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Entsteht ein neuer Mythos?

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Am 15. Oktober 1994 kehrt Nietzsches Geburtstag zum 150. Mal wieder. Der „Antichrist“ wird heute genealogisch interpretiert.

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Am 15. Oktober 1994 kehrt Nietzsches Geburtstag zum 150. Mal wieder. Der „Antichrist“ wird heute genealogisch interpretiert.

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Nietzsche selbst, der sächsische Pastoren -

sohn, der sich am Ende seines bewußten Lebens zum „Antichrist“ erklärt hat, der Verkünder der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“, kehrt in stets neuen Gewändern wieder, wie er es im Vorwort zu seiner genialisch-übersteigerten Selbstdarstellung „Ecce Homo“ angekündigt hat: „Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.“

Vom biblischen Anklang dieser Worte abgesehen, zeigt sich in Hinblick auf nunmehr über 100 Jahre Nietzsche-Rezeption eine gewisse Wahrheit darin: Seit der Jude Georg Brandes an der Universität Kopenhagen erstmals Vorlesungen über Nietzsche hielt, sind uns vielerlei „Nietzsches“ vorgeführt worden, und die Literatur zu Nietzsche ist mittlerweile selbst für den Nietzsche-Spezialisten nahezu unübersehbar geworden, wobei der Leser zuweilen den Eindruck bekommt, daß Nietzsches Texte bloß als Material zur Selbstdarstellung des jeweiligen Autors dienen.

So ist Nietzsche auch von divergierenden weltanschaulichen Positionen aus vereinnahmt worden. Hier tut historische Besinnung in Form kritischer Lektüre wohl. Die wichtigste Rolle für eine relecture des Werkes Nietzsches nach der nationalsozialistischen Vereinnahmung desselben spielten zwei Italiener, Giorgio Colli und Mazzino Montinari, die in den sechziger Jahren eine italienische Übersetzung von Nietzsches Werken planten. Daraus wurde eine neue, historisch-kritische Ausgabe, die bis zum heutigen Tag, über den Tod der beiden Begründer hinaus, in Arbeit ist.

Größtes Verdienst dieser Ausgabe ist es wohl, ein für alle Mal den Mythos von Nietzsches angeblichem Hauptwerk „Der Wille zur Macht“ zerstört zu haben, eines von Nietzsches Schwester und den von ihr eingesetzten Nachlaßverwaltern aus Nietzsches spätem Nachlaß kompilierten Machwerkes. Dabei wurde, wie Montinari klar gezeigt hat, einer von mehreren Plänen Nietzsches zu diesem Werk willkürlich zugrundegelegt; den Überschriften aus diesem Plan wurden verschiedene Aufzeich nungen Nietzsches zugeordnet, wobei es auch dazu keim, daß Exzerpte aus von Nietzsche gelesenen Büchern kommentarlos abgedruckt wurden. Neben der Arbeit an der Werkausgabe (KGW) entstand die Briefausgabe (KGB), und - als „flankierende“ Maßnahmen zur Kommentierung von Montinari initiiert —, die „Nietzsche-Studien“, ein seit 1972 herausgegebenes „Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung“, sowie die Reihe „Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung“ im Verlag De Gruyter.

Nach Montinaris überraschendem Tod im November 1986 entstand aus den von ihm begonnenen Nietzsche- Projekten eine, internationale Forschungskooperation. So arbeiten nun Forschungsstellen in Deutschland und der Schweiz an der Kommentierung von Werk- und Briefausgaben, während sich in Italien neben der in Florenz und Rom geleisteten Arbeit an der Edition der Philologica aus Nietzsches , Basler Zeit mehrere Spezialisten der Universitäten Florenz, Pisa und Urbino der quellengeschichtlichen Forschung widmen, die wichtiges Material zum Verständnis von Nietzsches Texten liefert. Auch in Österreich ist ein Zentrum der Nietzsche-Forschung entstanden.

EDITION DER JUGENDSCHRIFTEN

Seit 1994 befindet sich die Redaktion der Nietzsche-Studien, quasi „Zentralorgan“ der Nietzsche-Forschung, in Wien an der evangelischtheologischen Fakultät bei Jörg Sala- quarda und Kurt Dite. Die beiden arbeiten auch an einer Bibliographie und einer umfangreichen Dokumentation. Unter der Leitung von Johann Figl, Professor für Religionswissenschaften in Wien, wird seit fünf Jahren an der vollständigen Edition der Jugendschriften Nietzsches innerhalb der KGW gearbeitet. Ende 1994/Anfang 1995 wird der erste Band erscheinen, die weiteren Bände sollen rasch folgen. Dieses vom Österreichischen Fonds zur För derung der Wissenschaftlichen Forschung geförderte Projekt bringt gegenüber der alten Ausgabe der Jugendschriften Nietzsches aus den dreißiger Jahren sowohl bislang imbekannte Texte Nietzsches als auch aufschlußreiche Materialien aus Nietzsches Schul- und Studentenzeit, die erstmals der Forschung zugänglich gemacht werden.

Die jetzt bei DTV mit allen Fehlern (zum Beispiel wird ein Gedicht von Clemens Brentano unkommen- tiert als Nietzsche-Text wiedergegeben) im Reprint erschienene alte Ausgabe, auf die allein sich bisher fast alle Veröffentlichungen zum jungen Nietzsche stützen, wird damit obsolet und die Diskussion um Nietzsches Sozialisation auf eine textlich fundierte Basis gestellt. Haben doch, nach einigen theologisch orientierten Interpretationen wie die von Hans Pfeil („Von Christus zu Dionysus“), neben der Psychoanalytikerin Alice Miller und dem dänischen Germanisten Jorgen Kjaer

(„Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch ,Mutterliebe“1, 1990), neuerdings auch einige Philosophen in der Kindheit Nietzsches den Schlüssel zu Person und Werk Nietzsches gesehen. Die biografische Diskussion bringt - nach den bahnbrechenden Arbeiten des ostdeutschen Pastors Reiner Bohley in den achtziger Jahren - auch ein intensive Beschäftigung mit Nietzsches frühesten Bezugspersonen mit sich. So will Klaus Goch mit seiner für Oktober 1994 im Insel-Verlag angekündigten Biographie von Franziska Nietzsche wichtige Korrekturen am Bild der Mutter Nietzsches anbringen. Freilich sind alle diese Arbeiten, die etwa das Problem der Leidbewältigung in der von Schicksalsschlägen heimgesuchten Pastorenfamilie berühren, frömmigkeitsgeschichtlich höchst relevant.

Am intensivsten hat sich aber bislang der Dortmunder Philosophieprofessor Hermann Josef Schmidt von einem „frömmigkeitskriti schen“ Standpunkt aus dem jungen Nietzsche gewidmet, indem er auf 2.516 Seiten (ü) den Versuch unternommen hat, den „Mythos von Nietzsches christlicher Kindheit und Jugend“ zu zerstören. Schmidt will einen schon früh der väterlichen Religion abholden, sich innerlich den „Göttern Griechenlands“ zuwendenden, nach außen formal fromm sich gebenden kleinen Religionskritiker in und hinter Nietzsches frühesten Texten aufzeigen.

DER GEHEIME NIETZSCHE

Dieser „Nietzsche absconditus“ Schmidts wird bereits heftig und kontrovers diskutiert, so auch geschehen am der Kindheit des Genies gewidmeten III. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium im Sommer 1993. Ein Jahr vor seinem 150. Geburtstag hat der „Erfinder“ der genealogischen Interpretation der großen Philosophen aber nicht nur ein Symposion zu seiner Kindheit geschenkt bekommen. Nur zwei Monate später, im September, hat auch die „Förderund Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche“, mit Sitz in Halle, ihre II. Nietzsche-Werkstatt in Schulpforta zu Nietzsches Gymnasialzeit veranstaltet und im Öktober, zu Nietzsches Geburtstag, die Stiftung Weimarer Klassik eine Symposienreihe zu Nietzsche mit einem dreitägigen Kongreß zu Nietzsches Kindheit und Jugend begonnen.

Die „Forschungsgemeinschaft“ wird an Nietzsches Grab in Röcken, Nietzsches Geburtsort, eine Gedenkfeier veranstalten. Die geplante Kranzniederlegung daselbst läßt einen neuen Nietzsche-Mythos befürchten. Weniger pathetisch wird es wahrscheinlich vom 12. bis 15. Oktober in Wien zugehen, wo auf einer von der „Österreichischen Gesellschaft für Musik und Philosophie“ und dem Kulturamt der Stadt Wien emeinsam veranstalteten Tagung er musikalischen Seite Nietzsches gedacht wird. International renommierte Fachleute werden im Rathaus und im Musikverein über „Friedrich Nietzsche und die Musik“ referieren. Wichtige Verbindungen zu einer in Wien manchmal verdrängten heimischen Tradition wird das vom 18. bis 20. Mai 1995 an der Universität Wien stattfindende Symposion „Von Nietzsche zu Freud“ an den Tag bringen, das von der „Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie“ veranstaltet wird.

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