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Goethesche Welt

19451960198020002020

Goethe-Handbuch. Herausgegeben von Alfred Zastrau. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, Lieferung 1—3 (Preis je 7.50 DM). Vierter Band: Karten der Reisen Goethes. Preis 39 DM

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Goethe-Handbuch. Herausgegeben von Alfred Zastrau. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, Lieferung 1—3 (Preis je 7.50 DM). Vierter Band: Karten der Reisen Goethes. Preis 39 DM

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Die Kategorie, unter die das 19. Jahrhundert Goethe stellt, war „Konfession“. Nicht nur seine Lyrik galt als „Gelegenheitsdichtung“ vor allem der „amurösen Gelegenheiten“ eines „großen Liebenden“, sondern auch für seine Dramen und Romane galt vorzüglich die Frage, welche „amurösen Gestalten“ in ihnen symbolisiert seien. Man sah Goethe so, wie Heinrich Heines „autobiographischer. Journalismus“ als seine Frucht hätte erscheinen können. Hermann Bahr war wohl der erste, der in seinem unvergeßlichen, kleinen Goethe-Buch das Unerhörte wagte, den scheinbaren Subjektivisten einer einzigen Konfession dem großen Welt-Objektivisten Thomas von Aquin an die Seite zu stellen: ihm verwandt im lebendig-schwingenden Blick in ein Universum der letzten Schwingungen. Das neue Goethe-Handbuch verspricht bereits in seinen ersten Lieferungen, in der Nachfolge dieses Goethe-Bildes Hermann Bahns zu stehen: nicht „goethesche Konfession“, sondern, durch alles Subjektive hindurch (positiv wie negativ, im Durchleben' wie Entsagen) — „Goethesche Welt“,

Darin ist (in einer Wertskala der Werke) einbeschlossen, daß der „alte Goethe“ nicht als „senile Ueberreife“ genommen werde (gegenüber „quellender Frische“ eines „jungen Goethe“), sondern als der Goethe einer „Weisheit des Universums“ (gegenüber einem „jungen Goethe“, der erst auf dem, von ihm selbst gerühmten Weg des wachsenden „Entsagens“ durchreift in die Weite eines „universalen Blicks ins Universum“). Darin, folgerichtig, beschließt sich eine neue Wertung des amtlichen Ministers Goethe: für den das Sachliche des Amtes nicht etwas Fremdes gegenüber dem „Eigentlichen“ des Dichters ist, sondern wie eine „antäische Erde“, aus der heraus er erst ins „Ganze der Welt“ wächst. — Darum steht für den reifenden Goethe nicht ein „ursprüngliches Erleben“ mehr im Mittelpunkt, sondern das innerste Gefüge der Welt, im Schwingen ihrer Polaritäten und zuletzt in ihrer inneren „Analogie“. — Darum schwindet, entsprechend, im selben reifen Goethe zunehmend das Pathos der „freien Persönlichkeit“ (der Aufklärung) und nimmt zu jenes Pathos von Symbol, Tradition, Ehrfurcht, Adel und Dienst, wie es die Romantik der Baader, Novalis, Görres, Adam Müller bewußt gegen die Aufklärung stellen. — Das tritt in den drei ersten Lieferungen des neuen Handbuchs fast programmatisch heraus: in den Artikeln über Goethes Alterslyrik, über die amtlichen Schriften Goethes, über die Zentralität der „Analogie“ in Goethes Weltbild (im Symbolismus seines Altersstils), über,...Goethes positive, und., negative „S.tellujig. zur Aufklarung (gesinnbildet1 in seiner Stellung zu Voltaire, dem er verwandt“ erscheint, den er aber dann doch als „Zauberer“, vor einem „Hexenkegsel“ mit „verteufeltem Schaum“ kritisiert). — Für diesen Goethe einer „goetheschen Welt“ wird dann endlich der glänzend gelungene Band der „Karten der Reisen Goethes“ wie zu einem Symbol. So amts-bedingt oder lebens-bedingt auch dieses Bild seiner Reisen erscheinen muß, so ist es doch auffallend, daß diese Reisen (mit Ausnahme der Reisen im eigentlichen Mitteldeutschland) in der Hauptsache das ganze Italien betreffen und den schlesischen und böhmischen Osten (bis in den oberschlesischen Industriebezirk hinein und bis nach Krakau und Czenstochau!) — aber niemals Norddeutschland und erst nicht den skandinavischen Norden. Könnte das nicht zusammenstimmen (wie Goethe solches Zusammenstimmen als „objektive Struktur“ sah), zusammenstimmen mit einer Art innerer „polarer Geographie“ seines Gesamtwerkes, in dem eine „geprägte Form“ (im Ideal des Südens) und eine „offene Unendlichkeit“ (als Signum des Ostens) gegeneinander bewegt erscheinen zu immer neuen Variationen, durch alles „Begreifliche“ hindurch ins letzte „Unbegreifliche“?

Es ist kein geringer Vorzug des neuen Handbuches, daß es in der Technik seiner Artikel die Kategorien des goetheschen Weltbildes herauswachsen läßt aus den Kategorien der zugehörigen Geistesgeschichte. Das ist am besten in dem Artikel über die „Aufklärung“ bei Goethe gelungen. Der wichtige Artikel über „Analogie“ bei Goethe deckt gewiß Wesentliches bei Goethe auf, bleibt aber in einer Zwielichtigkeit zwischen Analogie als „Aehnlichkeit“ und Analogie als „Rhythmus“. „Analogie“ als wahrer Zentralbegriff bei Goethe wird erst deutlich, wenn sie, einerseits, geschichtlich von der klassischen Definition des Aristoteles her als schwingende „Proportion“ zwischen zwei „Andersheiten“ genommen ist („allo pros allo“) — und wenn sie anderseits als Letztes in der goetheschen „Polarität“ gesichtet wird. * Dann wird ““str für Goethe 'zurrt Ort dessen, was der Artikel- über die „Aufklärung“ bei Goethe k\i seine gleichsam „letzte Vision“ umreißt: „in der Poesie ein gewisser Glaube an das Unmögliche, in der Religion ein ebensolcher Glaube an das Unergründliche“ (Werke I 27, 11); „es gibt ein Mysterium so gut in der Philosophie wie in der Religion“ (Wort Goethes nach Falk, Goethe aus persönlichem Umgang).

So öffnet in seinen bisher erschienenen Stücken das neue Goethe-Handbuch wirklich „Goethesche Welt“, wie sie wohl erst in einer Gegenwart gesehen werden kann, für die ein „Kult der Persönlichkeit“ zwangshaft und hierin heilshäft untergegangen ist in einen „Dienst ins Universum“.

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