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Digital In Arbeit

Franz Schindler

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Eki neuer zeitgeschichtlicher Beitrag von Friedrich Funder

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Eki neuer zeitgeschichtlicher Beitrag von Friedrich Funder

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Immer mehr vervollständigt sich die lange lückenhaft gebliebene Frühgeschichte der christlichen Reformbewegung in Oesterreich. Ausgelöst durch schwere soziale Mißstände, die das liberale Zeitalter zurückgelassen hatte, erfaßte sie bald auch den kulturpolitischen Raum, aus dem sie ihre grundsätzliche Festigung und ihre besten Kräfte Jgewann. Die Namen Vogelsang und Schindler bezeichnen ein Programm. ,,E hat für die österreichische Gesellschafts künde“, sagt Friedrich Funder in seiner eben erscheinenden aufschlußreichen Arbeit: „Aufbruch zur christlichen Sozialreform“*, „keinen zweiten Vogelsang gegeben, aber auch keinen zweiten Schindler; beide ergänzten sich aus ihrer verschiedenen Natur heraus in pro-videntieller Fügung.“ Der Wiener Universitätsprofessor, lebenslängliches Mitglied der ersten Kammer des alten österreichischen Parlaments, päpstlicher Protonotar Dr. Franz Schindler, ist der Dogmatiker der christlichsozialen Bewegung, ihr Lehrmeister, ihr Anwalt gegen hohe Ankläger selbst vor dem Papste, in wissenschaftlicher Schule, der Gründer der Leo-Gesellschaft, einer der angesehensten katholischen Gelehrtenvereinigungen des Kontinents in der Zeit vor 1938, ein Führer, der an einer großen Zeitenwende Oesterreich geschickt wurde und auch heute noch ein Wegweiser ist. Sein Lebensbild ist in der vorliegenden, auf viele bisher unbekannte Dokumente gestützten Arbeit hineingestellt in die soziale und geistige Szenerie einer nahen Vergangenheit, die auch der Gegenwart viel zu sagen hat.

Wir geben im nachstehenden eine Leseprobe aus dem bunten und außerordentlich aufschlußreichen Inhalt. „D ic'Furche“

• Verlag Herold, 172 Seiten, S 32.—. Erschienen in der Schriftenreihe „Beiträge zur neueren Geschichte des christlichen Oesterreich“.

Das Wien,* in das Dr. Franz Schindler im Herbst 1887 zurückkehrte, war ein anderes Wien als jenes, das er vor zehn Jahren verlassen hatte. Mit klopfendem Herzen verspürte er nun den Anhub der aus den Urtiefen des Volkes hervorbrechenden sozialen Freiheitsbewegung. Sie war daran, die alten Gewalten in Wirtschaft und Wissenschaft anzugreifen. Was Schindler schon als Kaplan, dann als Anreger der sozialen Kleruskonferenzen in der Leitmeritzer Diözese und als Mitarbeiter der Vereinigung deutscher und österreichischer katholischer Sozialpolitiker aus innerstem Drang empfunden, das rief ihn nun in der Großstadt nach vorne. Wie war es nur so gekommen? Er erzählte es einmal auf einer nordböhmischen Katholikenversammlung zu Warnsdorf im Sommer 1887, kurz bevor er nach Wien berufen wurde. Als junger Priester war ihm einmal eine öffentlidhe Ausschreibung vor Augen gekommen, in der eine „Schreibkraft“ gsucht und dafür die Einbringung eines wohlbelegten Gesuches verlangt wurde. Da schoß es ihm durch den Kopf: Wie? Nur „eine Kraft“ und nichts anderes, eine Kraft, wie eine Maschine, die aufgestellt und wieder beseitigt wird, wenn sie keinen Gewinn mehr abwirft? Wenn die sittlichen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geleugnet werden — bis zu welchem Grad der Vergiftung muß dann unser modernes Erwerbsleben gelangen? Der Gedanke hielt den jungen Mann fest, revoltierte seinen Gerechtigkeitssinn, stachelte seinen forschenden Geist und sein Verantwortungsbewußtsein an.

Heute, zwei Generationen später, ist es den Menschen des vorgerückten 20. Jahrhunderts fürs erste kaum verständlich, welche überwältigende Dynamik dem sozialen Thema von damals innewohnte. Die damals gültige Begriffswelt, man könnte sagen, die ganze damals die fortgeschrittensten Geister beschäftigende soziale und wirtschaftliche Problematik, hatte einen anderen Inhalt, war so völlig anders gelagert, daß heute nur derjenige, der bereit ist, die Maßstäbe von heute beiseite zu legen, die leidenschaftliche Hingabe begreifen kann, die damals Menschen verschiedenster weltanschaulicher Einstellung, von ganz links aus den Reihen des Marxismus bis hinüber zu den katholischen Sozialpolitikern und zu den evangelischen Soziologen des Kreises um Adolf Stöcker, beseelte. Der Staatsabsolutismus des Vormärz war vorüber. Der Liberalismus war unter berauschenden Hochgesängen auf die Freiheit eingezogen. Das Maschinenzeitalter begann jahrhundertealte Betriebsformen zu zerschlagen, ohne daß sich die Gesetzgeber von den einsetzenden, die Produktions- und Rechtsordnung erfassenden Umwälzungen schon Rechenschaft zu geben wußten. Die Geldwirtschaft war mit einer nie zuvor gekannten Allmacht und Herrschsucht auf dem Plan erschienen und hatte sich einen Thron errichtet, vor dem sich Sklavenheere zu versammeln begannen. Die neuen Mächte schufen Neues und zugleich verbreiteten sie Zerstörung, vernichteten ganze handwerksmäßige Gewerbe, machten bisher selbständige Kleinmeister und ihre Gesellen brotlos, zwangen sie, in Fabriken ihr Brot zu suchen, ohne Rechtsschutz, der Ausbeutung preisgegeben. Das Proletariat wurde unter Schmerzen geboren. Ein noch nicht bekannter Fluch hatte die Menschheit befallen. Eine fast urplötzlich einsetzende Erschütterung der mittelständischen Schichten in Stadt und Land, die Ent-sicherung tausender Existenzen und die Hilf-und Schutzlosigkeit der geldarmen Menschen in dem kühn aufwärtsstrebenden, aller Rücksichten entbundenen Industrialisierungsprozesse.

Schon am 3. Mai 1877 hatte in der Schlußsitzung des Ersten Katholikentages für die ganze Monarchie“ Prinz Alois Liechtenstein den geschaffenen Zustand mit den Sätzen bezeichnet: „Die Zusammensetzung der modernen Gesellschaft, die ebenso einfach ist als anormal und unbefriedigend, ist ungefähr folgende: Als obere Schichte eine sehr zahlreiche und außerordentlich vermögliche Rentnerklasse, welche in Form des Aktienkupons und des Kapitalzinses einen immer beträchtlicheren Teil der Arbeitsfrüchte des Volkes bezieht, ohne an irgendwelche persönliche oder sachliche Gegenleistung gebunden zu sein. Eine Finanzoligarchie, gering an Zahl, aber ungeheuer mächtig und nicht minder korrumpiert, die über das Vermögen dieser Rentnerklasse unumschränkt disponiert und ihre Wehrlosigkeit nach Belieben ausbeutet. Als untere Schichte die verarmte, bedrängte und erschöpfte Masse des produzierenden und arbeitenden Volkes, Handwerker, Kaufleute, Arbeiter, Unternehmer, große und kleine Grundbesitzer. Ueber dem ganzen thront der liberale Staat in seiner chronischen Geldnot.“

Diese Schilderung hatte auch, noch Geltung für den Schauplatz des Endes der achtziger Jahre. Wohl hatte mit der Gewerbenovelle von 1883 und der neuen Fabrikarbeitsordnung, welche die Kürzung des Arbeitstages mit der gesetzlichen Festlegung der Maximalarbeitszeit und Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit gebracht hatte, die christliche Sozialreform, yorangerragen von Karl Freiherrn von Vogelsang, Egbert Graf Belcredi und Alois Prinz Liechtenstein, ihre ersten großen Siege über den Manchesterliberalismus errungen. Die Hauptsache aber, der Neuaufbau der Gesellschaft, stand noch bevor, und selbst in der Durchführung der neuen Gesetze bestanden noch breite Lücken, wenn zum Beispiel der nunmehrige gesetzliche Elfstundentag in der Textilbranche unbefolgt blieb und das Institut der Gewerbeinspektoren eine bürokratische Einrichtung für Erhebung von Mißbräuchen, aber nicht zu ihrer Abstellung, zu werden drohte. Zudem hemmten, erkennbar von Interessenten genährt, Parteiungen und Eifersüchteleien den Fortschritt der genossenschaftlichen Organisation, und Eingriffe der Handelskammern durchlöcherten den Gewerbeschutz, den die gesetzliche Einführung des Befähigungsnachweises gewährt hätte.

Die Ausweise der Vorschußkassen und Kreditinstitute ließen Schlüsse auf die ansteigende Bedrängnis der geldschwachen Mittelstände und die rapid ansteigende Verschuldung mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit zu. So verzeichneten im Jahre 1878 die Vorschußvereine — ohne Raiffeisenkassen — in ihren Kassen erliegende Wechsel und Schuldscheine in der Höhe von 88,275.000 Gulden. Im Jahre 1891 waren daraus bereits 172,000.000 geworden. Die Hypothekardarlehen der Vorschußvereine, die 1878 29,733.000 Gulden betragen hatten, waren 1891 auf rund 112,000.000 gestiegen. Die Hypothekardarlehen der Sparkassen wuchsen in dem kurzen Zeitraum von acht Jahren, zwischen 1884 und 1892, von 609,156.000 um mehr als die Hälfte, auf 923,103.000.

In dieser anschwellenden Verschuldung nistete der Wucher. Keine strafrechtliche Norm wehrte ihm, seit 1868 die bestehenden strafrechtlichen Bestimmungen außer Kraft gesetzt worden waren, seine Opfer zu suchen, wo er wollte. Man zählte alsbald in Wien allein bei 2000 gewerbsmäßig betriebene Wuchergeschäfte, die bei hellichtem Tage mit öffentlichen Anpreisungen ihr Treiben entfalten konnten. Im Wiener Grundbuchamt wurden im Jahre 1878 hypothekarische Darlehen mit Zinssätzen zu 15, 20, 29, 30 und 36 Prozent intabuliertü Die namentlich gegen bäuerlichen Besitz geführten Hypothekarexekutionen stiegen in manchen Gegenden so jäh an, daß zum Beispiel in Niederösterreich die Zwangsversteigerung der Bauernhöfe schon 1877 innerhalb eines Jahres die Unglücksziffer des Vorjahres verdoppelt hatte, und der Bezirkshauptmann von Amstetten, in einem Landstrich, in dem die behäbigen einstöckigen Vierkanthöfe heimisch sind, seiner vorgesetzten Behörde melden mußte, seine Beamtenzahl reiche nicht mehr aus, um dem Dienst bei allen den ausgeschriebenen zwangsweisen Feilbietungen nachzukommen; wenn der Bauer ein Hypothekardarlehen pro Monat mit 5 Prozent verzinsen müsse, so werde dieser Satz noch als Wohltat empfunden, denn 10 bis 30 Prozent seien die Regel. Angesichts dieser grauenhaften Erscheinungen auf dem Geldmarkte erhoben sich die Stimmen der Landtage von Niederösterreich, Steiermark, Salzburg, Böhmen, Mähren, Schlesien und Galizien. Aber so dringend das Begehren der Landtage und so vielsagend die Sprache der Tatsachen war, die das Staatsamt für Statistik über die Bewegung auf den Geldmärkten und die Zeugnisse in den Grundbüchern veröffentlichte, noch stärker war der Aberglaube an die Zauberkräfte der freiwaltenden Geldmacht. In einzelnen Landtagen erhoben sich überzeugte Verteidiger des bestehenden Zustandes, und im niederösterreichischen Landtag berief sich der liberale Abgeordnete Magg auf die Wissenschaft, die vor Maßregeln warne und alle Wuchergesetze als nutzlos erkläre...

Die amtlichen Aufzeichnungen haben uns einen anschaulichen Rechnungsabschluß über die Jahre der strafrechtlichen Wucherfreiheit aufbewahrt: In den Jahren 1870 bis 1880 war die Hypothekarverschuldung des bäuerlichen Besitzes in Oesterreich um 490,750.000 Gulden gewachsen, und in demselben Jahrzehnt waren in Oesterreich 74.725 bäuerliche Anwesen exekutiert worden. Mit ebenso bitteren Erfahrungen wie der Bauernstand hatten das Handwerk und die Kaufmannschaft die Wirkungen einer ungebundenen Geldwirtschaft und den schrankenlosen Wettbewerb zwischen den Starken und Schwachen zu kosten bekommen. Die „Gewerbefreiheit“ hatte dem Hausierhandel und den „fliegenden Wanderlagern“ die Türe geöffnet, die sich den Steuern, die das seßhafte Gewerbe zu tragen hatte, entziehen und mit minderwertigen, von der Industrie abgestoßenen Erzeugnissen den bodenständigen Produzenten unterbieten konnten. Sie öffnete die Tür auch dem Pfuschertum und den Ramschgeschäften, die mit einem Einheitspreis von 9 oder auch 21 oder 27 Kreuzer und mit einer Druckschriften-Massenpropaganda die ärmeren Volksschichten zum Einkauf anlockten. Damals bürgerte sich in Oesterreich der galizische Fachausdruck „Pofel“ zur Bezeichnung von Ausschußware ein. Die Wirkungen dieser Zustände waren verheerend. Während des Regimes der liberalen Gewerbefreiheit, angefangen vom 20. Dezember 1859 bis zur Gewerbeschutz-gesetzgebun-; im Jahre 1889, wurden in Wien allein 35.000 Steuerexekutionen gegen Gewerbetreibende g,führt!

Die ganze Düs'ernis der Wirklichkeit zeigte die Berufsstatistik, die aus der Ende 1890 durchgeführten allgemeinen Volkszählung gewonnen werden konnte. Viele selbständige Existenzen waren entwurzelt, Hunderttausende waren brotlos geworden. Die Zählung in der Bekleidungsindustrie, die am stärksten von dem sorg- und kontrollos herbeigeführten Zusammenstoß kapitalistischer Wirtschaftsformen mit der Kleinerzeugung betroffen worden war, konnte unter 1,154.983 Berufszugehörigen nur 608.817 tatsächlich Berufstätige und damit ihr Brot Verdienende entdecken. Die handwerksmäßig geführten Gewerbe der Färber, Tuchmacher, Sticker und Weber wurden schon in der Ministerialverordnung vom 30. Juni 1884, welche die handwerksmäßigen Gewerbe aufzählte, gar nicht mehr genannt, weil sie fast spurlos vernichtet waren.

Drastisch die Beispiele, die Wien bot. Bei der Aufhebung der alten Gewerbeschutzgesetzgebung im Jahre 1859 bestanden in der-Wiener Vorortegemeinde Schottenfeld (im heutigen siebenten Bezirk) noch 316 Webereien; die kleinsten beschäftigten 10 bis 20 Webstühle, die größeren 100 bis 200. Nach 25 Jahren (1885) gab es an Stelle der hunderte Betriebe nur noch 18 recht bescheidene und fünf sehr große. Fast völlig aufgesaugt wurde zur selben Zeit die handwerkliche Erzeugung der Sattler und Schlosser. Als Dr. Alfred Ebenhoch 1894 auf dem „Ersten Sozialen Kurs“ in Wien über die Lage des Gewerbes referierte, glaubte er von einem Todeskampf der Bekleidungsindustrie reden zu müssen. Diesem Aeußersten hat unter dem Einfluß der aufstrebenden Reformbewegung die Gesetzgebung und der Selbstschutz des Gewerbes in gewissem Maße vorzubeugen vermocht. Aber der Uebergang vollzog sich über ein wirtschaftliches Leichenfeld.

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