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Geistige Kampfe im heutigen Frankreich

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Wenige Jahre nach dem ersten Weltkrieg ersdiien das Buch des deutschen Gelehrten Hermann Platz „Geistige Kämpfe im modernen Frankreich“, in dem ein grandioses Bild von den Bemühungen der französischen Nation entrollt wurde, aus der Niederlage von 1870/71 geistig und moralisch zu lernen und in einem Prozeß der inneren Klärung jene Stellung in Europa wiederzugewinnen, die dem französischen Volke gemäß seinen Traditionen und seiner Begabung zukommt. Und in der Tat, so turbulent auch in vieler Hinsicht die französische Entwicklung um die Jahrhundertwende etwa war — es sei hier nur an den Dreyfußskandal erinnert und an die Radikalismen des französischen Laizismus — die geistigen Leistungen der Franzosen in den Jahrzehnten vor dem ersten großen Weltringen waren auf manchen Gebieten geradezu großartig zu nennen. Und als besonders lebendig erwies sich der französische Katholizismus, man denke nur etwa an Charles Peguy, die „heldenhafteste und anziehendste Erscheinung des französischen Katholizismus der Vorkriegszeit“, wie er einmal genannt wurde, oder an Paul Claudel, den Diplomaten und Dramatiker.

Der Weltkrieg von 1914 bis 1918 zeigte auf französischer Seite ebenso wie bei den anderen großen Völkern Europas viel Heroismus, aber für die menschliche Entwicklung war dieses Ringen auch in Frankreich nicht von Vorteil. In Deutschland, das 1918 besiegt worden war, führten die Nachkriegsjahre mit ihren politischen, ökonomischen und geistigen Nöten schließlich in den nationalsozialistischen Irrwahn. In Frankreich aber wurde man des Sieges nicht froh. Das Land geriet in eine alle Lebensgebiete erfassende Krise, an deren Ende der katastrophale Zusammenbruch des Katastrophenjahres 1940 stand, in dem Frankreich manchem oberflächlichen Betrachter als Großmacht endgültig abzudanken schien. Indessen, große Völker können auch schwere Zusammenbrüche überdauern, ja, sie gehen aus ihnen moralisch und geistig gestärkt hervor. Dies wird auch bei Frankreich wieder der Fall sein, so schwer auch die Krise sein mag, die es gegenwärtig durchzumachen hat. Man kann sich auch schwer ein Europa denken, in dem Frankreich nicht eine hervorragende Stellung einnehmen sollte. Und der französische Geist ist tatsächlich nicht abgestorben. Es bleibt der Beruf der französischen Nation, ein Fackelträger der abendländischen Zivilisation zu sein, angesichts der tiefgehenden geistig-sozialen Auseinandersetzungen, die in unserem Abendlande bereits begonnen haben, mehr denn je.

In der Zeitschrift „fitudes“ ist vor kurzem ein Aufsatz von Jean Danielou über dais geistige Leben Frankreichs erschienen, in dem Christentum — was in Frankreich fast gleichbedeutend mit Katholizismus ist —, Existenzialismus und Kommunismus als die drei großen Strömungen bezeichnet und gewürdigt werden, die das geistige Frankreich von' heute charakterisieren.* Danielou geht davon aus, daß in Frankreich eine Zwiesprache anhebt, die die kommenden Jahrzehnte ausfüllen wird. „Wird sie“, so fragt er, „in der Gestalt eines aufrichtigen und brüderlichen Kolloquiums oder in der eines mörderischen Duells geschehen? Die Frage ist entscheidend für die Zukunft des neuen Frankreichs.“ Tatsächlich sind die Spannungen zwischen den einzelnen Lagern Frankreichs — auch und gerade in den Geistesfragen — überaus groß, sodaß aufwühlende Zusammenstöße nicht ausgeschlossen scheinen und das Problem des Kommunismus, mit dem untrennbar die ganze Problematik des Materialismus verbunden ist, wird von der Nation, beziehungsweise von der Elite des

* In deutscher Obersetzung ist der Aufsatz als Nummer 11 der vom „Centre d'Information et de Documentation Economiques et Soziales“ herausgegebenen Dokumente erschienen, die in Straßburg und Freiburg (bei Herder) herauskommen und dem Ziele dienen sollen, die französische und die deutsche Öffentlichkeit mit bemerkenswerten Vorgängen im geistig-sozialen Leben beiderseits des Rheins bekanntzumachen.französischen Volkes nicht durch geistreiche Diskussionen und Formulierungen geklärt werden können. In den kommenden geistigen Auseinandersetzungen werden Entscheidungen gefällt, geistige Entschlüsse gefaßt werden müssen —. welche Tendenzen und Ideen werden endgültig das Antlitz Frankreichs prägen?

Danielou glaubt feststellen zu können, daß jede heutige Geistesrichtung in Frankreich ohne Ausnahme eine materialistische und eine spiritualistische Seite aufweist, daß es verfehlt wäre, eine materialistische Strömung einer christlich-spiritualistischen entgegenzustellen und daß in Frankreich ein Durcheinander von Einflüssen herrsche, das wohl Verwirrung erzeugen, aber doch auch die Versteifung der Gegensätze verhindern könne. Wie sieht es nun in den einzelnen Lagern aus?

Wenn auch zwischen den Sozialisten und den Kommunisten Frankreichs weitgehende Unterschiede bestehen, den reformerischen Rationalismus des rechten Flügels der Sozialisten eine Kluft von dem doktrinären Marxismus der Kommunisten trennt, die Mehrheit des französischen Volkes ist heute marxistisch orientiert. Ob sich dies auch von der geistigen Elite der Nation sagen läßt, ist eine andere Frage. Danielou hat die gute Formel geprägt, daß der Marxismus die heutzutage lebendige Form des Rationalismus ist. Und der Rationalismus wird in Frankreich immer begeisterte Anhänger finden. Wer dazu neigt, an den menschlichen, von der Wissenschaft und Vernunft allein getragenen Fortschritt zu glauben, wem der Optimismus des rationalistischen Denkens eingeboren ist, der wird zum Marxismus tendieren, denn dort findet er Platz für sein Vertrauen in eine organisierbare Zukunft, dort ist er frei von der Hoffnungslosigkeit des Existentialismus — der gerne das Pathos der Sinnlosigkeit trägt — dort braucht er auch nicht an das Mysterium zu glauben wie der Christ, an das Mysterium, das dem echten Rationalisten stets ein Ärgernis sein wird.

So nimmt denn unter den Anhängern des Marxismus in der französischen Intelligenz die Gruppe der „wissenschaftlichen“ Rationalisten eine bedeutende Stellung ein. Von ihrem Geiste ist die „Nouvelle Enzy-clopedie“ befruchtet, die an einem überholten, im 18. Jahrhundert wurzelnden Materialismus festhält. Derselbe Materialismus spricht aus der Zeitsdirift „Pensee“, die Voltaire als einen der philosophischen Väter der Sowjetunion feiert, und es sind die Kreise, die der „Ecole laTque“ nahestehen, dem Kampfblatt der „akademischen Vereinigung“ der Lehrer, die aus ihrem materialistischen Vorurteil heraus die Universität im Geiste Voltaires, Lamarcks und Anatole Frances reformieren, mit anderen Worten: ihre humanistischen Grundlagen aushöhlen möditen.

Neben diesen rationalistischen Marxisten, die aus der Tradition des Laizismus kommen, gibt es noch die unbedingten Anhänger des Marxismus und seiner materialistischen Dialektik. Ihr Organ ist die Zeitsdirift „Philosophie“. Seltsamerweise gibt es unter diesen extremen Marxisten einige Denker, die bei all ihrem Doktrinarismus an einem Humanismus vorzustoßen versuchen, so etwa Marcel Prenant in seinem Werke „Biologie et Marxisme“ oder Georges Friedmann in seinem „Crise du Progres“. Danielou meint, daß es sich hier „neben einem Kommunismus, der meistens nur politischen Machiavellismus im Dienste einer Partei danstellt“, um einen wirklichen Vertiefungsversuch der marxistischen Denkart handle. „Es wäre wünschenswert, daß auch Christen sich daran beteiligten, um den Beweis zu liefern, daß die marxistische Natur- und Geschichtsdialektik unabhängig ist von dem gemeinen Atheismus, den Marx, als Schüler seiner Zeit, an den Tag legt.“

So sehr aber auch der Marxismus in seinen einzelnen Strömungen in Frankreich versucht, das geistige Dasein der Nation zu beeinflussen oder gar zu prägen, der Existen-zialismus überragt ihn weit an gedanklicher Wucht und an Einsicht in die Prozesse, die unser gegenwärtiges Sein in der Tiefe bestimmen. „Der Kommunismus — als Denkdoktrin selbstverständlich, nicht als politisdie Partei — gehört bereits der Vergangenheit an“, meint Danielou, und der Existenzialist Roger Secretain stellt in seiner Zeitschrift „Esprit“ fest: „Alles, was heutzutage im Bereich der Schöpfung irgendwie Geltung hat, wird von einem tragischen Humanismus geleitet. Liberalismus und Marxismus sind überhol t.“ Dem marxistischen Optimismus mit seinem „Glauben an eine für die Menschen günstige Wirkursädilichkeit der Natur- und Sozialkräfte“ setzt der Existenzialismus die Behauptung entgegen, daß das Weltall unsinnig, die menschlidie Existenz höchst ungewiß sei. Nicht zufällig trägt ein Buch des hervorragenden Schriftstellers Albert Camus, der den Existenzialisten zugezählt werden darf, den Titel „Le Mythe de Sisyphe“ (Sisyphus-Mythus) — eine Apotheose der Vergeblichkeit, des sinnlosen Kampfes, der dennoch bejaht wird. Camus verklärt keineswegs das Chaos, aber er möchte der Freundschaft und Menschlidikeit inmitten einer der Verzweiflung geweihten Welt einen Platz sichern. „Niemals“, so schreibt Danielou über ihn, „läßt Camus sich verleiten, sich vor irgendeinem Tota-litarismus zu beugen. In der Zeit, wo viele Journalisten mit dem Kommunismus liebäugeln oder sich bemühen, mindestens nicht antikommunistisch zu erscheinen, wirkt seine unbeugsame, gerade Haltung nicht ohne Eigenes, ohne Würde“.

Was hat das christliche Denken, der Katholizismus vor allem, dem trügerischen Optimismus des marxistischen Rationalismus und dem Pessimismus der Existenzphilosophie entgegenzusetzen? Die christliche intellektuelle Elite Frankreichs ist sich darüber einig, daß soziale und wirtschaftliche Reformen dringend notwendig sind, daß die gerechten Arbeiterforderungen erfüllt werden müssen, daß jede Vergötterung der Ge-Seilschaft abzulehnen ist und die Gesellschaft sich dem Wohl der menschlichen Persönlichkeit unterordnen muß. Jean La,croix hat im „Esprit“ das treffende Wort vom humanistischen Sozialismus geprägt. Ihn vertreten Maritain, Mauriac, Bernanos, ihn vertritt auch die Republikanische Volksbewegung und deren führender Kopf, der Außenminister Bidault. Aber die Besten des katholischen Frankreich sind bei diesem humanistischen Sozialismus nicht stehengeblieben. Sie sind zu einem christlichen Personalismus vorgestoßen, der alle sozialen Erwägungen hinter sich läßt und ' tatsächlich zu einer chrktlidien Existenzphilosophie zu werden vermochte. Danielou zeichnet als den geistigen Führer dieser Personalisten Emmanuel Mounier, auf den Ch. Peguy, der deutsche Philosoph Max Schcler, der Maritain des „integralen Humanismus“, eingewirkt haben. Der Personalismus betrachtet die Welt nicht allein als eine Gemeinschaft geistiger Personen, er räumt auch dem Problem der Liebe einen bedeutenden Platz ein. Und bei der Lösung der sozialen Frage kommt nach ihm auch der geistigen Erneuerung der ehelichen Beziehungen eine große, wesentliche Bedeutung zu.

Die christliche Existenzialphilosophie geht in Frankreich ebenso wie in Mitteleuropa auf Sören Kierkegaard, den großen dänischen Theologen, zurück, dessen tiefste und ernsteste Deutung audi im deutschen katholische Denker — Haecker und Dempf — gegeben haben. Aber auch der Kalvinist Karl Barth und die orthodoxen russischen Theologen, die seit dem Ende des ersten Weltkrieges in Paris eine geistig hervorragende Kolonie bilden, haben auf die diristlichen, katholischen Denker des Frankreichs der Gegenwart tief eingewirkt, und wie man dem französischen Katholizismus eine echte Aufgeschlossenheit für die sozialen Probleme nachrühmen kann, so nicht weniger einen regen wachen Sinn für die Denkleistungen der einzelnen christlichen Konfessionen. Diese geistige Weite des katholisdien Frankreich läßt die Hoffnung nicht utopisdi erscheinen, daß der Katholizismus auch in der Praxis die Kraft zur Synthese finden wird, die ihm im theoretischen Bereich unleugbar eignet, die Fähigkeit, im Metaphysischen wie im Sozialen den naiven Optimismus des laizistischen Marxismus und die hellsichtige, vielleicht überhelle Verzweiflung des atheistischen Existenzialismus zu überwölben durch seinen Heilsglauben an Jesus Christus. Dann könnte dereinst im übertragenen vergeistigten Sinne wieder von den „Gesta dei per francos“ gesprochen werden. —a

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