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Katholische Sozialpolitik am Scheidewege

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Mit sichtlicher Freude an der Problematik, mit Mut und Originalität unterzieht Professor Dobretsberger in seinem soeben unter dem Titel „Katholische Sozialpolitik am Scheidewege“ erschienenen Buch * die geistigen Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung einer kritischen Übersicht. Ausgehend von den Soziallehren der ersten Christenzeit, spannt er den Bogen seiner Betrachtungen bis in unsere Tage. In reicher Gedankenfülle, von häufig wechselnden Beobachtungspunkten aus und mit einer sehr eigenwilligen Pinselführung und Farben-gebung entwirft Dobretsberger eine Skizze, als deren zentrales Motiv sich das Verhältnis von Christentum und Sozialismus darstellt.

Der Verfasser unterscheidet drei grund-typiische Haltungen des Christentums der Welt gegenüber: Weltflucht, Weltdurchdringung, Verweltlichung und sieht jede dieser Grundtypen fortwirkend auch in den katholischen Soziallehren der Gegenwart.

* Verlag Ulrich Moser, Graz. 160 Seiten. Preis S 6.—.

Die Weltfluchthaltung der ersten Jahrhunderte christlicher Geschichte war bedingt durch die Abwehrstellung der Kirche einem übermächtigen Staatskoloß gegenüber. In der Abgrenzung gegenüber der damaligen Welt beschleunigte die Kirche ihre innere Konsolidierung. Mit beginnendem Mittelalter sah sie sich jedoch veranlaßt, in ein kulturelles Vakuum einzutreten. Sie fühlte sich nunmehr stark genug, die Gesellschaftsordnung mit den Elementen ihrer Ethik aktiv zu durchdringen. Das zweite nachchristliche Jahrtausend brachte neue Lehren und neue Wirtschaftsformen. Es löste die Kräfte aus, die allmählich zu einer gewaltigen Entfaltung auch der materiellen Lebensbereiche und Hand in Hand damit zu einer' zunehmenden Säkularisierung des Denkens führten. Dobretsberger sieht in der Säkularisierung der Gesinnungsethik Kalvins einen der entscheidendsten Ansatzpunkte für die geistesgeschichtliche Entwicklung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Locke, Rousseau, Grotius, der Merkantilismus, ja sogar Smiths liberale Wirtschaftslehre seien Ausläufer kaivinistischer Denkart.

Die Auseinandersetzungen mit verschiedenen Geistesrichtungen gaben auch den Meinungsäußerungen der Kirche im Laufe ihrer Geschichte ihr besonderes Gepräge. Wir haben den Eindruck, daß Dobretsberger, der selbst immer wieder die Kinder der Kirche auch als Kinder ihrer Zeit und ihrer Umwelt versteht, dennoch die Kontinuität der fundamentalen Lehren der Kirche unterschätzt. In seinem Bestreben, zwischen den beiden beherrschenden geistigen Mächten der Gegenwart einen Ausgleich zu finden, verschieben sich für ihn auch in der Retrospektive die Grenzen zwischen dem Prinzip und der zeitbedingten Erscheinungsform desselben. Es ergibt sich so manchmal ein verwirrendes Bild, das den Verlauf der geistigen Fronten nicht immer mit eindeutiger Klarheit erkennen läßt.

Die Ablehnung des Frühkapitalismus durch den Katholizismus sieht Dobretsberger im Wesen christlichen Denkens begründet, so daß er zu der Formulierung gelangt: „Das christliche Ethos als Ganres steht im Widerspruch zur kapitalistischen Welt.“ Im einzelnen unterstreicht Dobretsberger die Entpersönlichung der Arbeit, die Ablehnung des arbeitslosen Einkommens, des freien Wettbewerbs, die die Einstellung der Kirche gegenüber dem Frühkapitalismus charakterisiert haben. Der Kampf des Katholizismus sei ein Teilgefecht in dem zwei Jahrhunderte währenden Verteidigungskrieg der Kirche gegen die Säkularisierung des Denkens und Lebens gewesen. Die Lehren des Katholizismus seien kapitalismusfeindlich. In der praktischen Haltung hätten die Katholiken jedoch mit diesem Wirtschaftssystem Kompromisse geschlossen. Der Verfasser glaubt mit einem Hinweis auf Österreich von einer „Notgemeinschaft“ zwischen Katholiken und Bürgertum sprechen zu können. Mit dieser grundsätzlich ablehnenden, praktisch jedoch kompromißbereiten Haltung der katholischen Welt gegenüber dem Kapitalismus und dem die gegliederte und gewachsene Gesellschaftsordnung in eine Summe von Einzelwesen auflösenden Individualismus verbindet sich — wir bieten weiter Auffassung und Darstellung des Verfassers — die Zuneigung der Kirche zum berufsständischen Ordnungsprinzip der Gesellschaft. Es sei dies die Übertragung mittelalterlicher Gesellschaftsformen in die Gegenwart, zu der die Kirche in ihrer Abwehr gegen die verweltlichende, traditionelle Bindungen auflösende Wirkimg liberal-kapitalistischen Denkens greife. Sie fände dabei in einer Zeit, in der die Entwicklung über den Kapitalismus hinwegzuschreiten sich anschickt, die Bundesgenos-senchaft aller Kräfte, die sich gegen das Neue zur Wehr setzen. Die zahlreichen Bemühungen, die sozialökonomischen Gegebenheiten des 19. und 20. Jahrhunderts aus christlichem Denken zu erfassen und zu gestalten, die Dobretsberger im vierten Kapitel seine Buches schildert, haben „von links bis rechts“ mannigfaltige Ansätze, aber keine überzeugende, konstruktive Lösung gebracht. Der Autor sieht diese Lösung nur in der Synthese von christlicher Sozialethik mit planwirtschaftlichen Gesellschaftsformen. Er betrachtet Planwirtschaft sozialethisch eher als einen Fortschritt, denn als ein Hindernis und zeigt sich seinerseits nun in dieser Richtung mehr als nötig zu Kompromissen bereit.

Wir können in diesem Rahmen nur kurz auf die Argumentationen DobretsbTgers eingehen. Im fünften Kapitel seines Buches zeigt er „neue Ansatzpunkte“ für eine christliche Sozialpolitik auf. Das Eigentumsrecht ist durch „Sozialservituten“ weitgehend aufgelöst. Eine natürliche Entwicklung wirkt in Richtung auf das gebundene Eigentum, das innerhalb der extremen Grenzfälle, totaler Liberalismus und totaler Kommunismus, durch die katholische Eigentumslehre gedeckt sei. Die qualitative Beschränkung des Eigentumsrechtes könne nicht durch eine quantitative Begrenzung des Eigentums ersetzt werden, die die Kirche in ihrer Vorliebe für den Kleinbesitz versuche. Der „Angst vor dem Staat“, deren Berechtigung Dobretsberger grundsätzlich gelten läßt, stellt er die Notwendigkeit einer beherrschenden Ingerenz des Staates au* die Wirtschaft entgegen und meint, die Gefahr des totalen Staates schon durch die verfassungsmäßige Sicherung der persönlichen Freiheitsrechte bannen zu können. „Unverdiente Einkommen“ könnten durch die totale

Gewinnabführung der staatlichen Planwirtschaft ausgeschaltet werden, die keineswegs der christlichen Sozialethik widerspräche Dobretsberger scheint in diesem Punkte den Umfang unverdienter Einkommen weit zu überschätzen, was ihn dazu führt, das Kind mit dem Bade ausgießen zu wollen. Mit Recht erkennt er aber das menschlich unbefriedigende Arbeitsverhältnis als einen der entscheidenden Mängel des kapitalistischen Systems. Ob dieser durch ein planwirtschaftliches System behoben werden kann, ist nach allen bisherigen Erfahrungen allerdings zum mindesten zweifelhaft.

Zusammenfassend ist zu sagen, daß Dobretsberger mit kühnem Griff eine scharfe Kritik der geltenden Gesellschaftsordnung mit dem Bekenntnis zur Liebe als dem tiefsten und leuchtendsten Gehalt des christlichen Sozialethos und dem Glauben an die konstruktive Kraft planwirtschaftlicher Lebensformen verbindet. Es will uns jedoch scheinen, daß er in entscheidenden Punkten seiner Betrachtungen die prinzipiellen Grenzen christlicher Lebensauffassung und Geisteshaltung übersieht.

Wenn auch einzelne Katholiken vom Wege abwichen und der politische Katholizismus Kompromisse schloß, wenn es auch an den Lehren des Sozialismus deutlich sichtbar ist, daß er aus dem Boden gewachsen ist, in dem christliches Denken seit Jahrtausenden seine Furchen zog und seinen Samen legte, so ist doch die Stellung der Kirche im Wandel der Zeiten unverrückbar durch ihr Welt- und Menschenbild bestimmt. Es war und ist Aufgabe der Kirche, die souveräne, sittliche, soziale, durch das Gott-Mensch-Verhältnis geadelte Persönlichkeit gegen alle Anfechtungen ihrer sozialen Funktion wie ihres Persönlichkeitsbereiches in Schutz zu nehmen. Daher wandte sich der Katholizismus gegen die ökonomisierung der menschlichen Beziehungen durch den Kapitalismus. Daher hält er der Atomisierung und Mechanisierung der Gesellschaft immer wieder deren Gliederung in natürliche Gemeinschaften entgegen, deren eine gerade bei fortschreitender Arbeitsteilung die Berufsgemeinschaft ist. (Wir sehen ja auch heute, wie die Berufsgemeinschaften durch Gewerkschaften,

Kammern, gertossenschaf tliche Zusammenschlüsse und ähnlichem neben den Gesinnungsgemeinschaften Geltung haben.) In seinem wadien Empfinden für die Gefahr der Spannungen zwischen Ordnung und Freiheit stärkt der Katholizismus die soziale und sittliche Verantwortlichkeit der Menschen, um die Notwendigkeit äußeren

Zwanges immer wieder an der Wirksamkeit innerer Disziplin zerschellen zu lassen. Daher auch die ständige Wachsamkeit der Kirche gegenüber allen im Grunde materialistischen Geistesrichtungen und Systemen, die die Persönlichkeit zu vernichten oder zu versklaven drohen.

Niemand wird seine Augen vor den Nöten dieser Zeit, vor den Mängeln absinkender Systeme oder vor eigenen Fehlern verschließen. Es ist die hohe Bedeutung des uns vorliegenden Buches, daß es mit harter Realistik Probleme aufgreift, die für uns alle von entscheidender und zentraler Bedeutung sind, daß es auf eine gewisse innere Verwandtschaft christlicher und sozialistischer Geisteshaltung hinweist, daß es ein Gespräch eröffnet, das Klärung und konstruktive Lösungen bringen muß. Die Eröffnung dieses Gespräches werden auch jene begrüßen, die die Folgerungen nicht bejahen, die Dobretsberger vorwegnimmt. Je offener und rückhaltloser über diese Dinge gesprochen wird, um so rascher werden die Schlagworte zerfließen, um so deutlicher wird das Gemeinsame empfunden und das Trennende als Teil jener reichen Vielfalt geistigen Lebens erkannt werden, deren Aufgehen in irgendeiner Uniformität das Ende abendländischen Denkens bedeuten würde.

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