6763663-1968_25_11.jpg
Digital In Arbeit

Handke und die Sprechfolterung

19451960198020002020

KASPAR. Von Peter Handke. Verlag Suhrkamp, 1968. 84 Seiten. DM 10.—.

19451960198020002020

KASPAR. Von Peter Handke. Verlag Suhrkamp, 1968. 84 Seiten. DM 10.—.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Krise der Sprache hat ihre Wurzeln in einem gestörten oder zumindest veränderten Verhältnis zur Wirklichkeit. Während aber dieses veränderte Verhältnis zur Wirklichkeit noch bei der vorhergehenden Generation von Dichtem einer Deutung unterzogen wird, sei es in der Parabolik Kafkas oder der aufs höchste angespannten Intellektuali- tät Musils, so bestimmt es heute einzig und allein das Sprachveihal- ten, dem der Sprache immanenten Wirklichkeitsgehalt nachzuspüren und dabei Keile zwischen Wort und Ding zwischen Ich und Welt zu treiben. Der Verlust der Identität des Ichs mit der Welt — eine für den Menschen des 20. Jahrhunderts grundlegende Erfahrung — muß in letzter Konsequenz zur Zerrüttung der Sprache führen. So wird die Sprache, ohne nur Medium zur Weitergabe einer bestimmten Information, einer Idee, eines Gefühls zu sein, zum wertfreien Material, dessen nahezu wissenschaftliche Überprüfung und Zersetzung zur Hauptaufgabe des Dichters.

Handke borgt sich den historischen Kaspar Hauser, der mit sechzehn Jahren als Findling auf gefunden wurde und nicht sprechen gelernt hatte, aus, um an Hand der Situation des Spračhlemenden das Auseinanderfallen von Sprache und Wirklichkeit, von vorgeformtem Sprachbild und ungeformtem Ich zu demonstrieren. Und es zeigt sich, was schon die Publikumsbeschimpfung zeigte. Handke hat eine Theaterfaust, die sich des theatralischen Effekts unkonventionell bedient in einer der klassischen Konzentration von Ort Zeit und Handlung ähnlichen Beschränkung des Ichs auf eine Umwelt weniger genau beschriebener Dinge. Die sprachliche Bewältigung dieser Dinge im Widerstreit ja fast Agon mit einer Überwelt oder besser Außenwelt ist der Inhalt des Stückes. Die Außenwelt wird vertreten von den sogenannten Ein sagern. Handke versucht nun den Prozeß des Sprechenlernens, den Prozeß der Sprechfolterung, so bezeichnet, weil der Lernende selbstverständlich die Sprache nur sozusagen zerrissen herausgelöst aus der syntaktischen und grammatikalischen als auch semantischen Einheit erfahren kann, theatralisch zu lösen. Und es scheint, daß er hier mit größerer Glaubwürdigkeit und höherem künstlerischem Einsatz das sprachliche, aber vor allem formale Problem bewältigt. Der Prozeß der Sprachzersetzung wird mit größtmöglicher Ausnützung der akustischen Möglichkeiten einer planmäßigen,, dem Grad des Verständnisses angepaßten Gestik beigeordnet,. Modellsätze, - Lehrsätze, Formeln, austauschbare Begriffe zeigen das nur mögliche Austauschbare alles dessen, was existiert. Die lehrhaften Wendungen, die Kaspar nahezu auswendig kann, die Sätze, mit denen sich ein anständiger Mensch durchs Leben schlagen kann, versagen, bleiben vordergründig. Dem „ich bin ich“ scheinbarer Sicherheit steht zum Schluß das „ich bin nur zufällig ich“ des vervielfältigten Kaspar gegenüber. Man wird wohl sagen können, daß Handke mit diesem Stück das Zeitgefühl des modernen Menschen trifft, aber auch dem Theater neue Impulse verleiht, das besonders im deutschsprachigen Raum von einer gewissen Stagnation bedroht ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung