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Ideologie der Macht

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„Was Lenin wirklich sagte“ ist unwichtig, wie aus der von Franz Marek und Ernst Fischer besorgten Auswahl von Stellen aus seinen Reden, Artikeln und Büchern ziemlich klar hervorgeht. Nichts von dem Gesagten oder Geschriebenen, das nicht — oft nach wenigen Tagen — von ihm selbst widersprochen worden wäre. Daher sind die Vorwürfe, die Revisionisten und Orthodoxe einander machen, die anderen zitierten ihn „falsch“, völlig unangebracht. Lenin selbst ist es nie darauf angekommen, bleibend Richtiges auszusagen. Wenn man ihn als Theoretiker ansehen will, so war er einer des jeweils gegebenen politischen Augenblicks, der ihm immer nur diente, um Macht zu erringen oder zu bewahren und auszuüben.

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„Was Lenin wirklich sagte“ ist unwichtig, wie aus der von Franz Marek und Ernst Fischer besorgten Auswahl von Stellen aus seinen Reden, Artikeln und Büchern ziemlich klar hervorgeht. Nichts von dem Gesagten oder Geschriebenen, das nicht — oft nach wenigen Tagen — von ihm selbst widersprochen worden wäre. Daher sind die Vorwürfe, die Revisionisten und Orthodoxe einander machen, die anderen zitierten ihn „falsch“, völlig unangebracht. Lenin selbst ist es nie darauf angekommen, bleibend Richtiges auszusagen. Wenn man ihn als Theoretiker ansehen will, so war er einer des jeweils gegebenen politischen Augenblicks, der ihm immer nur diente, um Macht zu erringen oder zu bewahren und auszuüben.

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Wessen Macht? Gewißlich nicht die des Proletariates — obwohl er dies zeitweise vorgab, sich jedoch zu anderer Zeit auch darüber mokierte und offen zugab, daß „das“ Proletariat von sich aus weder seine Befreiung erreichen noch „seinen“ Staat regieren könne, ja von selber den Kommunismus gar nicht besonders wolle. Also die Macht derjenigen, welche sie zur Verwirklichung des Kommunismus zu benützen entschlossen sind. Was für eines Kommunismus? Diese Frage ist infolge der fünfzigjährigen politischen und staatlichen Praxis des Parteikommumsmus unbeantwortbar geworden. Er hat eben zur Erringung, Ausübung und Bewahrung der Macht keinen Grundsatz, dessen er sich hiezu ideologisch bediente, unverändert und unvergewaltigt gelassen. Zu dieser Vorgangsweise ist es durchaus nicht — wie manche meinen — erst durch Stalin und dessen „Deformation“ der Leninschen Prinzipien gekommen. Lenin hat selber von allem Anfang an, nicht nur seine philosophischen Vorläufer sondern auch sich selber „deformiert“, wenn er es brauchte. Just diese Haltung ist der innerste Kern einer Dialektik, die Lenin von Marx, dieser von Hegel und auch dieser von seinen Vorläufern aquiriert hat. Sicherlich fand sie durch Lenin eine besondere russische Ausprägung, deren Vater der Anarchist Netschajew war. Netschajew war ein enragierter Leugner der Bedeutung objektiver Voraussetzungen für die Erreichung politischer Ziele, eine Haltung nur verständlich in einem sozial! und politisch so rückständigen Land, wie es das zaristische Rußland war und — aufseine Weise — auch das heutige noch ist.

AU dies hätte zur Art einer der vielen Diktaturen führen können, wie sie in rückständigen Feudalstaaten im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert entstanden, etwa in der Türkei unter Kemal Pascha oder noch in Afrika, Asien und Lateinamerika, obwohl in letzteren nun doch kommunistische Einflüsse wirksam sind. Die Entstehung des Bolschewismus in Rußland kann nur durch die eigentümliche aUgemeine Entwicklung Rußlands verstanden werden. Diese war nämlich gekennzeichnet durch eine verhältnismäßig hohe Geisteskultur — etwa vom Anbeginn des 19. Jahrhunderts ab — und gleichzeitig durch einen krassen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Stillstand. Auf diese Weise war die unzufriedene russische Intelligenz zwar imstande, die revolutionären Ideen der fortgeschrittenen westlichen Länder — und somit auch die des Sozialismus aufzunehmen, mußte sich aber anderseits vor deren demokratischen und humanistischen Ausprägung verschließen.

Aus dieser seltsamen Verwobenheit mit der marxschen Theoretik kam den Bolschewisten nicht nur die Fähigkeit, sondern geradezu die Obsession zu, für jede gegebene politische Situation und der dieser von ihnen entsprochenen Maßnahmen eine eigene ideologische (oder kriminologische) Apologetik verschaffen zu müssen. Dieser Zug wird in der Fischer-Marekschen Auswahl bei Lenin ganz deutlich sichtbar. Sie wird so deutlich, daß man den beiden Autoren ihren scheinbar treuherzigen Glauben an Lenin nicht recht abnehmen kann. Kein Statement hierin, das nicht durch ein anderes überholt und widersprochen würde. Man könnte sagen, daß sich daran gerade die ganze Genialität Lenins erweist. Wahrscheinlich war Lenin ein genialer Politiker und Staatsführer. Als Ideologe hat er nicht nur sein Volk und die internationale Arbeiterbewegung, sondern auch sich selbst ständig belogen und getäuscht. Und am ideologischen und politischen Trümmerhaufen gemessen, den der Kommunismus heute nach fünfzigjähriger Existenz als Staat und Parteibewegung darstellt, erweist sich auch an dieser Kompilitation, wieviel an Talent, Genie, Opferbereitschaft, Energien und Schicksal an einen Irrglauben hingegeben werden kann.

WAS LENIN WIRKLICH SAGTE. Von Ernst Fischer und Franz Marek. Verlag Fritz Molden, Wien- München-Zürich. 192 Seiten, S 68.—.

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