vr - © Foto: iStock / HT Ganzo

KI und ChatGPT: Was ist wirklich?

19451960198020002020

Die Künstliche Intelligenz ChatGPT hat die alte Frage, was denn eigentlich „Wirklichkeit“ bedeute, neu zugespitzt. Eine philosophische Betrachtung – und ein Plädoyer für eine gemeinsame Welt.

19451960198020002020

Die Künstliche Intelligenz ChatGPT hat die alte Frage, was denn eigentlich „Wirklichkeit“ bedeute, neu zugespitzt. Eine philosophische Betrachtung – und ein Plädoyer für eine gemeinsame Welt.

Werbung
Werbung
Werbung

Nicht erst seit 1976 treibt die Frage nach der Wirklichkeit eigenartige Blüten. Damals veröffentlichte Paul Watzlawick sein Buch mit der Titelfrage „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“. Das Buch kam dem modernen Hang zum Relativismus entgegen. Wirklich sei, so Watzlawick, was wir im Rahmen unserer „Kommunikationen“, die kulturell geprägt seien, als wirklich anerkennen würden. Demnach gebe es nicht „die“ Wirklichkeit, sondern nur Wirklichkeiten entlang unserer grundlegenden Überzeugungen und Werte, die wir jeweils teilen.

Doch halt! Irgendwann, so das Wahrheitskalkül der Mächtigen, werden jene, die der Gewalt weichen müssen, dem Rest der Menschheit ohnehin nicht mehr anvertrauen können, was sie glaubten, als wirklich zu erkennen. Der Relativist wiederum – zeitgemäßer: der „Konstruktivist“ – unterscheidet sich vom Ideologen der Stärke, indem er dessen Wirklichkeitsverständnis zu Recht geißelt: Es ist das Resultat einer totalitären Haltung. Beide Positionen eint indes, dass sie es ablehnen, objektiv gültige Tatsachen jenseits menschlicher Befindlichkeiten anzuerkennen.

Glimmender Scheiterhaufen

Denken wir an den klassischen Streit, ob die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne kreise. Die Repräsentanten der katholischen Inquisition drohten – Tatsachen hin oder her – dem Heliozentristen mit Folter und Scheiterhaufen, falls er nicht feierlich abschwöre. Also beugten sich die meisten Gelehrten aus Schwäche, selbst gegen ihre innerste Überzeugung auf der Basis untrüglicher Befunde, dem dogmatischen Wirklichkeitsdiktat des Klerus.

Mit dem Scheiterhaufen wollen die Relativisten nichts zu tun haben. Und doch halten sie ihn – grundsätzlich gesprochen – dadurch am Glimmen, dass sie es ablehnen, das „Beweisspiel der Wissenschaft“ (ein Ausdruck Ludwig Wittgensteins) als allgemeinverbindlich anzuerkennen. Denn, sagen die Relativisten, welche Weltsicht einer Religion als unverzichtbar gilt, das ist gleichermaßen bestimmend für ihr Verständnis der Wirklichkeit. Der Relativist lehnt das geozentrische Weltbild nicht kategorisch ab, obwohl er keineswegs bestreitet, dass die informierte Überzeugung, wonach die Erde um die Sonne kreist, ebenfalls ihre Berechtigung hat.

Was dabei herauskommt, ist ein schrecklicher Wirrwarr, eine babylonische Sprachenverwirrung, welche die Menschheit in gegeneinander fremdelnde „Menschheiten“ auseinanderdividiert. Dass die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne kreist, kann nicht zugleich wahr sein. Um den Widerspruch zu verdecken, dürfen die unverträglichen Ansichten nicht merkbar kollidieren, und wenn sie es doch tun, dann wird eben – das ist die menschliche, allzu menschliche Situation – jener Meinungsflügel recht behalten, der am lautesten schreit.

In diesen Untiefen liegt die Wurzel der heutigen Querdenker, die mit rabiater Wissenschaftsskepsis auf Stimmenfang gehen. Sie richten Unheil an, indem sie fake news guten Gewissens verbreiten, sofern diese in ihr „Weltbild“ passen. Aber auch die Verfechter der Künstlichen Intelligenz stiften, was die Frage nach der Wirklichkeit betrifft, böse Verwirrung, indem sie die Auffassung forcieren, bald schon werde man zwischen der künstlich erzeugten und der angeblich wirklichen Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung