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Kein zeitgeistiges Feigenblatt

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Nicht Selbstzweck ist Toleranz, sondern Tugend der Mitmenschlichkeit, Ausdruck und Bedingung der Würde und Freiheit des Menschen.

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Nicht Selbstzweck ist Toleranz, sondern Tugend der Mitmenschlichkeit, Ausdruck und Bedingung der Würde und Freiheit des Menschen.

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Ein Jahr der Toleranz? Wer hat davon gehört? Toleranz kommt immer dann ins Gerede, wenn sie durch eklatantes, notorisches, öffentlichwirksames Fehlverhalten verletzt wird, das heißt über Toleranz wird in der Regel nicht nachgedacht oder räsoniert, sondern sie ist vorhanden oder nicht vorhanden, wird „ausgeübt” oder nicht ausgeübt, jedenfalls wird sie oftmals erst in ihrer Abwesenheit, im Nicht-Vorhandensein oder ihrer Verletzung bewußt. Wer oder was wird „toleriert”, erduldet oder ertragen?

Wer ist das „Subjekt”, der Träger solchen „Duldens”? Klingt da nicht ein allzu bekanntes Wort nach, es sei „die Liebe, die alles erträgt, niemals aufhört” (hier wird allerdings das lateinische sufferre und nicht tolerare umschrieben) und sich nicht zuletzt deshalb „an der Wahrheit erfreut”? Paulus spricht davon im ersten Ko-rintherbrief (13,7 f.) in der Rangordnung der Geistesgaben in unübertroffener Einfachheit. Erweist sich nicht gegenüber der biblischen Unterweisung all unser Bewußtsein von Toleranz als sehr diffus, abkünftig und im Grunde als Abfall von der möglichen Tiefe dessen, was hier ursprünglich angelegt ist und was demgegenüber in einem modernen „Begriff” der Toleranz verpackt ist -die Haltung der Toleranz als Tugend ist nur eine von mehreren Facetten, freilich die am unmittelbarsten zugängliche.

Die Toleranzidee ist im christlichen Abendland untrennbar und von Anfang mit der Problematik der Religionsfreiheit verbunden. Aber gerade das „konfessionelle Zeitalter” (Reformation, Jahrhundert der Religionskriege) brachte den Durch-brach zu einer säkularen Begründung von Toleranz, die nicht mehr auf der wechselseitigen und durch den Staat geschützten Duldung von Religionen basierte, sondern auf dem Gedanken der Autonomie von Staat und Religion.

Nicht nur, aber doch wesentlich wurde in der sogenannten „Aufklärung” des 17./18. Jahrhunderts die Idee der Toleranz aus dem Kontext des Zusammenlebens verschiedenster Konfessionen herausgeführt, gleichsam universalisiert und zu einem Prinzip des gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und sozialen Miteinanderlebens, das dann auch in die Überzeugung, in die persönliche Haltung, aber auch und vor allem in die Rechtssphäre Eingang finden mußte.

Heute sprechen wir von aktiven und passiven, von schwächeren und stärkeren Formen der Toleranz, aber niemand wird sie ernsthaft in Frage stellen - für Toleranz spricht schon ein „aufgeklärtes Selbstinteresse”, das heißt ich muß fordern, daß dieselbe Haltung, die ich dem Anderen, Fremden entgegenbringe auch mir gegenüber an den Tag gelegt werde.

In solchem „Selbstinteresse” tritt Toleranz vor allem als Grundhaltung in Erscheinung, die anderen gegenüber gewährt oder ausgeübt wird. Über diese Haltung verfügt, wer die Selbstbestimmung, das Lebensrecht, den Entfaltungswillen und die Freiheit der Andersdenkenden - genauer muß es wohl heißen: derer, die auch anders sind - nicht bloß als notwendiges, nicht zu vermeidendes Übel hinnimmt, sondern auch bejaht.

Nun kann von einem „anderen”

erst dann die Rede sein, wenn jemand auch eigene Überzeugungen hat und von einer Anerkennung nur dort, wo weder Gleichgültigkeit noch ein zynischer Nihilismus alles gleichmacht und auch gleiches Unrecht gelten läßt. Toleranz kann daher nicht als „zeitgeistig-liberales” Feigenblatt dienen, hinter dem sich moralische Indifferenz und intellektuelle Schwäche verbergen. Nur in kritischer Selbständigkeit kann in Konkurrenz- und Konfliktsituationen die notwendige Auseinandersetzung nicht mit der unerbittlichen Schärfe des Glaubenskrieges geführt werden.

Nur wer tolerant ist, braucht nicht länger ein Leben auf Selbstbehauptung durch mehr oder weniger gewaltsame Bekehrung oder durch „Überwindung” des Gegners anlegen. Er wird bemüht sein um ein Miteinander auf der Grandlage von Ebenbürtigkeit, wozu die Fähigkeiten des Zuhörenkönnens, des Eingehens auf den anderen und des Ernstnehmens gehören, ferner die Bereitschaft, das Neue nicht auf das Alte zu reduzieren, sondern sich durch neue „Gelegenheiten” belehren zu lassen. Einen Höhepunkt an Toleranz als Tugend würde wohl die Bereitschaft darstellen, sich in die Anschauung und Lebensweise des anderen einzufühlen.

Toleranz ist nicht Selbstzweck, sondern ist Ausdruck und Bedingung der Freiheit und Würde des Menschen - demgemäß endet Toleranz dort, wo diese Freiheit und Würde verletzt werden. Wie der Pluralismus gründet auch die Toleranz in

der Einsicht, daß niemand schlechthin fehlerfrei ist, ferner im Wissen um die endliche („perspektivische”) Befangenheit jeder konkreten Selbstverwirklichung sowie in der Einsicht in die Grenzen menschlicher (Selbst-)Erkenntnis. Vor allem aber gründet Toleranz - und in diesem Motiv übergreift sie alle anderen Begründungen - in der Anerkennung des anderen als einer freien und ebenbürtigen Person, die aufgrund unverletzlicher Menschenwürde das Recht zu eigener Überzeugung und eigener Lebensform hat, vorausgesetzt, daß nicht dasselbe Recht aller anderen beeinträchtigt wird.

Ein „Zivilisationsprinzip”

Spätestens mit diesem Motiv wird aber Toleranz als Haltung der Tugend überschritten und zu einem Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens, zu einem „Zivilisationsprinzip”. Da der moderne Toleranzgedanke in der Freiheit und Gerechtigkeit begründet ist, kann sie nicht dem Belieben des einzelnen, sozusagen dem privaten „good will” anheimgestellt werden, der womöglich appellativ einzumahnen ist -oder auch, was ja nur die Kehrseite der Medaille wäre, politischen Gewalten überlassen bleiben. Beide Extreme würden ein über die Jahrhunderte errungenes Menschenrecht ernsthaft in Frage stellen.

Die erste Aufgabe der Toleranz als Rechts- und Staatsprinzip liegt daher in der Garantie der positiv-rechtlichen Achtung der Menschenrechte.

Das aber ist eine relativ schwache, sozusagen die Minimalform von Toleranz, die stärkere bis zur Maximalform gewährleistet ein Zusammenleben der Menschen aus freier Achtung, in der die Rechtspflicht aus eigenem Antrieb anerkannt und durch fortgesetzte Ausübung zu einem Bestandteil der Persönlichkeit, eben zur Haltung der Toleranz wird.

Die mit der Religionsfreiheit begonnene und eroberte Haltung der Toleranz vollendet sich erst dort, wo die Fülle persönlicher und geschichtlich-gesellschaftlicher Selbstverwirklichung als Aufgabe und Chance kreativer Humanität erkannt und frei anerkannt wird. So wie die Toleranz einen Freiraum der Selbstverwirklichung eröffnet, genausowenig darf sie auf Kosten der Selbstachtung gehen, wenn die Freiheit des eigenen Gewissens zu wahren ist:

Das Grundprinzip jedes Rechts, nämlich die Wechselseitigkeit, gilt umsomehr, wenn es um Freiheit geht. Prüfsteine der Toleranz werden immer Situationen sein, in denen trotz gegenteiliger Auffassungen gemeinsam gehandelt werden muß. Als Tugend der Mitmenschlichkeit ist sie dann gefragt, zwischen dem Beharren auf scheinbar „unverrückbaren” Prinzipien und einer lar-moyanten Indifferenz. Insofern dürften grundsätzliche Überlegungen zu diesem Thema niemals inaktuell, sondern gesellschaftlich und kirchlich durchaus angebracht sein.

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