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Ethnologie und Abstammungsfrage

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Daß auch di Wissenschaft der Ethnologie in der Abstammungsfrage über ein Mitspracherecht verfügt, mag auf den ersten Blick etwas überraschend klingen, kann aber andererseits unschwer gezeigt und nach- geiwiesen werden.

In der ganzen Deszendenzlehre dreht sich bekanntlich alles immer wieder um den Begriff der Entwicklung. Nur zu oft wurde und wird dabei übersehen, daß der Begriff im doppelten Sinne, das heißt einerseits im Sinne der organischen Entfaltung der Naturdinge, andererseits im Sinne des geistig-historischen Geschehens im Menschenreiche gebraucht wird. Was in dem einen wie in dem anderen Falle mit dem Begriff Entwicklung bezeichnet wird, ist und bleibt vollständig voneinander verschieden. Und wenn der bekannte Basler Zoologe und Biologe A. Portmann sagt, daß „die Übertragung des Geltungsbereiches der organischen Entwicklungsidee aus dem Gebiete der Menschwerdung in den Bereich geschichtlicher Zusammenhänge eine Ausweitung war, die zu den bedenklichsten Verallgemeinerungen und Kurzschlüssen geführt hat”, so kann die neuere Wissenschaft der Völkerkunde dieses nur voll und ganz bestätigen. Ja, ein Hauptcharakteristikum der neueren, der historischen Völkerkunde ist mit der Ablehnung und Überwindung des organischen Entwicklungsgedankens gegeben, es tritt dafür der Begriff des geistig-historischen Geschehens auch auf dem Gebiet der Völkerkunde in Kraft, was mit anderen Worten heißt, daß der gesamt- etihnologische Bereich, örtlich und zeitlich verstanden, nur den Vollmenschen — und nicht etwa den ganz- oder halbtieri sehen Vormenschen — kennt. So zerbricht, wie man sieht, im Angesicht der völkerkundlichen Tatsachen das Prinzip des einseitig naturwissenschaftlich gedachten und konstruierten Evolutionsprinzips, das man auch als das extreme Evolutionsprinzip bezeichnen kann. Dieses deshalb, weil es nicht nur die rein natürliche, organische, sondern auch die typische Welt des Geistig-Menschlichen mit einzubeziehen sich immer wieder mehr oder weniger bestrebt zeigte und vielfach auch heute noch zeigt.

Für den Fernerstehenden steigt hier die begreifliche Frage auf: Aber wie vermag der Völkerkundler, dessen Forschungsmaterial eine heute zunächst nur flächenhafte Verbreitung zeigt, im universalen Sinne (also örtlich und zeitlich verstanden) von der Existenz nur vollmenschlicher Wesen zu sprechen? Die Antwort auf diese Frage vermittelt die historisch-ethnologische Methode, wie sie im Verlaufe der letzten vierzig Jahre in engem Anschluß an die historische Methode schlechthin erarbeitet worden und zum Beispiel in dem Handbuch der kulturhistorischen Methode der Ethnologie von W. Schmidt (und W. Köppers) (Münster in Westfalen, 1937) zur näheren Darstellung gelangt ist. Hier beschränken wir uns darauf, an einem konkreten Beispiel zu zeigen, wie auch die völkerkundliche Forschungsarbeit, methodisch vorsichtig und umsichtig voranschreitend, wohl in der Lage ist, auch die älteren und ältesten Zeiten des Menschen wieder lebendig werden zu lassen. Doch zunächst noch ein Hinweis auf die Nachbarwissenschaft der Völkerkunde, die Prähistorie, die uns gerade in dieser Hinsicht wertvollste Dienste leistet.

Die maßgebende Forschung der Prähistorie (und zum Teil auch der Anthropologie) ist heute in ihren führenden Vertretern darin einig, daß der erste und älteste Mensch, der wissenschaftlich erfaßt werden kann, ein Vollmensch war. Zu dieser Schlußfolgerung ist man vor allem an Hand der Werkzeuge und Geräte gekommen, deren Existenz bis in die frühe Eiszeitperiode längst einwandfrei hat festgestellt werden können.

Die Bedeutung dieser Feststellungen unterschätzen wir Ethnologen in keiner Weise. Aber andererseits liegt es in der Natur der Dinge beschlossen, daß die Wissenshaft der Prähistorie speziell für jene ältesten Perioden “•der Menschheitsgeschichte wohl die Existenz der vollmenshlihen Ausrüstung nahzuweisen vermag, im übrigen aber vom weiteren Inhalt des geistigen Lebens (wie natürlich auh der sozialen Gestaltung usw.) der älteren und ältesten Menschheit mit dem besten Willen niht viel eruieren und sagen kann. Hier springt nun helfend und ergänzend die historisch-ethnologische Forschung ein. Ih beziehe mih beispielshalber auf den Komplex des Hochgottglaubens bei den ethnologischen Alt- und Urvölkern, dessen Klarstellung Prof. W. Schmidt die rsten sehs Bände seines großen Werkes „Der Ursprung der Gottesidee” gewidmet hat.

Zu den ethnologischen Alt- und Urvölkern gehören nah Schmidts Auffassung wie audi nah Auffassung anderer Fahleute vornehmlich die bekannten Pygmäenvölker Zentralafrikas und Südostasiens, bestimmte Altstämme Südostaustraliens, wie auh solche Kaliforniens, die Feuerlandindianer usw. Daß hier überall im Verlaufe der letzten Jahrzehnte mit relativer Klarheit und Bestimmtheit ein Hohgottglaube hatte festgestellt werden können, war in Fachkreisen keine unbekannte Sache geblieben. W. Schmidt ist nun im einzelnen der Frage nahgegangen, ob und weihe charakteristischen Verbindungen in bezug auf die wihtigeren religiösen Erscheinungen bei den verschiedenen ethnologischen Alt- und Urvölkern zu erkennen sind. Die Handhabe bieten’ hier naturgemäß (im Bereihe der shriftlosen Naturvölker fehlen bekanntlich die schriftlichen Quellen; die B e z i e h u n g s k r i t e r i e n der Form und Quantität. Kriterien, deren sih in entsprechender Weise die Fachhistorie bedient, wenn sie auf Grund des Studiums von Realien ihre Aufgaben lösen will, eventuell lösen muß, in dem Falle nämlich, wo auh ihr die schriftlichen Quellen mangeln. Die an verschiedenen Orten, also in unserem Falle bei verschiedenen Alt- und Urvölkergruppen, feststellbaren geistig-kulturellen Erscheinungen können nun sowohl form- wie mengenmäßig so stark miteinander übereinstimmen, daß nur die Annahme einer ehemaligen Zusammengehörigkeit und anfänglichen Einheit die genügende und befriedigende Erklärung bietet. Daß gerade hinsichtlich der wesentlihen Elemente der Religion der ethnologischen Urvölker die Dinge sih so verhalten, hat W. Schmidt, selbst shärfste Kritiker bestätigen ihm das, der Hauptsache nah in wohl überzeugender Weise dartun können. Weihe diese Hauptelemente im einzelnen sind, kann hier niht weiter erörtert werden. Der Interessent findet sie im „Der Ursprung der Goctesidee” (Bd. 6) zusammengestellt.

Wenn nun, so folgert W. Schmidt als historisch denkender und arbeitender Ethnologe gewiß mit Recht, in den Grundelementen der Religion dieser heute die entlegensten Gebiete der Erde bewohnenden Primitiv- oder Restvölker der Menschheit ein solhe Anzahl von charakteristischen Gemeinsamkeiten offenbar wird, so müssen diese schon vor ihrer Trennung und Auseinanderspaltung vorhanden gewesen sein. Denn, wenn man annehmen wollte, daß die ethnologischen Altvölker erst später diese religiösen Erkenntnisse gewonnen oder übernommen hätten, stieße diese Annahme auf ernsthafte Schwierigkeiten. Eine spätere Übernahme von kulturell mehr entwickelten Nah- • barvölkern her würde voraussetzen, daß diese selbst über den in Frage stehenden Hcxhgott- komplex in entsprechender Form verfügten. Das ist aber, wie es jedem Kenner geläufig ist, nicht der Fall, und so gilt: Niemand gibt, was er nicht hat. Wenn aber die ethnologi sehen Alt- und Urvölkergruppen erst nach ihrer Trennung auf Grund selbständigen Denkens und Überlegens zu dem so weit- gebend einheitlich gearteten Hochgottkomplex gelangt sein sollten, so würde gerade diese Einheitlichkeit des Komplexes nur schwer oder gar nicht zu erklären sein. Es bleibt also dabei, daß nur die Annahme einer Gemeinsamkeit vor der Trennung und Auseinanderspaltung der ethnologischen Alt- und Urvölker die wirklich befriedigende Erklärung bietet. Es leuchtet aber weiter ein, daß auf diese Weise die Forschung von selbst, natürlich namentlich in Hinsicht des in Rede stehenden religiösen Komplexes, in stets größere Zeittiefen hinabreicht, ja sie stößt, mehr oder weniger, in die wirklichen Urzeiten des Menschen vor.

In engem Zusammenhang mit dem behandelten Hochgottkomplex steht ein anderer, der schließlich kein geringeres Interesse verdient. Es handelt sich um die uralte und wahrhaft weltweit verbreitete Überlieferung vom „Paradies und Sündenfal 1”. Wie zahlreich da im einzelnen auch die Variationen sein mögen, bestimmte Grundelemente kehren doch immer wieder. Diese sind: Gott machte die Menschen (das erste Menschenpaar) und setzte sie (direkt oder indirekt) als vollkommene Menschen in die Welt. Gott belehrte sie (direkt oder indirekt) nicht nur in den religiösen, sondern auch in den profanen Dingen. Gottesnähe zeichnete die Ürzeit aus, Gerechtigkeit und Ordnung herrschten, die Menschen sollten immer leben und nicht sterben. Diese schöne „paradiesische Urzeit” nahm ein Ende auf Grund der Übertretung eines von Gott gegebenen Gebotes, woraus in den Überlieferungen mancher Völker vielfach eine Ungeschicklichkeit, ein Mißverständnis oder ähnliches geworden jst. Allgemein aber begann damit das mühevolle Leben, es kam auch der Tod über die Menschen, und die Gottheit zog sich zürnend zurück. Und weiter ist „an diesem Frevel, an welchen der Verlust der anfänglichen Güter geknüpft (ist), meistens eine böse, Gon und den Menschen feindliche Madit beteiligt, die bekämpft und überwunden, aber nicht vernichtet wird” (Feldmann).

Angesichts dessen, daß diese Urstandsüber- lieferung vom „Paradies und Sündenfall” eine universelle Verbreitung aufzuweisen hat, ja gerade bei den ethnologischen Alt- und Urvölkern mehrfach durch besondere Eigentümlichkeiten (so zum Beispiel die Betonung des Urmenschen paarės, der Formung desselben durch den Schöpfergott usw.) ausgezeichnet ist, kann die den Historiker befriedigende Annahme nur sein, daß auch dieser Komplex ursprunghaft tatsächlich bis in die älteste Zeit des Menschen zurückreicht. Naturgemäß bleibt der Historiker dabei nicht stehen, sondern er stellt die weitere Frage: „W i e entstanden in der älteren, beziehungsweise ältesten Menschheit diese Vorstellungskomplexe, waren sie das Produkt eigenen Nachdenkens, der Phantasie oder stehen historische Tatsächlichkeiten im Hintergründe?” Die Möglichkeiten dürften damit erschöpft sein. Den gesunden Menschenverstand (und der Historiker ist ja schließlich auch nur ein Mensch, den auf Grund seiner methodologischen Schulung eine „Verdoppelung des gesunden Menschenverstandes” auszeichnen soll) kann wohl nur der zweite Teil der gestellten Alternative wirklich befriedigen.

So hat denn auch W. Schmidt im sechsten Band seines Werkes „Der Ursprung der Gottesidee” sich gezwungen gesehen, die Frage zu erheben, ob die ältesten Menschen wirklich selbst fähig waren, den Hochgottglauben mit seinem Drum und Dran (bemerkenswerte Reinheit und Höhe!) gedanklich ziu erzeugen und dann zu überliefern. Die Gesamtheit der Tatsachen spricht, wie Schmidt im einzelnen dartut, stark dagegen, und so glaubt der Verfasser als historisch denkender und vorgehender Ethnologe genötigt zu sein, mit einer Art Selbstoffenbarung Gottes an die ältesten Menschen zu rechnen. Das wäre dann, logisch zu Ende gedacht, eine Art Bestätigung der „U r o f f e n b a r u n g” vom Standpunkte der profanen ethnologischen Forschung aus. Es ist klar, daß dann, mutatis mutandis, die Dinge beim Komplex von „Paradies und Sündenfall” nicht anders liegen können. Es ist nicht uninteressant, zu sehen, daß zwei Forscher, die sich speziell mit den Urstands- überlieferungen der Völker (Dr. F. Hellmich: Urgeschichdiche Theorien in der Antike, 1931, und J. Feldmann: Paradies und Sündenfall, 1913) beschäftigt haben, eine befriedigende Erklärungsmöglichkeit auch nur in der Annahme einer vorausgehenden historischen Tatsächlichkeit zu erblicken vermochten.

Was nun die Abstammungsfrage selbst betrifft, so ergeben sich, soweit ich es sehe, von den behandelten Komplexen her noch einige besondere Folgerungen.

1. Weitaus überwiegend, vor allem im Bereiche der ethnologischen Alt- oder Urvölker, zeigt sich die Auffassung verbreitet, daß ein persönlich vorgestellter Hochgott die Menschheit (das Menschenpaar!) macht und sie sogleich als Vollmenschen ins Dasein setzt.

2. Eine Ableitung vom Tiere tritt, namentlich auf den Urstufen, eigentlich nirgendwo in Erscheinung. Umgekehrt heißt es in einigen Fällen wohl, daß in jenen ältesten Zeiten (der Katastrophe!) Menschen zu Tieren wurden. In Afrika wurden so Menschen zu Affen. Also, wenn man will, ein umgekehrter „Darwinismus”.

3. Daß auf Grund alles dessen im Lichte der ethnologischen Urzeitforschung die extrem evolutionistischen Auffassungen nicht aufrechterhalten werden können, liegt auf der Hand. Wie aber steht es um den gemäßigten Evolutionismus, der, wie bekannt, mit der Herkunft der menschlichen Körperlichkeit aus dem Tierreich rechnen möchte? Hier spricht das ethnologische Forschungsmaterial weder pro noch kontra. In negativem Sinne könnte hier eventuell die Tatsache zu deuten sein, daß der Hochgott ausgesprochen bei ethnologischen Alt- und Urvölkern (Baumann weist besonders auf die Pygmäenaltschicht in Afrika hin) so häufig als Former, Gestalter auch des Leibes des Urmenschen vorgestellt wird. Aber die Frage ist (ähnlich wie bei dem betreffenden Passus in der Genesis), ob das wörtlich zu verstehen ist. Man soll sich ja, wie schon St. Augustinus betont hat, den Schöpfer nicht als Töpfer vorstellen. Wenn also ein persönlicher Schöpfergott angenommen wird, die ethnologischen Alt- und Urvölker ton das im allgemeinen in verhältnismäßig markanter und eindeutiger Weise, dann muß ja schließlich alles als von ihm geformt (geschaffen) betrachtet werden. Das gilt auch in bezug auf den Menschenleib, ganz gleich, ob der Schöpfergott bei der Schaffung desselben eine totale Neuschöpfung vomahm oder ob er von einem Tierleibe, gewissermaßen wie von einer „materie praejacens”, ausging. Zu dieser Spezialfrage äußert sich also die ethnologische Urzeitforschung ebensowenig, wie es die Bibel tut. Damit stimmt ja schließlich auch die bekannte Tatsache überein, daß das kirchliche Lehramt diese Frage offenläßt, sie bildet, in diesem Sinne verstanden, eben keine religiöse, sondern eine wissenschaftliche Angelegenheit.

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