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Kommt es zu deutscher Realpolitik?

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Kein Begriff wird in der Politik mißbräuchlicher verwendet als der des vermeintlichen „Realismus“. Für gewöhnlich wird er als ein handfester Pragmatismus verstanden, der in scheinbarer Welt- und Lebensklugheit einem verstiegenen „Illusionismus“ als Antithese entgegengestellt wird. Die deutsche Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte zeigt, in welch erschreckendem Maße das politische Denken dieser so hochbegabten Nation von jenen beiden unguten Extremen beherrscht wurde. Die letzten Träumer des „Sacrum Imperium“ in Süd- und Mitteldeutschland auf der einen Seite, der verzweifelte Machiavellismus Friedrichs von Preußen auf der andern, die endlosen Debatten der Pauluskirche und die „Blut-und-Eisen“-Rcde Bismarcks, von Bethmann-Hollweg und Ludendorff, Rathenau und Hitler... um von näher Liegendem zu schweigen. Man lese zudem die persönlichen Aufzeichnungen und Memoiren der hier genannten Persönlichkeiten (vor allem Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ und das neuerdings durch den Schweizer Muralt publizierte intime Tagebuchmaterial dieses Staatsmannes) und man wird finden, daß sich diese verquälte Antithetik bis ins Innerste der Handelnden hinein fortsetzt. Gewiß ist dies keine unbedingt schlechte Seite des deutschen Volkscharakters. Die von keinem Selbstzweifel geplagte, grandiose Primitivität, mit der andere Nationen seit dem Ausgang des Mittelalters ihre Probleme erfolgreich lösten, wiegt auf der Waage ethisch-religiöser Werte wahrscheinlich sogar geringer als die um letztgültige Lösungen ringende deutsche Seele, deren Ausbruch in den gewalttätigen Pragmatismus seit des feinnervigen Kleists „Schlagt ihn tot...“ zu einem guten Teil immer wieder nur mörderischer Kampf gegen die Blaue Blume im eigenen

Innern ist. Wir, die wir als Nachbarn des so oder so gearteten deutschen Staatswesens auch nach der unheilvollen, aber unwiderruflichen Trennung von 1866 von den Auswirkungen der innerdeutschen Auseinandersetzung für gewöhnlich unmittelbar betroffen sind, haben aber bei aller Respektierung der oft tragischen Gewissensentscheidungen der Menschen in Deutschland, ein besonderes Interesse an den Resultaten solcher Politik. Und es scheint uns, fern aller pharisäischen Besserwisserei und Selbstgerechtigkeit, zu der wir heute kaum allzuviel Berechtigung haben, eine echte Freundespflicht zu sein, vor allem den uns gesinnungsverwandten Deutschen, die mit uns zusammen ein Europa der christlichen Demokratie zu bauen versuchen, einige Gedanken zu jenem Thema zu sagen, das wir mit dem Begriff echter Realpolitik in der augenblicklichen Lage umschreiben wollen.

II.

An dieser Stelle wurde mehrere Male auf die gesamteuropäische Bedeutung des 17. Juni 1953 hingewiesen. Er wurde trotz seiner offensichtlichen Fruchtlosigkeit, ja von vornherein gegebenen Aussichtslosigkeit, als eine geschichts-gültige Demonstration der menschlichen Freiheit gewürdigt. Was nach dem Aufstand der Berliner Arbeiter damals in Deutschland not getan hätte, ist versäumt worden. Gerade von jenen uns weltanschaulich verwandten Kräften in der CDU, die im gleichen Jahre — 1953 — dank ihrer durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren errungenen großen Mehrheit der Regierung Adenauer die stabile Basis für ihre unter den gegebenen Umständen einzig möglichen Außenpolitik der Westorientierung gegeben hatten, hätten wir darüber hinaus die Entwicklung eines echten, realistischen Konzept? für Großdeutschland erwartet. Realismus hätte bedeutet, mit jenen bewährten Politikern, die aus echten Gewissensgründen den Pankower Machtbereich verließen, ein Konzept auszuarbeiten, das eine praktische Alternative zu den Ulbrichtschen Forderungen nach der Bolschewi-sierung Gesamtdeutschlands dargestellt hätte, ein Konzept, das von prokommunistischem Mit-läufertum ebenso weit entfernt wäre wie von reaktionärem Festhalten an Herrschaitsformen und Gesellschaftsstrukturen, die sich so oder so (gottlob) in Mitteldeutschland nicht wieder herstellen lassen. Beim Entwurf eines solchen sozialen Rechtsstaates hätten die besten Köpfe der deutschen Sozialdemokratie, die sich heute in einer Opposition um jeden Preis aufreiben, bestimmt ihren Beitrag ebenso leisten können, wie jene viel verlästerten Konservativen alt-preußischer Herkunft, die dem wahren Fortschritt und der zeitnotwendigen Forderung aus der Gesinnung des 20. Juli heraus näher standen und stehen als manche betriebsame National-liberale mit oder ohne Ministerrang.

III.

Wie gesagt: Das hätten wir in echter, freundschaftlicher Solidarität von den christlichen Demokraten Deutschlands damals erwartet. Daß es nicht so kam, steht fest. Ueber die Ursachen zu rechten, ist nicht unsere Aufgabe. Nun ist aber durch den im gleichen Junimonat erfolgten polnischen Aufstand aufs neue eine Situation entstanden, die von Deutschland, besonders und allein von Deutschland eine eigenständige, realpolitische Antwort verlangt. Was ist geschehen? Ein Volk, das seit dem von der landläufigen Geschichtsschreibung nahezu totgeschwiegenen großen Zeitalter der Jagelionen beispielgebend eine echte, im guten Sinn konservative Freiheitsordnung zu verwirklichen trachtete (mit allen in den Jahrhunderten unvermeidlichen Rückschlägen natürlich) hat, nicht zuletzt in Selbstbesinnung und Zeugenschaft dieser durch kein aufgezwungenes Regime zu brechenden Lebenswerte dem sowjetischen Totalreich ein ebenso verzweifeltes, heroisches Nein entgegenstellt, wie die Arbeiter von Berlin vor drei Jahren, wie ihre tschechischen Genossen von Pilsen ganz nahe dem damaligen Zeitpunkt. Das polnische Volk, mit dem sich gerade im vergangenen Jahrhundert und auch zuvor die besten Kräfte des freiheitlichen Europa solidarisch fühlten, hat sich mit dem Aufschrei der unter den Kugeln Zusammenbrechenden zu Worte gemeldet. Die besten Menschen deutscher Herkunft haben diesen

Schrei seit eh und je verstanden, Maria Theresia, deren verwandtes Fühlen in den unmutig protestierenden handschriftlichen Zusätzen zu den ihr abgezwungenen Protokollen der Teilung Polens nachzittert, die deutschen Studenten, die auf dem Hambacher Fest vor 1848 die polnische Fahne neben der Schwarz-Rot-Goldenen hißten, die preußischen Altliberalen, die Bismarcks unverhohlener Unterstützung der zaristischen Bedrücker tapfer Paroli boten, ganz zu schweigen von allen jenen Katholiken, die den Bruder in jenem glauben-treuesten Land über allen Nationalitätenhaß hinweg erkannten. Gewiß liegt zwischen dieser Vergangenheit und dem Heute der tiefe Graben des Hasses und der Unmenschlichkeit, der schier unübersteigliche Berg von Hingemordeten und in den Tod Getriebenen: erst durch die in Polen wütenden deutschen Besatzungskräfte, und dann durch die zum Großteil an Unschuldigen vollzogenen Orgien der Rache und Vergeltung. Dennoch wagen wir, heute von einer neuen Situation im Verhältnis dieser beiden Völker zu sprechen, deren realistische Bewältigung an die Weisheit und Kraft der Deutschen schmerzlich hohe, ja höchste Ansprüche stellt. Dennoch scheint uns jetzt oder nie in der an Chancen der Freiheit nicht eben überreichen Geschichte des letzten Jahrzehnts der Zeitpunkt gekommen zu sein, an dem die verantwortlichen Sprecher der Deutschen Bundesrepublik mit den dazu legitimierten Vertretern des polnischen Exils ein sach-lich-klärendes Gespräch über ein gemeinsames Konzept nachbarlichen Zusammenlebens führen müßten. Manche der in den letzten Monaten viel besprochenen Tragödien zurückgekehrter Emigranten (von Hanke bis Cat-Mackiewicz) ist in einer der Wurzeln vielleicht auf das Ausbleiben dieses Gesprächs zurückzuführen. Zur Verdeutlichung dessen, was wir meinen, sei in aller Bescheidenheit auf jene seit Jahr und Tag erfolgenden Bemühungen hingewiesen, die auf österreichischem Boden durch das Forschungsinstitut für Fragen des Donauraumes geleistet wird, das sich um ähnliche konstruktive Diskussionen zwischen den Völkern unseres unmittelbaren

Nachbarschaftsraums bemüht, in richtiger Einsicht allerdings die Behandlung politischer Probleme als nicht zu den Donaufragen im engeren Sinne gehörig ablehnt. Der Wert eines solchen Akkords, der natürlich auch vor der Grenzfrage und ihrer Lösung im übernational-europäischen Sinn nicht haltmachen dürfte, läge vor allem darin, daß solche realistisch ausgearbeitete Prinzipien ihren eigentlichen Adressaten, das in Polen lebende polnische Volk, auf verschiedenen Nachrichtenwegen sehr schnell erreichen würden. Natürlich geht es nicht so hemdärmelig, wie sich das jüngst der „Manchester Guardian“ vorstellte, der einfach eine deutsche und westalliierte Anerkennung der derzeitigen polnischen Westgrenze empfahl. Aber es geht auch wieder nicht so, daß man deutscherseits gewisse offene Fragen, wie die heute kaum mehr anzumeldenden Ansprüche auf den sogenannten Korridor, den Hitlerschen „Warthegau“, aus falschen innerpolitischen Rücksichten einfach im u n-klaren läßt. Ein realistisches Kompromiß kann nicht durch Verletzung deutschen oder polnischen Rechts herbeigeführt werden. Wohl aber müßten sich aus den guten europäischen Traditionen der christlichen Kräfte beider Länder in unserem Jahrhundert, das ja nicht mehr den geschlossenen Nationalstaat von gestern zum Ideal erklärt, neue Herrschaftsformen, wie etwa das von Adenauer selbst in die Debatte geworfene und dann nicht mehr aufgegriffene „K o n-dominium“ finden lassen. Gewiß keine leichte Aufgabe, und der angestrengten Bemühungen der Juristen, Politiker und Oekono-men sehr bedürftig. Es kommt darauf an, den mit dem Rücken zur deutschen Grenze kämpfenden f o 1 e n klarzumachen, daß im Falle einer Neuordnung der mitteleuropäischen Verhältnisse und einem Aufhören der widernatürlichen sowjetischen Oberherrschaft nicht eine deutsche Revanche, ein neues Generalgouvernement die Alternative wäre. Denn so lange diese Befürchtungen (ähnlich denen der Tschechen vor einer sudetendeutschen Rache) bestehen, wird es Abertausende, potentiell zur Freien Welt gehörende Polen geben, die rebus sie stantibus die verhaßte kommunistische — aber immerhin von Polen repräsentierte — Herrschaft der möglichen deutschen immer noch vorziehen.

IV.

Eine solche realisierte Lösung des deutschpolnischen Verhältnisses scheint uns wahrhaft ein Gebot der Stunde zu sein. Denn schon zeichnen sich am Horizont die Perspektiven einer falschen Realpolitik ab. Noch immer hat das ungemein elastisch gewordene Machfzentrum im Kreml jenen Köder bereit, der die große Angelrute für die deutschen Nationalisten und Nationalmachiavellisten schmücken soll. Das auch in den Tagen des frühen Bolschewismus der Kontakte zwischen Tschitscherin und Seeckt nie ganz ad acta gelegte Konzept einer machtpolitischen Einigung Deutschlands und Rußlands auf Kosten der dann endgültigen zerstörten Freiheit des christlich-abendländischen Polen. Die Schatten des Preußen Friedrich und der Zarin Katharina stehen trotz allem immer noch im Raum. Gerade die Erschütterung, die die polnischen Ereignisse im sowjetrussischen Imperium verursachten, wird die Herren im Kreml wahrscheinlich dazu veranlassen, ihren potentiellen deutschen Gesprächspartner gegenüber, die sich bereits als nationale Erben Adenauers fühlen, d e u t-1 i c h e r zu werden. Die weiteren Konsequenzen eines solchen deutsch-russischen Bündnisses sind deutlich genug erkennbar. Sie könnten Europa im allgemeinen, unseren österreichischen Freiheitsraum an der unmittelbaren Grenze aber insbesondere nicht gleichgültig lassen.

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