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Geist und Ordnung

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Die Schwierigkeiten bei der theoretischen Erfassung und praktischen Behandlung von Fragen der Sozialordnung werden gegenwärtig von zwei Erscheinungen bestimmt. Die erste ist das Erwachen des Sinnes für dieFreiheit der Persönlichkeit. Es kommt zum Teil aus der einfachen Erfahrung unerträglichen Zwanges. Zum Teil ist dieses Erwadien ein neues Tasten nach einer geistigen und darum sittlichen Begründung der Persönlichkeit. Zuweilen findet es schon den Weg zum letzten, metaphysischreligiösen Grund der Persönlichkeit und ihrer Freiheit und verbindet sich mit der Anerkennung und dem Anstreben überpersönlicher, verpflichtender, sittlicher Werte. Damit erwacht aber auch der Sinn für eine echte soziale Haltung, die doch darin besteht, daß die einzelnen gemeinsame, verpflichtende Lebenswerte anerkennen, um sie auf dem Grunde vielfacher natürlidier Gegebenheiten in der Form von Gemeinschaften zur Entfaltung zu bringen. Die zweite Erscheinung liegt darin, daß dieses elementare — in einer Elite zum geistigen Grunde vorstoßende — Freiheitsstreben auf eine Tendenz zur Freiheitsvernichtung stößt, die in der Entwicklung der entscheidenden sozialen Ordnungselemente gegenwärtig unbezweifelbar zur Auswirkung drängt.

Darum stellen die Schriften und Überlegungen, die die Entwicklungstendenz unserer sozialen (und wirtsdiaftlidien) Ordnung zum Gegenstande haben, im Grunde immer die bange, aber sehr klar ausgespro-diene und noch seltener klar behandelte Frage, wie es möglich sein würde, in der machtvoll vordringenden Tendenz zur Freiheitsvernichtung und in den ihr entsprechenden Ordnungsformen den Freiheitsraum der Persönlichkeit zu sichern. Man sollte bei der Frage nach diesen Entwicklungstendenzen nicht verkennen, daß in ihnen noch jene Geistigkeit zu letzter gestalthafter Verfestigung drängt, die nicht unsere Geistigkeit und nicht die der Zukunft sein kann. Um diese Frage geht es im Grunde den meisten Schriften über Sozialisierung, Ver-staatlidiung, Planwirtschaft, Sozialismus, Demokratie. So ist bei der Behandlung der heutigen sozialen Problematik, ihres geschichtlichen Werdens und ihrer eigenmächtigen ' Tendenzen ein geradezu dramatisches Ringen zu erkennen: das Ringen um einen gültigen Ordnungs gedanken bei allen jenen, die von liberalistisdien Prinzipien des sozialen Denkens herkommen, das Ringen um einen gültigen F r e i h e i t s gedanken bei jenen, denen eine sozialistische Lebensordnung als Konzeption oder als geschichtliche Wirklichkeit vor Augen steht. Daß dieses Ringen zutiefst um Geistiges geht, um die geistige Freiheit, die die Persönlichkeit begründet, und um das Prinzip der Ordnung, das sie trägt, das müßte überall dort klar gesagt werden, wo man bestimmend in das Leben hineinspredien will. Man kann weder die Freiheit noch die Ordnung, weder die Freiheit aus der Ordnung noch die Ordnung aus der Freiheit, anders begründen als aus dem geistig-sittlichen Prinzip der Persönlichkeit. Und aus diesem Prinzip müssen die strukturellen Leitsätze einer sozialen Lebensordnung entspringen.

In diesen Fragen liegt heute ein gutes Stück der Tragik eines liberalistisdien Men-sdientums, das nach grenzenloser Freiheit strebte und in einem furditbaren Gerichte der Geschichte sich selbst zwingt, seine Freiheit zu vernichten, weil diese Freiheit anardiisdi war im tiefsten, metaphysisdien Sinne dieses Wortes.

Der anarchische Mensch ist außerstande, die notwendigen und natürlidien sozialen Spannungen geistig zu bewältigen und damit zu wirklicher Ordnung zu gelangen. Er kann lediglich danach streben, sie durch die Äußerlichkeit des Organisierens zu neutralisieren, um einen Raum anarchischer Freiheit zu sidiern. der aber immer kleiner wird und ihm sdiließiidi gänzlich entschwindet. Darum wird die soziale Lebensform des anardiisdien Menschen zuletzt notwendig der Totalitarismus sein. Wo die innermenschliche Ordnung aus geistiger Freiheit verlorengegangen ist, müssen alle Elemente der äußeren Ordnung aus Formen der Lebensentfaltung zu Werkzeugen der Gewalt werden. In solchen aber wirkt die freie Persönlichkeit als störendes, weil unberechenbares Element. Ihre Tendenz wird also dahin gehen, die Persönlichkeit derart total zu erfassen, daß deren Reaktion auf äußere Anlässe und innere Anrufe jederzeit vorausbestimmbar bleibt, um das Funktionieren der Organisation nicht zu stören. Die Persönlichkeit wird unterdrückt, die Masse gezüchtet und gepflegt. Der Totalitarismus ist nichts anderes als durch gewaltige Organisation und organisierte Gewalt gebändigte, tiet innerliche Anarchie.

Es ist dies die Anarchie letztlich des Ich eines Max Stirner, das jede soziale Bindung als Zwang empfindet und nur durch Zwang sozial gebunden werden kann. Dieses Idi kann verschiedene Gestalt annehmen. Es kann das utopische Bild fröhlicher Vogelfreiheit verfolgen, wie es Weitling getan hat, es kann aber auch wissenschaftlich werden und sich hinter naturgesetzliche Harmoniegedanken verschanzen, um sidi selbst zum Mittelpunkt des Lebens zu machen, es kann auch das Ich eines Kollektivs sein, das sich zum Träger des letzten Sinnes der Geschichte macht und sich im Ich eines Führers aufgipfelt. Geschichtlich wird es wohl das eine aus dem anderen hervortreiben und wird sich sdiließlich immer im tiefsten Grunde selbst verniditen. Es wird sich geistig vernichten: in den „Gesetzen“ einer mechanischen Naturordnung, der es sich unterwirft, in einem ökonomisch zwingenden Geschichtsablauf, auf den es hofft, oder in einer Flucht in den Evolutionsgedanken aus tierisdien Ursprüngen, hinter dem es sich zur Selbstentschuldigung verbirgt. Es wird sich in allen Fällen sozial vernichten: im Versinken in ein Kollektivum, das jeder sozialen Form das Gepräge des Totalitarismus gibt.

Hier liegt nun aber auch die Problematik des modernen Sozialismus und, wenn nicht alles täuscht, auch der Kern der geistigen Unruhe, die ihn ergriffen hat und die ihren charakteristischesten Ausdruck im Streben nach einem ,.personalistischen“ Sozialismus gefunden hat. Denn der Urprung des sozialistischen Protestes gegen die kapitalistische Gesellschaft liegt im Streben nach Sicherung der freien Persönlichkeitsentfaltung für diejenigen, denen der Kapitalismus die volle persönliche Freiheit gleichzeitig theoretisch gewährte und praktisdi raubte. Dieser Protest aber entzündete sidi am anarchischen Freiheitsbegriff der Zeit seiner Entstehung, an einer kollektiven Ich-Haltung und muß nun an seiner Konzeption der sozialen Lebensordnung das Kainsmal des Totalitarismus erkennen, die Vernichtung der Freiheit.

Diese Tatsachen müssen allen Überlegungen über die technische Mögüdikeit irgend-weldier Planungen des sozialwirtschaftlidien Lebens zugrunde liegen. Tedinisdi möglich ist schließlich nahezu alles, und alles wird im Zeitalter geistiger Rat- und Riditungslosig-keit mit den statistischen Erfolgsziffern audi von der öffentlichen Meinung schließlich sanktioniert. Wir müssen uns klar darüber sein, daß die Tendenz zum Totalitarismus allein durch jenes geistige Erwachen überwunden werden kann, von dem eingangs die Rede war und aus dem wir die Folge rungen für die Ordnung des sozialen Lebens ziehen müssen. Freilich: wer in dem gewaltigen Wettlauf zwischen dem tiefen geistigen Sehnen und der inneren Tendenz des sozialen Geschehens in unserer Zeit schließlich Sieger sein wird, wird erst die Zukunft zeigen. Das Problem aber ist klar und darum auch die Aufgabe: die echte, nichtanarchische Freiheit aufzuzeigen und die Grundsätze einer sozialen Ordnung, die ihr entsprechen.

Gerade weil beides, das geistige Erwadien und die soziale Neuformung, mit äußerster Dringlichkeit Aufgaben unserer Zeit sind, ist es wichtig, den Primat des Geistigen klar zu erkennen als die einzige Macht, die uns tatsächlich vor der sausenden Fahrt in einen Totalitarismus retten kann. Darum müssen wir in der Konzeption einer sozialen Lebensordnung das Freiheitsstreben, das ja auch dem Sozialimus mit voller Berechtigung zugrunde liegt, als Anliegen des geistigen Lebens und als Element der sozialen Ordnung so ernst nehmen, wie er ernst genommen werden muß. Gerade der Sozialismus lehrt uns im Grunde und auf seine Weise, daß es das Prinzip der freien Persönlichkeit ist, das in der sozialen und infolgedessen auch in der wirtschaftlichen Ordnung seinen Entfaltungsraum finden muß, soll das soziale Dasein Lebensordnung und nicht Gewaltordnung sein. Es bedeutet den Tod jeder schöpferischen Lebendigkeit, in welchem Lebensbereich immer, wenn — wie es derzeit mindestens tendenziell der Fall ist — die Persönlichkeit gezwungen wird, die Fülle ihrer Kräfte in einem Defensivkampf um ein letztes Stückchen Eigendasein zu er-sdiöpfcn. Wir können dabei wohl bereits weitgehend damit rechnen, daß es unserer Zeit klargeworden ist, daß es keine anarchische, sondern nur eine innerlich geordnete und äußerlich eingeordnete persönliche Freiheit gibt, daß aber audi die äußere Einordnung nur als Abbild der inneren, geistigen Ordnung Bestand haben kann.

Geistige Ordnung, soziale Haltung und soziale Ordnung entsprechen einander, wirken aufeinander, treiben einander geradezu in die letzten Konsequenzen voran. Wie die anarchische Freiheitshaltung notwendig zu totalitaristisdier Ordnung führt, so ruft jede totalitaristisdie Tendenz der sozialen Ordnung schon deshalb die anarchische Haltung des einzelnen hervor, weil er seine eigengeartete Lebensentfaltung nur in der Umgehung der Ordnung finden kann, in grundsätzlich revolutionärer Haltung. Wir können auch aus diesem Grunde vom modernen Sozialismus als geschichtlichem Phänomen lernen und werden verstehen, warum Bewegungen, die aus der proletarischen Lage kommen, die Tendenz zu anarchischer Freiheit haben und darum aus der revolutionären Haltung des grundsätzlichen Klassenkampfes wiederum zum Totalitarismus drängen.

Man sollte daraus eine doppelte Lehre ziehen. Zuerst die, daß aus klassenkämpferischer Haltung kommende soziale Gestaltungsideen aus ihrem geistigen Ursprung und aus der sozialen Situation, aus der sie entspringen, die Tendenz zum Totalitarismus haben. An diesem Merkmal sollte man nicht vorübersehen, wenn man sich mit diesen Gestaltungsideen befaßt. Sodann die zweite Lehre, daß wir vor der unabweisbaren, verpflichtenden Aufgabe stehen, die soziale Situation der Proletariat durch eine Gestaltung des sozialen Lebens zu überwindenj die den Entfaltungsraum der Persönlichkeit durch Respektierung ihrer natürlichen und unveräußerlichen Rechte sichert und die Möglichkeit einer Erweiterung des Persönlichkeit.* -raumes durch eigeneKraft schafft, sei es intensiv durch Aufstieg in der Stufung der sozialen Funktionen, sei es extensiv durch Erweiterung des, Persönlichkeitsraumes in geordneter, schöpferischer Mitbildung von Gemeinschaften. Daß jeder Persönlichkeitsraum auch persönlicher Wirtschaftsraum sein muß, das gehört zum Inhalt der sozialen Frage der Gegenwart. Sie wird nicht gelöst werden können durch den Versuch, bestehende Gegensätze wegzuorganisieren ohne ihre Quelle freizulegen — das führte in neuen Totalitarismus. Sie kann nur überwunden werden durch innere Überwindung der geistigen Anarchie, durch Bejahung zugleich der Würde der freien geistigen Persönlichkeit und der Verantwortung, die auf dieser Würde lastet.

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