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Kollekiive Neurose

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Von Dr. Igor A. Caruso, Leiter des Wiener Arbeitskreises für Tiefenpsychologie

Zum Unterschied von Erziehung und individueller Psychotherapie ist die psychische Hygiene in der Hauptsache bedacht, in einem möglichst breiten Raum vorbeugende Maßnahmen für psychische Störungen in den Kollektiven zu treffen. Diese Kollektive bestehen aus einzelnen Individuen; die psychische Hygiene berührt zwar diese Einzelindividuen, ihr Anliegen ist aber in erster Linie auf Gesellschaftsschichten gerichtet.

Die psychische Hygiene wirft also von neuem den Fragenkomplex nach dem Verhältnis zwischen kollektiver Psychologie und individueller Psychologie auf. Kaum jemand würde eine negativistische Einstellung in der Feststellung erblicken, daß in diesem Fragenkomplex so manche Einzelprobleme einer Lösung, ja sogar erst einer richtigen Fragestellung harren.

Ein Beispiel: Der Ende Juli in Paris abgehaltene internationale Kongreß für Psycho-technik (angewandte Psychologie) hat feststellen müssen, daß die Anwendung der Arbeitspsychologie und der prophylaktischen klinisch-psychologischen Methoden zwar auf einem hohen Niveau des Fortschrittes steht, grundsätzlich aber so manchesmal in eine Sackgasse führt. Diese Feststellung ist eine ernste Warnung und von berufener Seite ausgesprochen; haben doch an diesem Kongreß 600 Fachspezialisten aus aller Welt teilgenommen.

Was wurde mit dieser Mahnung gemeint? Die sogenannte Arbeitspsychologie, das heißt, die wissenschaftliche Verhütung der psychischen Unangepaßtheiten und Neurosen im Berufe, sowie die praktische Wissenschaft von den „human relations“ haben für die psychische Hygiene eine gewiß nicht zu unterschätzende Bedeutung. Wir wissen auch, daß diese praktischen Zweige der Psychologie tatsächlich die Verhältnisse des arbeitenden Menschen au seiner Aufgabe, zu seiner Umwelt, zu seinen Mitarbeitern und Vorgesetzten in beträchtlichem Maße verbessert und rationalisiert haben. Diese Besserung und diese Rationalisierung verhüten, wie gesagt, spezifische Versager des arbeitenden Menschen. Und sie verhüten diese, indem die berufenen Fachleute die Bedingungen der besseren Anpassung des Individuums an die Kollektivität anstreben.

Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, daß diese erhöhte Anpassung vornehmlich in einer Richtung verläuft. Eben Anpassung des Individuums an die Gesellschaft, was noch mancherorts ungefähr als oberstes Kriterium der seelischen Gesundheit gilt. Vielleicht ist diese Beschreibung leicht einseitig, denn in dem Maße, da das Individuum sich dem Kollektiv anpaßt, ist das Kollektiv bereit, auch dem Individuum Zugeständnisse zu machen, so daß im Endergebnis zunächst ein durchaus einträchtliches Bild entsteht.

Bei näherem Zusehen aber merken wir, daß die Arbeitspsychologie und die „human relations“ dazu neigen, nicht nur ein Kollektiv, sondern die spezifischen — politischen und wirtschaftlichen — Interessen dieses Kollektivs gegenüber dem Individuum zu vertreten, so daß das Individuum vor die scheinbare Wahl gestellt wird, entweder sich zu beugen oder aus dem Kollektiv mehr oder minder ausgestoßen zu werden.

Die glückliche Eintracht des Individuums mit dem Kollektiv kann mitunter auf dem Verzicht wesentlicher persönlicher Bezüge beruhen, denn die Unfreiheit der menschlichen Person kann auf kurze Sicht auch rationell und materiell zuträgliche Aspekte annehmen.

Gewiß ist die kollektiv angewandte Psychologie bloß eine Technik; jede Technik kann aber bewußt oder unbewußt mißbraucht werden. Es ist aber leider keine Gewähr gegeben, daß diese Technik dem Zeitgeist entsprechend eben nicht mißbraucht wird. Auch andere positive Werte der Tech-

nik bis zur Atomspaltung inklusive können dies werden.

Die Arbeitspsychologie ist bereits in steigendem Maße ein bewundernswertes und präzises Instrument; ein Instrument allerdings in den Händen des herrschenden Kollektivs. Nun ist es jetzt wohl klar, daß auch die Kollektive psychischen Störungen unterliegen, daß auch Kollektive neurotisch werden können. Statt wirkliche Psychologie und Psychohygiene der werktätigen Person zu sein, kann unsere angewandte Psychologie mitunter zu einem sehr feinen Machtmittel werden, dessen manchmal unerkannter Zweck die Zurechtbiegung einer vielleicht normalen Persönlichkeit im Sinne der kollektiven Neurose sein kann.

Diese Gefahr ist jedem klar, solange herrschende Kollektive einem totalitären politischen und wirtschaftlichen System huldigen. Was nicht klar genug ist, ist der Umstand, daß auch ein giundsätzlich freies Kollektiv dazu neigt, in irgendwelchen Bereichen totalitär zu werden, falls man ihm Mittel in die Hand gibt, die menschliche Person in ihren tiefsten Schienten zu beeinflussen, um sie den Zwecken des Kollektivs dienlich zu machen.

Um diese Gefahr zu bannen, müssen wir zuerst erkennen, daß nicht die reibungslose Zusammenarbeit der Person mit einem mächtigen Kollektiv Selbstzweck ist, sondern die Entfaltung der Person. Eine Kollektivpsychologie, eine Arbeitspsychologie, eine Wissenschaft der „human relations“, ja die Psychohygiene selbst, sind erst dann Mittel zum wirklichen Fortschritt, wenn sie wissen, wer das Subjekt des Fortschrittes i s t, und das Subjekt des Fortschrittes ist die lebendige, konkrete, einmalige und unwieder-holbare menschliche Person.

Nach hundert Jahren technisch-positivisti-scher Ausrichtung in den Wissenschaften fehlt es noch an einer Psychologie der menschlichen Person. Denn die Psychologie hat menschliche Funktionen uti-litär bemessen und beschrieben, sie hat Individuen als Versuchsobjekte betrachtet, aber sie beginnt erst zu erkennen, daß der Mensch weder einfaches Individuum noch Objekt ist, sondern daß der Mensch nur inmitten seiner Lebenswerte, inmitten seiner sozialen und religiösen Bindungen erfaßt werden kann.

Ein anderes Beispiel: Die Menschheit war und ist noch immer das Opfer einer kollektiven Krankheit, die uns durch verschiedene Symptome der kollektiven Aggressivität zur Genüge bekannt ist.

Die psychische Hygiene versucht glücklicherweise die Aggressivität in verschiedenen Gruppen zu erfassen und abzubauen. Es ist vielleicht utopisch, der Psychohygiene Weltmaßstäbe zuzuweisen, aber entweder glauben wir, daß auch Krieg und Tyrannei bis zu einem gewissen Maße pathologische Erscheinungen sind, und dann hätte hier die Psychohygiene eine helfende (wenn auch zugeordnete) Rolle zu spielen — oder aber sind unsere Anstrengungen vielleicht anerkennenswert, aber im großen Maßstab wohl als unwirksam zu betrachten.

Die Gesetze der kollektiven Aggressivität sind trotz vielen Abhandlungen noch wenig bekannt. Die Tiefenpsychologie hat sachgemäß ihr Augenmerk der individuellen Aggresivität in erster Linie zugewandt und bisherige sozio-psychologische Erkenntnisse sind eigentlich bloß Ausdehnungen und Analogien, die aus der individuellen Tiefenpsychologie entspringen.

Die Kollektivpsychologie, die Soziometrie, die Tiefenpsychologie haben hier noch sehr viel zu tun. Wir glauben aber, daß diese Disziplinen bescheidene Dienste der großen psychohygienischen Aufgabe in bezug auf

die Vorbeugung gegen kollektive Aggressivität erfüllen können. % ,

Aus der Tiefenpsychologie z. B. wissen wir, daß gewaltsame Unterdrückung der Libido ohne Gewähr der genügenden Subli-mierung auf das Transzendente hin zur Bildung eines sadistischen Ueberichs beiträgt, das sich in Vernichtung und Selbstvernichtung Luft zu schaffen sucht. Besonders in diesem Zusammenhang ist das, was wir „Sündenbock-Komplex“ genannt haben, das heißt jene Projektion seiner eigenen Aggressivität auf die Umwelt, die das Ich unter dem Druck des starren Ueberichs vornimmt, zu betrachten.

Es mangelt noch an Untersuchungen, inwiefern auch Kollektive diesem tiefenpsychologischen Gesetz unterliegen. Wir wissen aber, daß die Verstärkung der staatlichen Autorität auch in Gelangen der Ideologie, der

Ethik und der öffentlichen Meinung nicht allein genügt, um psychohygienische Arbeit zu erleichtern, sondern umgekehrt zur Erstarrung eines kollektiven Ueberichs beiträgt und auf diesem Wege die kollektive Aggressivität fördert. Die kollektive Aggressivität aber sucht nach Opfern, nach kollektiven Sündenböcken. Wie soll man psychohygienische und therapeutische Arbeit leisten, wenn das Kollektiv sich in eine aggressive Neurose hineinsteigert?

Hier wiederum ist eine Lösung in ehrlicher und konsequenter Kleinarbeit zu suchen: nicht einfache Anpassung zu kollektiven Verhaltensweisen, die selbst neurotisch sein können, sondern Vertiefung der anthropologischen Anschauung des lebendigen Subjektes inmitten seiner geistigen Umwelt. *

Vielleicht sind diese beiden Beispiele zu

breit gefaßt. Leider ist das Kernproblem ebenso breit. Die Psychologie als eine wichtige Disziplin für die psychohygienische Arbeit ist in einer Krise begriffen, worin allerdings gewisse Bezugspunkte sich anzuzeigen beginnen. Im Laufe der fortschreitenden Verweltlichung eines ursprünglich religiösen oder mythologischen Denkens rückte zwar der Mensch ins Zentrum des wissenschaftlichen Denkens, aber er rückte — wenn ich so sagen darf — als einsames Wesen, als einzelstehendes Objekt, reduziert auf ein sehr einfaches psychobiologisches und wirtschaftliches Modell ohne all diese transzendenten Bindungen, die nunmehr als ein unwesentlicher Ueberbau erklärt worden sind.

Die Folge davon war ein Weltbild, das aus bezuglosen Individuen bestand und das sich allmählich fatalerweise in ein anderes Weltbild verwandelte: die Allmacht des Kollektivs über das schutzlose Individuum, welches den Charakter der s.ouveränen Person endgültig einbüßte und zu einem „homo oeco-nomicus“ ward.

Die klassischen tiefenpsychologischen Systeme, zum Beispiel, kannten nur das abstrakte Individuum, das sich zum Kollektiv als höchstes Kriterium anzupassen hat. Wir haben aber bereits gesehen: die „Anpassung“ ist kein ausreichendes Kriterium. Das Subjekt dieser Anpassung ist immer die menschliche Person mit ihren Rechten und Aufgaben, so daß eine Unangepaßtheit zu einer pathologischen Gesellschaft noch lange kein Beweis für einen wirklichen Versager ist.

Unsere utilitäre Zivilisation und unsere utilitäre Wissenschaft kennen aber, im Grunde genommen, nur eine utilitäre Anpassung eines utilitären Individuums an ein utilitäres Kollektiv.

Wir sind an dieser Stelle versucht, uns selbst zu erwidern: dies sei zuviel Theorie;

Psychotechnik aber und angewandte Psychologie, und vor allem die dringenden Aufgaben der Psychohygiene beruhen auf einer praktischen Notwendigkeit.

Aber Praxis und Theorie sind unzertrennlich. Schlechte Theorie erzeugt schlechte Praxis, und jede Praxis muß von Zeit zu Zeit überprüft und überdacht werden. Außerdem erscheinen diese Zeilen in einer Stadt, die selbst im geographischen Mittelpunkt Europas steht. Nun hat Europa fast alle seine Positionen eingebüßt und es kann nicht auf dem Gebiet der praktischen Verwirklichungen mit anderen Erdteilen wetteifern. Europa soll sich nun entweder aufgeben, oder aber es hat vielleicht noch einen geistigen Beitrag zu leisten, wiewohl wir anläßlich dieses Beitrages nicht allzu anmaßend auftreten dürfen. Es ist nun einmal Europas Ueberlieferung, daß Praxis ohne Theorie, ja philosophischer Ueberprüfung, nicht statthaft ist.

Es gibt wohl dringende praktische Aufgaben in bezug auf den entworfenen Fragenkomplex. Viele unter uns suchen diese Aufgaben in der täglichen praktischen.Tätigkeit zu verwirklichen, um erst aus dieser täglichen praktischen Tätigkeit neue Arbeitshypothesen abzuleiten. Manche Kollegen, Psychologen, Psychiater und Pädagogen, so z. B. im Wiener Arbeitskreis für Tiefenpsychologie, streben ja nichts anderes an. Je universeller, gesicherter und umfassender, also nicht bloß elektisch nebeneinander gereiht, die Erkenntnisse dieser Kollegen werden, um so sicherer wird aber auch die Praxis einer personalisti-schen Psychohygiene gewährleistet.

Im Zusammenhang mit diesen theoretischen und praktischen Aufgaben ist die bedeutende Arbeit zu betrachten, die neuerdings von der 6. Jahresversammlung der WORLD FEDERATION FOR MENTAL HEALTH, die in Wien vom 16. bis 22. August tagte, geleistet wurde.

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