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Krise der Musikerziehung

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Seit dem Ende des ersten Weltkrieges begann sich im. deutschen Musikleben eine geistige Krise abzuzeichnen, die sich in immer heftiger werdenden Kämpfen für und wider die seit etwa 1900 in Erscheinung tretende neue Musik und ihre Schöpfer äußerte. In Konzertsälen und Opernhäusern wurden diese Kämpfe vom Publikum nicht weniger leidenschaftlich ausgefochten wie in der Presse, in Fachzeitschriften von Laien und Musikern, Dirigenten und Komponisten. Sachliche und vor allem unsaddiche (Argumente wurden und werden heute noch vorgebracht, 'um die vermeintliche Gefahr abzuwehren, die der Tradition. — wie man sie, in die Romantik eingesponnen, verstand- — durch den Einbruch chaotisch anmutender, offenkundig lediglich von Willkür diktierter Tongefüge drohte.

Nun, vier Jahrzehnte später, sind Gründe und Wege, Ursachen und Folgen dieses Prozesses ebenso bestimmt zu formulieren, wie andererseits Art und Ausmaß der Bindungen klarliegen, die von diesem Sektor der zeitgenössischen Musik nach früheren Stilepochen weisen. Die Erkenntnisse sind so ausgereift, daß Theorie und Praxis gleichermaßen . davon profitieren müssen. Daraus resultieren freilich neue, ganz bestimmte Aufgaben für die musikalische Erziehung des künstlerischen Nachwuchses und, gleichlaufend hiezu, der musikliebenden Laien. Denn die vieldiskutierte Kluft zwischen neuer und „alter“ Musik (als gäbe es nicht seit eh und je nur eine zwischen guter und schlechter!) ist weitgehend auf das Versagen unserer musikalischen Erziehung zurückzuführen. Sie trennte, wo sie hätte verbinden müssen, stand untätig abseits, wo es ihre Pflicht gewesen wäre, helfend und ausgleichend einzugreifen. An der Aufgabe, die geistige Basis für eine künstlerisch fruchtbare Auseinandersetzung zweier sich ablösender (und dabei. sich naturgemäß überschneidender, einander widerstrebender) Stile zu schaffen und hiebei das Trennende als zusammenhangsreichen Gegensatz innerhalb des Begriffes Musik zu zeigen —, an dieser Aufgabe ist sie völlig gescheitert.

Die eingangs erwähnte geistige Krise bezieht sich also nicht auf den nur natürlichen, geschichtlich bekannten Vorgang einer solchen Ablöse mit ihren heftigen geistigen Reaktionen, sondern auf die Hilflosigkeit, mit der alle Betroffenen diesem Entwicklungsphänomen entgegentraten, eine Hilflosigkeit, die ihrerseits wiederum nur ein Zeichen und Gradmesser dafür war, daß und wie sehr das Wissen um die Musik schwerfällig und brüchig geworden, wie die theoretisch formulierten Erkenntnisse selbstgefällig erstarrt und so ihrer einzigen Existenzberechtigung, des lebendigen Zusammenhanges mit der schöpferischen Musik, verlustig gegangen waren, weil man es versäumt hatte, die Gültigkeit dieser Er-

kenntnisse immer wieder am Kunstwerk zu überprüfen und sie von Mal zu Mal diesem anzupassen. Denn das wahrhaft Schöpferische entsteht fast immer nur in Abweichung von der handwerklichen Regel, soweit diese nicht schon durch die Enge ihrer Formulierung selbst ad absurdum geführt worden war.

Andererseits ist es natürlich, von objektiver Warte aus gesehen, nie zweifelhaft gewesen, daß in der Kunst nichts ’ völlig Neues, mit dem schon Bestehenden Unzusammenhängendes entstehen kann. Das Werden eines Kunstwerkes ist ein Prozeß, in dem der schaffende Mensch bewußt und unbewußt die geistige und seelische Erfahrung von Generationen als Mitgift einsetzt, die Tradition.

Aufgabe einer richtigen Musikerziehung ist es also, die theoretischen Erkenntnisse, die wir aus den Meisterwerken der Vergangenheit gewonnen haben (und die niemals den Anspruch ästhetischer Postulate von Ewigkeitswerten annehmen dürfen!), auf Grund der bisherigen Entwicklung der neuen Musik wieder zu überprüfen und dann so zu formulieren, daß in diesen handwerklichen Anweisungen alles Regelbafte, alles Starre, alles Ausschließende vermieden wird und auch in ihnen, ein. Abglanz des schöpferischen Funkens, der Ehrfurcht vor dem Unbewußten im Künstler lebt. Nur wenn diese grundlegenden methodischen Voraussetzungen erfüllt sind, vermag das so gewonnene Wissen um Wesen und Handwerk der Musik sich stets lebendig zu erhalten und kann eine brauchbare Basis abgeben für die allgemeine musikalische Erziehung. Keinesfalls aber darf sich dieses Wissen anmaßen, ein ästhetisches Gesetzbuch zu sein, dessen Weisheit letzter Schluß wäre, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.

Eine so beschaffene Musiklehre könnte dann selbst Teil einer allgemeinen Kunstlehre werden, müßte sich — was eine Probe aufs Exempel bedeuten würde —, in ihren Grundzügen mit dieser decken. Denn gibt im Grunde nur einige wenige geistige Grundgesetze künstlerischen Schaffens, die für Musik, Dichtung und bildende Künste die gleichen sind und die nur von der Verschiedenheit des Materials, von dessen Eigentümlichkeiten und handwerklichen Gesetzen charakteristisch variiert werden.

Die Wende, die mit dem Aufkommen der neuen Musik begann, traf nicht nur Fachleute, Musiker, Erzieher und Wissenschaftler unvorbereitet, sondern auch die große Zahl der Laien, der Hörer. Die Entwicklung des menschlichen Gehörs, dessen Gewöhnung an das Neue, folgt nur Schritt für Schritt dem, was die ihrer Zeit voraushörenden Komponisten schaffen. Das Gehör kann kaum oder überhaupt nicht folgen und lehnt ihm Unfaßliches befremdet ab. Das Ineinandergreifen der romantischen

Musikepoche und der jetzigen brachte noch eine besondere Erschwerung: so unterschiedlich das ist, was man als „neue Musik“ bezeichnet, so gemeinsam ist ihre Wurzel: Bach und Mozart, beziehungsweise ihre Vorläufer. Die Musik dieser Meister aber verlangt eine Art des Hörens, die durch die romantische Musik verlorenging. Ihre schöpferischen Motive waren im besonderen Maß gefühlsbetont und bezogen sich überdies häufig auf außermusikalische Elemente — Poesie, Malerei, Natur usw. —, wodurch auch das Hören immer mehr auf andere Ebenen verlegt wurde. Das aktive Hören, das Bachs und Mozarts Musik verlangt, um voll erfaßt zu werden, wich einem mehr passiven; der im wesentlichen geistige Genuß in Form des unmittelbaren Mithörens und Mitdenkens der Gedanken und ihrer Entwicklungen, ihrer Aussage in Form eines Kunstwerkes, wurde durch eine ganz oder überwiegend gefühlsmäßige abgelöst. Wohl wendet sich auch das romantische Kunstwerk an unseren Geist, allein der Zuhörer begab sich gern auf die bequemere Genuß versprechende Linie des geringeren geistigen Widerstandes.

Die Entfremdung zwischen Publikum und neuer Musik wurde immer größer, das Versagen der Musikerziehung immer deutlicher. Statt beim Fundament zu beginnen und das Hören zu aktivieren (womit nicht die akustische Ausbildung des Gehörs, sondern das bewußte geistige Erfassen der Musik als Erscheinungsform menschlichen Denkens gemeint ist), beschränkte man sich bis heute zumeist auf eine Aktivierung des Musizierens, wozu wiederum die spieltechnischen Anforderungen radikal herabgesetzt werden mußten. Während sich zu Beginn dieses Jahrhunderts, noch ein relativ großer Prozentsatz junger Menschen den größten Teil der Musikliteratur am Klavier spielend erschließen konnte, hatte um 1935 technisch und geistig das Niveau der Blockflöte die Vorherrschaft gewonnen. Da man aber mit dem diesem Instrument und den Querpfeifereien der Hitlerjugend gemäßen geistigen Wissen weder den Klassikern noch Bach beikommen konnte, wurde die Kluft zwischen der zeitgenössischen musikalischen Produktion, ja aller spieltechnisch anspruchsvollen Musik und den musikliebenden und -ausübenden Laien nicht geschlossen, sondern erweitert. Ein übriges tat die nivellierende Tendenz jener Zeit, die besagte, die Kunst habe dem Volk zu „dienen“, und nicht das Volk sich um die Kunst zu bemühen. Deshalb sind die im Jahre 1936 bereits in den Wind gesprochenen Mahnworte des Komponisten Ernst Krenek für uns heute von ganz besonderer Bedeutung: „Es gehört mehr Mut dazu — und darum ist es auch ein würdigeres Erziehungsziel —, der Unerreidtbarkeit bestimmter Gehalte für die Mehrzahl der Menschen ins Auge zu sehen und sie zu respektieren, und doch unverdrossen auf dem Weg zu dem Gipfel, von dem man weiß, daß man ihn nicht erreichen kann, so weit zu steigen, als es der eigenen Kraft nur immer möglich ist, anstatt frischfröhlich auf jeden Fall unten zu bleiben und die Bewohner höherer Bezirke als Narren und Gesellschafts- oder Volksfeinde zu erklären."

Wenn sich nun das „Neue“ der aus einem Sektor der zeitgenössischen Musik erwachsenden „Moderne“ (die sich aus und neben der 'Spätromantik entwickelte und sich zum Teil gegen sie wandte), wenn diese Modeme in Ausdruck und Struktur, Inhalt und Form der Aussage von dem Gewohnten abwich und bei dem durch die in den letzten Jahrzehnten tonangebende Romantik primär auf passiven Musikgenuß eingestellten Hörer wiederum an eine Fähigkeit appellierte, die vor 100 und'200 Jahren, da jeder Musiker auch „Komposition lernte“, zum guten Ton gehörte, nämlich, Musik als künstlerische Form menschlichen Denkens anzusehen —, dann ist die Aufgabe einer künftigen Musikerziehung klar umrissen. Sie muß, kurz gesagt, die Menschen wiederum dazu bringen, Musik nicht nur spielen, sondern auch lesen (das heißt lesend hören) zu können, oder, noch besser ausgedrückt, sie muß die Menschen lehren, daß sie „nachdenken“, was andere ,,vor-ausgesagt" haben.

Ist Schumanns Wort, „Du mußt es soweit bringen, daß du eine Musik auf dem Papier verstehst“, zur Richtschnur dieser Erziehung geworden, dann wird man die Musik Beethovens, Bachs und Mozarts wieder ‘richtig hören, nämlich nicht nur so, wie sie gefühlt, sondern auch so, wie sie gedacht ist. Die griechische Kultur, Ursprung und Vorbild der europäischen Kul-turkreisc, wußte genau um die Bedeutung der Musik: Plato nennt sie „die hauptsächlichste Ernährung für das Wachstum des Geistes“. Sie war für die Griechen nicht nur ein Genuß in Form des Musizierens, sondern bedeutete für sie im Wissen um ihre tiefe Gesetzlichkeit ein unvergleichliches Mittel geistiger Erziehung und Auseinandersetzung, als Schulung des Verstandes, des allgemeinen Anschauung- und Erfassungsvermögens. Unsere Zeit, der nach einem Zusammenbruch elementaren Ausmaßes die Verantwortung auferlegt ist, die Fundamente für ein neues würdiges Leben zu legen, kann nichts Besseres tun, als diese Ideen aufzunehmen, so fremd und ungewöhnlich sie auf den ersten Blick auch scheinen mögen.

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