man sich bei einer so weitherzigen Auslegung des Materiebegriffes fragen, ob wir es hier nicht mit einem Sophismus zu tun haben: denn man nennt auch das Materie, was nicht Materie ist, und besser eben allgemein als „Sein“ oder „Seiendes" bezeichnet würde.

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