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Familienschutz und Sozialhygiene

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Um die Bedeutung der Probleme des Familienschutzes für die Sozialhygiene zu erörtern, bedarf es zunächst einer Definition, in welchem Sinne wir den Begriff der Sozialhygiene erfassen *. Wir verstehen hierunter mehr als bloß eine gesundheitliche Fürsorge für die minderbemittelten Volksschichten, die allein durch Armut schon gesundheits-gefährdet sind; also mehr als eine Hygiene des Pauperismus; mehr als eine bloße Hygiene äußerer Umweltbedingungen unter überwiegender Berücksichtigung der Gesundheitsschädigungen der arbeitenden Klassen durch ungünstige Arbeitsbedingungen; somit mehr als vorwiegende Gewerbehygiene; auch mehr als eine noch so umfassende Umwelthygiene im Gegensatz zur Hygiene der inneren ererbten Anlagen, die man als Rassenhygiene sogar in einen prinzipiellen Gegensatz zur Sozialhygiene gestellt hat. Der Begriff der Sozialhygiene ist auch umfassender als der der Eugenik, deren erbgesundheitliche Zielsetzung sicher weitherziger war als die der Rassenhygiene; auch eine umfassende Eugenik ist nur Teilgebiet einer noch umfassenderen universalistischen Sozialhygiene. Eine solche läßt sich erschöpfend nur definieren als Hygiene des menschlichen Gemeinschaftslebens. Sie ergänzt und überhöht die Hygiene des Individuums ebenso wie das Gemeinwohl das private Wohl überhöht, dabei es aber gleichzeitig schützt und wahrt, nicht in einem überspitzten Gegensatz, in falscher Deutung des Grundsatzes „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, zugunsten einer kollektiven Omnipotenz vergewaltigt.

Mit dieser Definition der Sozialhygiene sind zugleich auch die richtigen Wege eines echten Familienschutzes von den falschen Wegen einer bloßen „Bevölkerungspolitik“ abgegrenzt. Wie sich die Bevölkerungspolitik bei nur wehr- und machtpolitisch orientierten Zielsetzungen eng an den Begriff der Rassenhygiene bindet, so hat echter Familienschutz auch eine richtig orientierte Sozialhygiene als Grundlage und stellt vice versa einen integrierenden Teil einer solchen dar: eine Hygiene, die sich die Erforschung der gesundheitlichen Schädigungen zur Aufgabe macht, die die menschliche Gesellschaft als solche berühren (soziale Auswirkungen) oder aus Störungen der gesellschaftlichen Ordnung resultieren (soziale Verursachung, beziehungsweise Bedingtheit). Vermeidung vermeidbarer Gesundheitsstörungen in Sinne des berühmten Hygienikers Flügge gehört im besonderen zu den Aufgaben der sozialhygienischen Prophylaxe.

Wenn wir unter diesem Gesichtspunkt soziale Bedingtheit und soziale Auswirkung schwerer Notstände der Gegenwart betrachten, so müssen wir zunächst als Bilanz der vergangenen Jahrzehnte erkennen: Was nützen die Errungenschaften der Bakteriologie, der Immunitätsforschung, der persönlichen Hygiene, der Kultur von Ernährung, Kleidung, Wohnung und selbst gutgemeinte sozialhygienische Arbeitsverordnungen, um nur die wichtigsten hygienischen Umweltbedingungen zu nennen — wenn in sechs Kriegsjahren mehr an all diesen Umweltverbesserungcn vernichtet wird als Jahrzehnte aufbauen konnten — ganz abgesehen davon, daß doch das wichtigste Objekt der Hygiene der 1-Aendige Mensch selbst ist und eine bis dahin unerhörte Lebensvernichtung mit moderner Massentechnik eingesetzt hat.

Hier müssen wir aber ganz klar eine Wurzel dieser Katastrophe erkennen: Die lange vorherbestehende falsche Orientierung dem Menschen und dem Lebensrecht gegenüber. Es war eine falsche Orientierung der Wissenschaft, die hiezu den Grund gelegt hat. Der Ausgangspunkt dieser Fehlorientierung war die Darwin sehe Lehre vom Kampf ums Dasein und das hieraus abgeleitete, verallgemeinerte Selektionsprinzip. In engem ideologischen Zusammenhange hiemit steht audi das Bevölkerungsprinzip des M a 1 t h u s, das zu einer Irrlehre von folgenschwerer Tragweite geworden, eine völlig fehlerhafte Lehre vom „Nahrungsspielraum“, beziehungsweise „Lebensraum“, nach sich zog.

So hat schließlich die Biologie, anstatt dem Leben zu dienen, dem Tode gedient: die Medizin hat, auf biologischen Irrlehren weiterbauend, die dem Mensdien gezogenen Grenzen mißadnet und sich für befugt gehalten, zu differenzieren, welches Leben wert sei, gelebt zu werden und den Lebensstrom fortzupflanzen. Und so hat sie schließlich, statt Leben zu fördern, mit dazu beigetragen, daß Leben vernichtet wurde: zunächst im kleinen, nachher im großen. Die „Selektionsärzte“ unserer Zeit waren die Frucht der Lehren, die Darwin und M a 11 h u s — beide sidier wohlmeinend, aber fehlorientiert — gesät haben.

Es fing an mit der Geburtenverhütung. Die Propaganda für diese wirkte derart suggestiv auf die Massen, daß selbst ein so besonnener Sozialhygieniker wie Alfred G r o t j a h n sich nicht gänzlich dieser Suggestivwirkung entziehen konnte, obgleich er kritisch genug war, auch die Kehrseite der den Massen versprochenen Befreiung vom „Gebärzwang“ zu erkennen. G r o t j a h n erkannte die dysgenisdien und antisozialen Wirkungen einer zur Massenerscheinung gewordenen Geburten Verhütung; er erkannte auch die erhoffte ökonomische Besserung und Erhöhung des „Lebensstandards“ als verhängnisvolle Täuschung und damit die Gefahr des Zusammenbruches sozialer Errungenschaften, insbesondere der Sozialversicherung. Er suchte ihr durch eine „Elternschaftsversicherung“ zu begegnen, wollte diese aber in die Sozialversicherung eingebaut wissen, was ein Konstruktionsfehler gewesen wäre. Denn bei zunehmendem Geburtenrückgang verschiebt sich in der Sozialversicherung das Zahlenverhältnis von Beitragspflichtigen zu den Empfangsberechtigten immer mehr zugunsten der letzteren, somit im Sinne unverhältnismäßiger . Belastung; umgekehrt aber in einer Elternschaftsversicherung oder Ausgleichskasse. Wäre nun letztere an die Sozialversicherung gekoppelt, so würden ihre Überschüsse zunächst dazu dienen müssen, daß Defizit der Sozialversicherung auszugleichen, anstatt die Familienlasten, und so ihren Zweck zu verfehlen.

Der Hygieniker G r o t j a h n hat aber klar erkannt, daß die im Kern individualistische Ideologie des Malthusianismus lebensfeindlich und mit wahrhaft sozialem Denken unvereinbar ist.

Aus diesem Grunde hat G r o t j a h n auch den Abortus, der in den Jahren nach 1918 zur bedrohlichen Massenerscheinung geworden war, gleichfalls bekämpft und in seiner Propagierung vom Standpunkte der Sozialhygiene keinen Fortschritt, sondern eine furchtbare Gefahr erkannt.

Nicht genug aber an diesen — unter dem Vorwand der Wissenschaft propagierten — Verletzungen des Lebensrechtes ging man im Namen einer fehlorientierten Erbhygiene noch um einige Schritte weiter, die sich aber mit unerbittlicher logischer Konsequenz einer aus dem anderen ergaben. Man forderte die Sterilisation der Erbkranken und griff damit in den Lebensstrom an seinem Ursprünge eh?, und suchte ihn nach menschlicher Willkür zu lenken. Es kam, wie es kommen nrßte: die Forderung nach Legalisierung der freiwilligen Sterilisation zog die gesetzliche Zwangssterilisation nach sich, damit die Erbgesundheitsgerichte, und schließlich als unvermeidbare letzte Konsequenz die Euthanasie, durch welche die ganze, in Jahrhunderten mühsam aufgebaute Irrcn-pflege mit. einem Schlage zerstört und das Vertrauen zum Arzte als berufenen Hüter des Lebens aufs schwerste erschüttert wurde.

Alle diese Verletzungen des Leber.srechtes stellen eine ideologische Einheit dar. Will man nicht deren letzte und furchtbarste Konsequenz, wie wir sie erlebt haben: Massenvernichtung menschlichen Lebens in den Todesmühlen der Konzentrationslager und des mechanisierten Krieges — dann muß man an der Wurzel beginnen, das Lebensrecht zu schützen und als Grundlage jeder wahren Hygiene zu proklamieren.

Das bedeutet aber zugleich, daß die F a-m i 1 i e sowohl in ihrer Eigenschaft als Grundlage der Gesellschaftsordnung wie als Quelle des Lebensstromes unbedingt geschützt und ihre individuellen wie sozialen Lebensrechte eindeutig definiert, proklamiert und gesetzlich normiert werden. Hier hat nun die Sozialhygiene erneut einzusetzen und nach den Irrwegen einer selektio-nistischen Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik den Weg zu richtigen, einwandfreien Maßnahmen zu finden.

Um die sozialhygienisch richtigen Maßnahmen zu erkennen, müssen wir zunächst aus den Fehlern der vergangenen Zeit lernen, wie es nicht gemacht werden soll.

Wer die Probleme des Familienschutzes in ihrer grundlegenden Bedeutung für die gesamte menschliche Gesellschaft und damit für die Sozialhygiene erkannt hat, der mußte sich von vornherein darüber klar sein, daß die schweren biologischen, sozialen und sittlichen Notstände der Familie, die zu einem Geburtenschwunde von lebens- und gesell-schaftsbedrohenden Ausmaßen geführt haben, nicht mit kleinen und armseligen Palliativmitteln bekämpft werden konnten, sondern daß es ums Ganze gehen mußte: um die Wiederherstellung der verletzten sozialen Gerechtigkeit, um eine gerechte Verteilung der Lebensgüter, um die Lohngerechtigkeit, um das Recht auf Arbeit — kurz, um die Lösung der sozialen Frage als Ganzes. Jeder Versuch, mit kleinen Mittelchen diese Notstände zu übertünchen, bedeutete, der Lösung der Fragen aus dem Wege zu gehen, sie unverantwortlich hinauszuschieben, ja geradezu die Lösung zu vereiteln. So beispielsweise, wenn man jungen, gesunden Ehepaaren generell die Methode Knaus-Ogino als „naturgemäße“ Norm des Ehelebens anpries und sie damit lebenslänglich zum Gebrauche des Monatskalenders — oder im Falle des Versagens zur „Kontrazeption“ — verurteilen wollte, anstatt der Familie die ökonomischen und sittlichen Grundlagen eines wirklich normgemäßen und gesunden Familienlebens zu sichern.

Oder wenn eine nur auf den Soldatenbedarf eines kommenden Krieges hinarbeitende Bevölkerungspolitik lediglich an Maßnahmen „zur Hebung der Geburtenzahl“ dachte, anstatt den Boden zu sanieren, auf dem von selbst gesunde und starke Familien gedeihen können — zu welchem Gedeihen allerdings auch der Frieden die oberste Voraussetzung aller wahren'Eugenik und Sozialhygiene hätte sein müssen.

Wir haben alle diese Maßnahmen kennengelernt, die auch bei uns eingeführt worden sind, obgleich die Einsichtigen rechtzeitig — aber leider vergebens — die warnende Stimme der Kritik erhoben haben.

Jetzt können wir uns aus eigener, schmerzlicher, praktischer Erfahrung ein Urteil darüber bilden, welchen Wert alle diese primär auf Geburtensteigerung hinzielenden Maßnahmen gehabt haben: Die Ehestandsdarlehen, die Ehrenpatenschaften und selbst die Verleihung von Ehrenzeichen, wie das „Mutterkreuz“. So sinnvoll auch eine Auszeichnung für die aufopfernde und bewährte Familienmutter sein könnte — sie muß als Beleidigung und Hohn empfunden werden, solange man der Familie die Lebensnotwendigkeiten vorenthält, und als Entwürdigung, wenn man von der Frau verlangt, daß sie wirklich nur „Gebärmaschine“ für eine alles Geborene verschlingende Kriegsmaschine sein soll.

Auch das von S o n n e k kritisierte System der sogenannten „kleinen Begünstigungen“ gehört zu diesen fehlerhaften Maßnahmen. Sie mögen vielleicht einer! provisorischen Wert haben, aber niemals, wie überhaupt alle bloß karitativen und für-sorerischen Maßnahmen als „Ersatz für geschuldete aber verweigerte soziale Gerechtigkeit“ (Pius XL): ob es sich nun handelt um .Schulgeldermäßigungen für kinderreiche Familien, um Steuerermäßigungen, um Ermäßigungen der Fahrpreise auf Straßenbahnen und Eisenbahn; schließlich auch um Kinderzulagen, die der Arbeitgeber gewährt, gleichviel ob es sich um einen privaten Unternehmer, um die Gemeinden oder den Staat handelt. Allen diesen Maßnahmen fehlt insofern der Rechtsgrund, soweit hiedurch das Äquivalenzprinzip der Lohngerechtigkeit „gleiche Leistung, gleicher Lohn“ verletzt wird; und da sowohl der indiv: 'jelle wie der soziale Rechtsgrund fehlen, können alle diese Maßnahmen bestenfalls den Charakter freiwilliger, somit rein karitativ gewährter Zuwendungen tragen, können daher niemals wirklich soziales Unrecht gutmachen; demgemäß können sie sich auch niemals in einem wirklich sozialhygienischen Sinne auswirken.

Die wesentlichste Grundlage eines richtigen Familienschutzes muß das Übel an der Wurzel bekämpfen und der Familie wieder den Zugang zu den Lebensgütern und deren gerechte Verteilung sichern.

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