Hannah Arendt - © Foto: dpa/A0001 Upi

Hannah Arendt: Die autonome Intellektuelle

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Ein Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, gespiegelt im Leben und Werk einer bedeutenden Persönlichkeit: Das ­Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt noch bis Oktober eine Ausstellung über Hannah Arendt – als multimediales Ereignis.

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Ein Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, gespiegelt im Leben und Werk einer bedeutenden Persönlichkeit: Das ­Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt noch bis Oktober eine Ausstellung über Hannah Arendt – als multimediales Ereignis.

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„Denken ohne Geländer“ – so lautete die Devise der Philosophin Hannah Arendt. Als leidenschaftliche Quer-denkerin bekämpfte Arendt zeit ihres Lebens die Vorstellung der Einheit. Sie ließ sich von keiner philosophischen oder politischen Ideologie beeindrucken, die ein Konzept des Einheitlichen, des Essenziellen propagierte. Als öffentliche Intellektuelle nahm sie zu unterschiedlichen Themen wie Zionismus, Antisemitismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, der Situation von Flüchtlingen, dem Eichmann-Prozess oder den Studentenprotesten von 1968 Stellung. Dabei scheute sie keine Kontroversen und beharrte auf ihrer Sichtweise der jeweiligen Phänomene.

Arendt bestand auf ihrem autonomen Denken, wie sie in einem Brief an den jüdischen Religionshistoriker und Philosophen Gershom Scholem schrieb. „Was Sie verstört, ist, [...] dass ich unabhängig bin. Damit meine ich einerseits, dass ich zu keiner Organisation gehöre und immer nur für mich selber rede, und andererseits, dass ich großes Vertrauen habe in Lessings Selbstdenken, für das meiner Meinung nach keine Ideologie, keine öffentliche Meinung und keine ‚Überzeugung‘ ein Ersatz sein kann.“

Das Deutsche Historische Museum in Berlin würdigt in einer umfassenden Ausstellung das Werk und Leben dieser streitbaren Philosophin und politischen Theoretikerin. Gezeigt wird keine Aufarbeitung von Arendts Biografie, sondern ihre Positio­nierung in der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Begleitet wird die Ausstellung von einem Katalog, in dem Arendts politische Ausführungen kommentiert werden.

Einblicke in das persönliche Leben

Die Ausstellung präsentiert sich als multimediales Ereignis. Es gibt Hörcollagen von Arendts Texten, Videoausschnitte aus dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus von 1964 und aktuelle Filminterviews mit der 2019 verstorbenen Philosophin Ágnes Heller oder dem politischen Aktivisten Daniel Cohn-Bendit. In Vitrinen sind historische Dokumente wie die Protokolle aus dem Eichmann-Prozess, Seiten aus dem „Denktagebuch“ oder private Objekte wie Arendts Pelzcape, ihr Zigarettenetui, ihre Kette aus Jadeperlen, ihre­ Edelweißbrosche oder die Minox-Kamera, mit der sie Freunde porträtierte, ausgestellt.

Ein weiteres Kapitel der Schau ist dem Netzwerk von Freundinnen und Freunden von Arendt gewidmet, zu denen so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Mary McCarthy, Anne Weil, Walter Benjamin, Günther Anders, Hans Jonas, Karl Jaspers oder Martin Heidegger zählten.

Die am 14. Oktober 1906 geborene Hannah Arendt verknüpfte in ihren Werken theoretische Erörterungen mit individuellen Lebenserfahrungen. Ihr Anspruch war es, die konkreten Probleme der Welt zu verstehen. Sie interessierte sich besonders für die gesellschaftlichen Außenseiter und Stigmatisierten.

Als jüdische Intellektuelle, die wegen der nationalsozialistischen Herrschaft in die Vereinigten Staaten emigrieren musste, wusste sie über die Lage politisch Verfolgter Bescheid. Sie erwähnte – ähnlich wie später der italienische Philosoph Giorgio Agamben – den Status des „Vogelfreien“: „Es ist die alte Vogelfreiheit, welche die Staatenlosigkeit heute über die Flüchtlinge in aller Welt verhängt [...] Es ist, als ob eine globale, durchgängig verwebte zivilisatorische Welt Barbaren aus sich selbst heraus produzierte, indem sie in einem inneren Zersetzungsprozess ungezählte Millionen von Menschen in Lebensumstände stößt, die essentiell die gleichen sind wie die wilder Volksstämme oder außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Arendt die amerikanische Staatsbürgerschaft und arbeitete als Journalistin für Zeitungen und als Verlagslektorin. 1951 erschien die Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, mit der sie inter­national bekannt wurde. Darin analysierte sie die Herrschaftsmechanismen des Nationalsozialismus und des Stalinismus. In beiden totalitären Systemen ortete sie ähnliche Verfahrensweisen. Beide stützten sich auf den Terror, der in den Vernichtungs­maschinerien des Konzentrationslagers und des Gulags kulminierte.

Neben diesen politischen Studien befasste sich Arendt mit der Stellung und Geschichte des deutschen Judentums. In dem Buch „Rahel Varnhagen. ­Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ präsentierte Arendt die Ergebnisse ihrer Forschungen in einer lockeren, nicht wissenschaftlichen Form. In einer Art Montage versammelte sie Dokumente und Zitate der Schriftstellerin, die sie in ausführlichen Passagen kommentierte. Dieses Verfahren ähnelt der Dekonstruktion zeitgenössischer feministischer Philosophinnen. Die Lebensgeschichte von Varnhagen war für Arendt das Beispiel eines komplexen Selbstfindungsprozesses einer jüdischen Intellektuellen, die sich inmitten einer patriarchalischen Welt behaupten musste.

In dieser Studie lässt sich eine doppelte Strategie Arendts verfolgen: Sie skizzierte einerseits das Leben der romantischen Schriftstellerin, zugleich beleuchtete sie die Problematik der deutsch-jüdischen Assimilation, von der sie ebenfalls betroffen war.

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