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Kein Koalitionspakt

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, MEHR ALS SOLL UND HABEN. „Mater et Magistrą” in marktwirtschaftlicher Sicht. Von . Roland N i t s c h e. Herder-Verlag, Wien. 234 Seiten. Preis 78 S.

Die kirchliche Interpretation der ökonomischen Vorgänge und die Reflexionen des Liberalismus wie auch des Sozialismus angesichts der Wirkungen der modernen ökonomischen Prozesse nähern sich offenkundig an. Liberalismus und Sozialismus-Marxismus haben weithin ihren unheilvollen Utopismus hinsichtlich der Natur des Menschen aufgegeben, die Annahme nämlich, daß es so etwas wie eine Selbstheilung in der Wirtschaft und in der Gesellschaft, eine prästabilisierte Harmonie gebe, sei es aus der Natur des Marktprozesses (Liberalismus) oder aus den Eigenkräften der Gesellschaft heraus (Marxismus), welche über das geradezu natumot- wendige Absterben des Institutes des Privateigentums eine klassenlose soziale Ordnung entstehen lasse, mit einem sozial sündenlosen und in seinen mitmenschlichen Kontakten geradezu perfektionistischen Menschen.

Auf der anderen Seite erweist sich die Kirche in der Interpretation der ökonomischen Tatsachen von einer erstaunlichen Wirklichkeitsnahe. Viele der Leerformeln, die auch in den ersten sozial belangreichen Enzykliken zu finden waren, wurden in der Zwischenzeit.

Das vorliegende Buch von Roland Nitsche, einem Publizisten, welcher der Vereinigung österreichischer Industrieller nahesteht, ist jedenfalls ein Beweis dafür, daß liberale Weltdeutung und kirchliche Soziallehre in vielen Bereichen bereits aufeinander abgestimmt sind.

Die Konfrontation der modernen Marktwirtschaft mit den Gedankengängen der katholischen Soziallehre erfolgt nach Nitsche im „Bereich des Rationalen” (S. 12), also nicht auf der Ebene kategorialer Dispute. Die Quelle der Vernunft ist das Naturrecht. Wenn nun der Mensch ein Vernunftwesen ist, muß, was gegen die Vernunft verstößt, den Menschen in seiner Würde verletzen. Prüft die Kirche, ausgehend vom Naturrecht (das heißt mit Vernunft), die Marktwirtschaft, hat sie also festzustellen, wie weit diese eine vernünftige Wirtschaftsordnung ist und eine der Natur des Menschen angemessene Ordnung zu sichern vermag. Dieser Prüfung kann der moderne Liberalismus zustimmen, weiß er sich doch heute frei von jenem „ruchlosen Optimismus” (S. 13), der an eine vorweg gesicherte Ordnung in der Wirtschaft zu glauben vermochte. Der Liberalismus erfährt nun, daß der Katalog der religiösen Werte nicht das Dargebot gestriger Prinzipien ist, überholt durch die Erkenntnisse der Wissenschaft, sondern eine der menschlichen Natur gemäße: geistig-sittliche Heimat.

(S. 15), Öfi nątjųiTęčfitliėh begründetes eigenartiges „Reich der Vernunft”.

Im vorliegenden Buch unternimmt es nun der Autor, die Grundgedan-

ken der Enzyklika „Mater et Magistrą” (der „päpstlichen Gesellschaftslehre”) den Prinzipien eines modernen Liberalismus gegenüberzustellen. Er entdeckt eine erstaunliche Entsprechung.

Was Nitsche aber tatsächlich festzuhalten vermag, ist keineswegs die volle Identität der kirchlichen Soziallehren (die doch nichts anderes sein können als ethische Interpretationen im Bereich der sozialökonomischen Tatsachen) mit dem, was er einem marktwirtschaftlichen Denken zuordnet, sondern lediglich die Abstimmung einzelner Teile der letzten Sozialenzyklika mit marktwirtschaftlichen literarischen Thesen. Wo aber Autoren (etwa P. Naw- roth OP) marktwirtschaftliche Theorien ablehnen, wird von einem Rigorismus gesprochen. Die Marktwirtschaft selbst wird nicht in der Fülle ihrer Wirklichkeitsdarstellungen als Vergleichsobjekt genommen, sondern nur, soweit sie sich literarisch darbietet. Dadurch, daß Enzykliken aber weniger auf literarische Zeugnisse bezug nehmen, sondern auf pastoral relevante Fakten, die sich zu einem globalen Verhalten und zu gesellschaftlichen Prozessen integrieren, kann eine Enzyklika weder für noch gegen die Literatur profaner Theorien als Dokument dienen.

Der gelehrte Verfasser verfügt über ganz außerordentliche Literaturkenntnisse, die er durchaus selbständig zu transformieren vermag. Er scheut sich auch nicht, die Fehler des Liberalismus herauszustellen, vor allem seine Fehldeutung der Wirklichkeit menschlicher Natur. Anderseits vermag er in einem Selektionsprozeß nur jene Teile der Enzyklika und der einschlägigen katholischen Literatur zum Gegenstand seiner Konfrontation zu machen, in denen er keinen Widerspruch zu seinen Thesen findet. Daß es eine Bandbreite legitimer Meinung im katholischen Bereich gibt, Konservative und „Fortschrittliche”, „Linke” und „Rechte”, will er nicht zur Kenntnis nehmen, weil er davon ausgeht, daß es eben nur eine Vernunft geben kann und katholische Weitsicht nur dann legitim ist, wenn sie von dieser einen Vernunft aus die Dinge deutet. Da er aber den Liberalismus als durchaus vernünftig versteht, ist (logisch) kirchliche Lehrmeinung, insoweit sie vernünftig ist, auch den liberalen Gedankengängen entsprechend.

Das Werk von Nitsche ist, so sehr man einzelne Folgerungen ablehnen muß, ein Beweis dafür, daß die Enzyklika einer ernsthaften Prüfung durch die Wirtschaftswissenschaften standzuhalten vermag. Dagegen muß jeder Versuch einer Gruppe, sie mag links oder rechts stehen, ein Konzept der Marktwirtschaft oder der Zentralverwaltungswirtschaft vertreten, die Enzyklika für sich zu beanspruchen, nachdrücklich abgelehnt werden. Das Wesen einer Enzyklika ist nicht darin gelegen, eine profane politische Gruppe zu rechtfertigen. Von dieser Annahme ausgehen, heißt die Enzykliken in einer unzumutbaren Weise strapazieren. Was eine Enzyklika tun kann, ist nicht mehr als „Winke” geben, unter gleichzeitiger und praktikabler Interpretation des Sittengesetzes. Die Ver- politisierung einer pastoralen Dokumentation ist uns (denken wir an „Quadragesimo anno” und das ständestaatliche Konzept) noch in unguter Erinnerung.

Also: Größte Reverenz vor der geistreichen Untersuchung des Verfassers, die von einer außerordentlichen Qualität ist. Anderseits muß man mit Nachdruck dagegen Stellung nehmen, wenn der Autor eine Art „Koalitionspakt” vorschlägt, derart, daß der Liberalismus als sachkundiger wirtschaftlicher Wegweiser sich der Kirche zur Verfügung stellt und diese die jeweilige moralische Interpretation bietet. Wenn Nitsche in der Kirche eine „westliche” Kraft sieht, dann mag er im Sinn des Kardinals Ottaviani (der noch auf eine Gesetzes- und Richterkirche fixiert ist) ein praktikables Anbot machen. Die Kirche ist aber kein Instrument westlicher (profaner) Politik. Ihre Aufgabe ist es auch nicht in erster Linie, im Kampf „gegen den Feind unserer Zeit” eingesetzt zu werden, sondern das Evangelium in jeder Situation zu verkünden, Christen, Heiden, Liberalen bürgerlicher Denkweise und Liberalen in der Schauweise des Marxismus, nicht „Feinden”, sondern den Menschen; allen. Die Anwendung der Kategorien profaner Denkweise auf die Beziehung von Kirche und Liberalismus ist jedenfalls eine Zumutung gegenüber der Kirche, der sich diese, die zuerst Seelsorgekirche, eine „moralische Anstalt” ist, entziehen muß.

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