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Katapult aus der Existenz

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„Ich halte jeden Menschen für voll berechtigt, auf die — von den Ingenieursgesichtern und Betriebswissenschaftern herbeigeführte — derzeitige Beschaffenheit unserer Welt mit dem schwersten Alkoholismus zu reagieren, soweit er sich nur etwas zum Saufen beschaffen kann. Sich und andere auf solche Weise zu zerstören, ist eine begreifliche und durchaus entschuldbare Reaktion. Wer nicht säuft, setzt heute schon eine beachtliche und freiwillige Mehrleistung.“

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„Ich halte jeden Menschen für voll berechtigt, auf die — von den Ingenieursgesichtern und Betriebswissenschaftern herbeigeführte — derzeitige Beschaffenheit unserer Welt mit dem schwersten Alkoholismus zu reagieren, soweit er sich nur etwas zum Saufen beschaffen kann. Sich und andere auf solche Weise zu zerstören, ist eine begreifliche und durchaus entschuldbare Reaktion. Wer nicht säuft, setzt heute schon eine beachtliche und freiwillige Mehrleistung.“

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Dieses Zitat enthält nichts mehr von der altgewohnten „Fröhlicher-Zecher“-Stimmung, sondern stellt ein Bekenntnis zum Alkoholismus im vollen Bewußtsein seiner fatalen Folgen dar. Man könnte — anknüpfend an den schwarzen Humor — von „schwarzer Heurigenstimmung“ reden.

Im ersten Moment fällt die zeitliche Einordnung schwer. Dem Inhalt nach könnte der Ausspruch von einem Supermodernen stammen, aber die Diktion ist nicht ganz „up to date“, und Alkohol als Mittel für den Zivilisationsprotest wirkt im Zeitalter des Narkotismus ein wenig altmodisch.

Tatsächlich war der Mann, der 1966 dieses rabiate Bekenntnis niederschrieb, alles andere als ein Hippie oder APO-Aktivist, sondern vielmehr — in jungrevolutionärer Sicht — ein Repräsentant des literarischen Establishments: Es handelt sich um den vor kurzem verstorbenen Grand Old Man der österreichischen Gegenwartsliteratur, um Heimito von Do-derer. Gar so etabliert — also satt und selbstzufrieden — waren eben auch die früheren Generationen nicht. Denken wir daran, daß Dode-rer jahrgangsmäßig der „verlorenen Generation“ der Zwischenkriegszeit angehört, die keineswegs aus zahmen Ja-Sagern bestand und deren Vertreter auch im vorgerückten Alter selten zu Konformisten wurden.

Wenn also Doderer — in vieler Hinsicht ein Gegenpol der heutigen Avantgarde — in seinem posthum veröffentlichten „Repertorium“ einen so modernistischen Satz formuliert, so zeigt dies, daß sein Empfinden bis ins Alter für Zeitströmungen aufnahmefähig geblieben ist, und daß die Fehler unserer Zivilisation und des „Systems“ gar nicht erst von der Jugend der Gegenwart entdeckt werden mußten. Was heute zum ideellen Massenartikel wird, war den Intellektuellen und Sensiblen schon längst bekannt.

Was uns an Doderers Ausspruch so modern anmutet, ist der Protest durch Selbstentwürdigung, ja Selbstzerstörung. Das „epater le bourgeois“ soll nicht nur in Form von Attacken auf Konventionen und Institutionen erfolgen, sondern auch dadurch, daß sich der Bürgerschreck selbst verächtlich macht oder vernichtet, aber dies auf demonstrative Weise tut und damit den Bourgeois aus seiner falschen Sicherheit und Würde herauslockt.

Um dieses Ziel zu erreichen, ist dem Protestierer jedes Mittel recht, das den Menschen enthemmt, ihn veranlaßt, auf die „guten Manieren“ zu pfeifen, sich so zu geben, wie er „wirklich“ ist. „In vino veritas“ behauptete bereits Alkäus. Ist — in Erweiterung dieser These — der durch Alkohol oder Opiate von allen Zwängen befreite Mensch tatsächlich „echter“, „natürlicher“? Bleibt, wenn man die Tünche vom Menschen wegkratzt, wirklich nur der „nackte Affe“ — wie er in Desmond Morris' Bestseller genannt wird — übrig?

Dieser Literaturhinweis bringt uns auf die Fährte der eigentlichen Absichten bei der großen Schockaktion: Es geht um die Rückführung des Menschen auf das Kreatürliche, das Animalische, um seine Einbeziehung in die Tierwelt. Wie in der Gesellschaft, laut Marx, lediglich das ökonomische „wahr“ ist, alles andere dagegen nur den Überbau zur Besitz-und Machtsicherung darstellt, so erachten die Sozialpsychologen modernster Prägung beim Individuum nur die Triebe als echt, alles andere jedoch als Überbau, der den Menschen sich selbst entfremde und die eigentliche Ursache der sozialen und politischen Fehlentwicklung sei.

Als eines der wichtigsten Mittel dieser Selbstentfremdung gilt aber die Würde, die nichts als die Fiktion einer Achtbarkeit auf der Basis eines widernatürlichen Wertekatalogs sei und dem Menschen den Zugang zu sich selbst verstopfe. Würde sei der Konditionalfall von Sein, polemisierte schon Karl Kraus, wie immer von der Sprache her entlarvend. Meinte er aber noch in erster Linie die Würde der „Würdenträger“, so zielt die moderne Würde-feindlichkeit ganz allgemein auf die Menschenwürde ab: Der Widerstreit von Existenz und Zivilisation — der sich letzten Endes schon von Rousseau, ja sogar von Montaigne herleitet — wird nunmehr zur fixen Idee.

Von allen Seiten her werden scharfe Attacken auf die Würde geritten: Die Wissenschaft zeigt mit Vorliebe Parallelen zwischen menschlichem und tierischem Verhalten auf und leitet die feierlichsten Akte aus animalischen Instinkthandlungen ab. In der „Praxis“ wird mit Hilfe von Alkoholismus und Narkotismus zum natürlichen Menschen „zurückgefunden“. Bis hinein in die Mode herrscht der Drang zum Lächerlichmachen der Würde: Ist es nicht einer der heimtückischesten Nebeneffekte der Mini-Kleidung — also der Übertragung des Kinderkleidchen auf Erwachsene aller Altersstufen — daß durch sie die ältere Frau zur komischen Figur gemacht, die Matrone ihrer Würde entkleidet, sie als bloßes Degenerationsprodukt des jungen Mädchens „entlarvt“ wird?

Wir sehen uns einem seltsamen Paradoxon gegenüber: Im Namen der Menschenwürde ist die revolutionäre Bewegung Europas und Amerikais einst angetreten. Die Abschaffung der gleichen Menschenwürde ist heute ihr revolutionäres Ziel geworden.

Aber nicht allein um die Entwürdigung geht es, sondern auch um die Zerstörung. Die Sentenz Doderers sagt es unverblümt aus: Es geht darum, sich und andere zu zerstören, um damit gegen die Welt der Ingenieure und Betriebswissenschafter zu protestieren und sich selbst nebenbei noch auf möglichst angenehme Weise aus dieser Existenz herauszukatapultieren. Also ein Maschinensturm mit neuen Vorzeichen. Hier wird — und so auch bei den ehrlicheren unter den modernen Drogenanhängern — die Selbstzerstörung durch das Suchtgift offen einkalkuliert, zugleich aber auch aus dem Zustand dieser Welt das „moralische“ Recht auf solches Tun abgeleitet. Das Leben ist nicht wert, gelebt zu werden. Das einzig Sinnvolle ist es daher, auf möglichst genußvolle Art abzuwirtschaften. Ein wahrer Kult der Passivität und des Negativismus entwickelt sich. Der Protest verlagert sich vom Sozialen ins Metaphysische. Die Hippies in gewissen Kommunen zwischen Amerika und Indien — dem Traumland aller „Blumenkinder“ —, die unter grauenhaften sanitären Verhältnissen und unter fast permanentem Drogeneinfluß dahinvegetieren, demonstrieren eigentlich nicht mehr gegen die Gesellschaft, sondern gegen die Welt schlechthin. Ihre bösartigste Form nimmt die Selbstzerstörungsmanie im Selbstmord an. Inmitten der Wohlstandswelt vermehren sich die Selbstmordfälle, wobei — soweit feststellbar — immer seltener soziale und ökonomische, dagegen immer häufiger existentielle Motive entscheidend sind. Der Weltekel, von Sartre schon vor mehr als dreißig Jahren als entscheidender Impuls des modernen Lebens aufgedeckt, nimmt epidemische Formen an.

Die spektakulärste und grausamste Variante des Selbstmords, die heute ausgesprochen „in Mode“ gekommen ist, stellt die Selbstverbrennung dar. Diese alte Form des Selbstopfers im Bereich weWeindlicher Religionen wurde von den buddhistischen Mönchen Vietnams als politischer Protest reaktiviert und griff in den Tagen der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Warschauer-Pakt-Truppen auch auf Europa über. Der Student Jan Palach wurde dort dank seinem freiwilligen Flammentod aus Protest gegen die Vergewaltigung seiner Heimat zum neuen Nationalheros. Er fand Nachahmer — in seiner Heimat wie auch in anderen Gebieten Ost- und Westeuropas —, wobei die politische Motivierung immer fadenscheiniger und schließlich ganz fallengelassen wurde. Erst im Jänner dieses Jahres flammte diese Manie — im wahrsten Sinne des Wortes — neuerlich auf, und eine Selbstverbrennungsserie suchte Frankreich heim.

Einer der erschütterndsten Aspekte dieser besonders grausamen Form des Selbstmords ist die Degeneration der Motive. Die anfangs transzendentale Bedeutung im Buddhismus — Ausbruch aus dem Kreislauf der ewigen Wiederkehr — sank zur politischen Demonstration ab, um schließlich in der totalen Sinnlosigkeit zu enden: Menschen bereiten sich selbst in einer seltsamen Mischung von masochistischen und herostratischen Neigungen einen qualvollen Tod. Entsetzliche Schmerzen aus Eitelkeit — um zur Schlagzeile in der internationalen Presse zu werden! Der Selbstmord der bürgerlichen Epoche — die Überdosis Schlaftabletten oder der aufgedrehte Gashahn — nimmt sich daneben wie eine Biedermeieridylle aus. Hinter alldem steht in erschreckender Weise der Verlust einer Sinngebung für das Leben, der Fortfall eines transzendenten Bezugspunktes. Der Mensch, der — wie Sartres Orest — begriffen hat, daß er frei ist, wird durch diese Befreiung aus der Vormundschaft Gottes nicht erlöst, sondern nur schwindlig angesichts der unendlichen Leere. Der Mensch von heute verleidet sich alle kulturellen Werte und Lebensziele, indem er sich selbst zum Tier degradiert — aber er ist nicht imstande, in die Unbewußtheit und Problemlo-sigkeit des Tieres zurückzukehren.

Der Protest gegen eine Welt der „Ingenieursgesichter und Betriebswissenschafter“ kann zweifellos gerechtfertigt werden. Aber ist Selbstzerstörung der einzige Ausweg aus vier Jahrtausenden wissenschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts? Sind außerdem die von der revolutionären Jugend propagierten Lebensformen überhaupt ein Ausweg oder führen sie nicht erst recht in die Selbstvernichtung hinein? Ist diese am Ende das letzte Ziel der Zivilisation? Der Ausbruch aus dem Circulus vitiosus, in den wir geraten sind, wird nicht leichtfallen — selbst wenn wir uns tatsächlich ernstlich zu einem Versuch entschließen sollten.

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