6652296-1959_08_14.jpg
Digital In Arbeit

Kritik und gläubiges Staunen

Werbung
Werbung
Werbung

Neuerlich rückt ein ansprechender Bildband die umstrittene Wallfahrtskapelle des Architekten Le Cdrbusier an der burgundischen Pforte in den Mittelpunkt der Erörterungen . Daß die Diskussion um Ronchamp nicht zur Ruhe kommt, ist auffällig, wirft ein Licht auf die unaufhörlichen Bemühungen um eine Selbstorientierung in dieser aufgewühlten Zeit und bezeugt nicht zuletzt, die Bedeutung dieses Bauwerks. Unter den zahlreichen Publikationen verdient das neue Buch aus verschiedenen Gründen Hervorhebung und eingehende Erörterung. Zunächst bedeutet es in seiner Gesamtheit ohne jede Polemik eine klare Antwort auf Fragen, die in der Diskussion um diese Kapelle immer wieder aufgeworfen wurden, Fragen grundsätzlicher Art, die über das genannte Bauwerk weit hinausgreifen und ganz allgemein Kunst und Architektur der Gegenwart und den Sakralcharakter im Kirchenbau betreffen. Als „Zeugnis einer Begegnung” nimmt das Buch den einzig richtigen Ausgangspunkt, wenn es „mit den Augen des Wallfahrers” sehen tyill, der zunächst verblüfft, schließlich aber anerkennend vor dem ungewohnten Ziel seiner Reise steht. Damit wird diese Architektur in die’ gegenwärtige Weltstunde und in den christlichen Lebensraum hineingestellt, und der Beschauer soll nun seihst erfahren und entscheiden, wie sie sich darin bewährt. Aus den Bildern — jedes ist ein Archi- tektur„porträt” — spricht die Haltung, in der allein man dem Bauwerk innerlich nahe zu kommen vermag: das Staunen. Das Staunen stellt dem frivolen Witz und der hitzigen Kritik die Erhrfurcht entgegen und bekundet zugleich eine innere Bewältigung des Erlebnisses, das man in ratloser Ehrlichkeit zunächst nur als „Schock” beschreiben konnte.

Ronchamp ist schon unzählige Male photographisch wiedergegeben worden. Kaum jemals sind aber Blickwinkel, Bildausschnitt und Lichtverteilung in so hohem Maße gerade der architektonischen Eigenart dieses Bauwerkes gerecht geworden. Die Frage, inwieweit auch das Auge beim Durchwandern des Bauwerkes solche Aspekte zu isolieren vermag, muß freilich gestellt werden. Aber gerade dies ist eine Frage der Erziehung zu jener Weise des Schauens, “wie sie als eigene „Sehweise” bekanntlich jedem Stil der Geschichte entspricht. Schaubar ist in den Bildern erwiesen, was gerade bezweifelt wurde: daß auch die einzelnen Formen, die „Gelenke” und Elemente dieses Baukörpers sowie ihre Verhältnisse, untereinander zu einer erhabenen Schönheit zusammenspielen. Ihre Wirkungen lassen sich sogar in den Ausdrücke® der überlieferten Aesthetik umschreiben. — In den großformigen Aufnahmen wird vor allem die plastische Wirkung der Bauteile im Spiel des Lichtes herausgestellt und erweist auf ihre Art die inneren Zusammenhänge dieser Architektur mit einer Reihe führender Bewegungen in den verschiedenen Kunstgattungen der unmittelbaren Gegenwart: „Die abstrakte Kunst, die heutzutage ganz zu Recht hitzige Gefechte entfacht, ist die Ursache, daß Ronchamp existiert” (Le Corbusier). Dabei wird hier die abstrakte Kunst „konkret”, das „brutale” Betonwerk wird ästhetisch bedeutungsvoll, dem menschlichen Organismus abgelauschte Form gewinnt übermenschliche Wucht.

Um die Tragweite dieser Publikation und die treffende Gültigkeit ihrer Interpretation zu ermessen, muß man sie auf dem Hintergrund all der vorausgegangenen Deutungsversuche und der laufenden Auseinandersetzung sehen. Kein

„Ein Tag mit Ronchamp , Bildband mit 48 Aufnahmen von Paul und Esther Merkle, Text von Robert Th. Stoll, Geleitwort von Hans Urs von Balthasaj. Johannes-Verlag, Einsiedeln 1958.

Bauwerk hat seit seiner Errichtung (1951 bis 1955) ähnlich scharfe Kritik und ähnlich hohe’ Anerkennung erfahren. Für manche war die Kapelle der Inbegriff von Häßlichkeit, Neuerungssucht und Willkür (A. Fuchs), von Formanarchie und Unförmigkeit. Man gebrauchte sogar das Wort „amorph” (Birchler). Ablehnend verhalten sich auch verdiente Interpreten des im Kirchenbau vorangegangenen Kastentypus hineingestellt und der Beschauer soll nun selbst (seit 1928 vorherrschend). Eher noch würdigt man vom Standpunkt der „Zeltarchitektur”, vom Leitbild des „Gotteszeltes” her, diese Formen Le Corbusiers. Die Einmaligkeit der Schöpfung jedoch läßt sich mit so schematischen Formeln aber weder bestimmen noch werten.

Die „faszinierende” Wirkung des Raumes wird auch von Gegnern bezeugt, bedingt aber auch das Versagen rationier Analyse und führt in der Deutung dazu, gerade die Kategorie des Fremdartigen auch auf das religiöse Urteil zu übertragen. „Fremd” heißt dann nicht nur „ganz anders”, im ‘Sinne einer Umschreibung des Transzendenten mit W. Otto, sondern wird konfessionell gemeint: „nicht katholisch”, „magisch” und höhlenartig, „Es-haft”, konfessionell zuwenig determiniert. „Schwebecharakter” und freies Formenspiel widersprechen der herkömmlichen Fügung von „Stütze und Last” und werden als Zeugnis der Haltlosigkeit und Unsicherheit verstanden — was dann freilich auch von mancher Barockform behauptet werden müßte. Entscheidend ist aber der theologische Aspekt, den H. Schade hier anschließen zu müssen glaubt, wenn er Ronchamp bezeichnet als „das Bild einer Kirche, die den Boden unter sich verloren hat, die, schwankend zwischen Sünde und Gnade”, kein Symbol des Haltes mehr darstellt. Bild dieses Haltes könnte nur aus den Grund- dimpnsionen. . der Leiberfahrung (senkrecht, waagrecht.. ) gelingen.

Aber nicht nur Mißtrauen und Ratlosigkeit, sondern auch frohe Bejahung gehen gerade von dem ungewohnt „kühnen Spiel” der Formen aus, in dem der Architekt Funktionssinn und Zweck erfüllt. Phantastik und Funktionssicherheit, sonst geschworene Widersacher, verschmelzen hier. Das ist das Ungewohnte. Das ist der Grund der Begeisterung. Die neue Technik des „hängenden Gewölbes” nutzend, glückt „in den konkaven Flächen … ein raffiniertes Kräftespiel”, das aus größten Spannungen ein „inneres Gleichgewicht” (Giedion) wie eine geheime Entdeckung freilegt. Man spürt „die bei vollständiger Asymmetrie erreichte lebensvolle Harmonie” in ihrer „lösenden” Wirkung. „Das Schauen findet in diesem Raum kein Ende” (H. Muck), der ein „fließender” Raum ist (Henze) und in seiner zum Gebet „befreienden” Wirkung tief empfunden wird (U. Conrads). Raum und Baukörper sind also ein geniales Spiel, ein Zusammenspiel der Kräfte, der gliedernden und hüllenden Elemente, der Spannungsverhältnisse. Dieses Spiel steht in der Spannung von Zweck und Imagination, Statik und Schweben, Offenheit und Höhle usw., vieler Gegensätze also, die oft wie Dissonanzen unvermittelt aufeinandertreffen und erst in einer höheren Einheit, eben der des gesamten Bauwerkes, als „Arche” (Le Corbusier) aufgehen.

Aber wie kommt diese Erlebniseinheit unter den genannten Voraussetzungen dann doch zustande? Das ist eine noch viel zuwenig untersuchte Frage der Kunstpsychologie, die sich vor ähnlichen Werken der Gegenwart immer neu stellt. Die Rolle der Phantasie wird dabei immer deutlicher, lieber ihre Anregung, ja oft geradezu gewaltsame und impulsiv herausfordernde Erregung, gelingt erst die Gesamtreaktion auf den dynamischen Wechsel der zahlreichen Eindrücke als Gegenleistung im Besucher dieser Kirche. Das Spiel des Lichtes ist es vor allem, aus dem das „Fest der Phantasie” (H. Muck) entspringt, das dieser Raum weckt, „die visuelle Akustik im Reich der Formen”, von der der Architekt spricht.

Es ist das Verdienst des neuen Buches, in detj Bildern von dieser Rolle des Lichtes im Verlauf eines Tages zu überzeugen. Aber Stoll legt auch ausdrücklich den Finger auf diese Stelle des Befundes, wenn er an den Satz Le Corbusiers erinnert: „Architektur ist das weise, richtige und wundervolle Spiel der Körper unter dem Lieh t”, wozu der Architekt bemerkt, es sei dies seine erste Zeile, die er schrieb.

Ronchamp wurde bereits als der „Beginn einer zweiten Etappe” (H. Baur) erkannt, wobei es sich um eine „Integration” (Henze) all dessen handelt, was sich im Bauen und im Kirchenbau, zumal seit 1950, immer deutlicher, aber noch unentschieden angebahnt hatte. In einer „komplizierten und schließlich doch einfachen Weise” ist hier alles zusammengefaßt. Gerade deshalb stellt man aber auch fest: „Der Raum wird unfaßbar”, irrational. Die ihn prägenden Elemente werden als „Kraftlinien” verstanden (Henze). Ein rhythmisches „Wogen” des Baukörpers entsteht.

Bei solchen Erfahrungen knüpft nun die feinsinnig aus den Erlebnisqualitäten der modernen Architektur herauswachsende Interpretation Stolls an, Ausgangspunkt ist für ihn die Feststellung des Dominikaners Couturier, „daß sich Flächen und Formen hier mit der Empfind’im- keit und Freiheit lebendiger Organismen entwickeln, doch zugleich auch der Strenge unterworfen bleiben, die Funktion und Zweck des Organischen lenkt”. „Kraftvoll”, „feinnervig” und „bewegt” hatte schon Henze diesen „Baldachin” genannt. In diesem Sinn wird nun das Spottwort von der „organischen Knochenerweichung” positiv gerade als eine „menschlichere” Note in der Formensprache der Architektur verstanden. Diese „organischen” Formen führen aber nicht im Sinne einer genießerischen i,Einfühlung” zu weicher Vertraulichkeit und einem Mangel an „Ausdruck des ganz anderen”, sondern durch die Eigenart und Dynamik ihrer Fügung zu jener „Fremdheit”, die man wieder als ein Attribut des Heiligen schätzt. Es ist in dieser Hinsicht eher eine Uebersteigerung (Schade) festgestellt worden. Architektonisch ergibt sich daraus, wie Stoll zusammenfaßt, die „Raumplastik”, die im zeitgenössischen Bauen auch sonst bemerkbare Raumbildung „mit gekrümmten Volumen”, sodann „Raum und Masse in bewegtem Austausch”, schließlich die „Begegnung von Lasten und Tragen als Kurve und Schwingung”. Es wird deutlich gemacht, wie all diese Gesichtspunkte auch für das Verhältnis des Baues zu seiner Umgebung gelten. Auch sonst findet man selbst bei strenger Kritik häufig diese Anerkennung mittelalterlich ajr- mutender Instinktsicherheit, mit der das Bauwerk symbolträchtig „in den Kosmos hineingestellt” erscheint, nach Norden und Westen geschlossen, nach Süden geöffnet, nach Osten bergend über den Vorplatz ausgreifend usw. (H. Schade).

Stoll bezeugt auch eindeutig die Sakralität des Baues. Abgesehen von der Zweckmäßigkeit als Wallfahrtskapelle war sie für manche schon mit der Qualität der künstlerischen Schöpfung gegeben (Couturier), offenbart sich aber deutlich einerseits gerade in der „Neuartigkeit, im Ungewohnten der Gestalt”, anderseits gerade im Erlebnis des einmaligen Kräftespiels und seiner irrationalen Undurchschaubarkeit. „Das Sniri- tuelle steht hier im Gegensatz zum Intellektuellen…”, das Sakrale ist hier unmittelbar aus dem heutigen Leben geboren.

Hans Urs von Balthasar krönt die Analyse, indem er im Geleitwort den theologischen Horizont der christlichen Deutung dieses ungewöhnlichen Sakralbaues angibt. Er sieht die ganz aus der Zeit geborene Kapelle in Zusammenhang mit einer allgemeinen Baubewegung der Gegenwart, mit „Brücken, Straßenführungen, Häusern, deren Gewicht man nicht mehr fühlt”. „Freude und Hoffnung” leuchtet aus dem Bau, weil hier ein geistvolles Werk ist. Die „wie ein Wunder anmutende Erhebung” über bloßes Können und beherrschte Technik zeigt sich hier in einem „Ingenium” des Menschen, das als „Abbild der göttlichen Weisheit nur noch spielt”. Es ist „das Spiel des einzelnen, freien, freigewordenen Geistes aus der Kraft seiner schaffenden Phantasie, ein Spiel, das uns Beschwerte mit Herrschergebärde ins gleiche Reich wesenhafter Freiheit emporreißt”. Die vorhandenen Ketten der Zweckbindung werden nicht mehr fühlbar.

Begegnung mit Ronchamp wollte das gediegene neue Buch bezeugen und vermitteln. Sie führte bis zu der Begegnung mit dem „Walten …des Heiligen Geistes” inmitten der fragwürdigen menschlichen Leistung. „Mag dem Werk ein Ringen um die Höhe und das Spiel noch anhaften … mag eine subjektive Note die ungehinderte Traditionsbildung erschweren”, mag sich auch die Gefahr sinnlosen Kopierens abzeichnen: das Wesentliche ist in Ronchamp gerettet: „die Einfalt des Geistes”.

So öffnet die Kapelle von Ronchamp nicht nur das Auge für den Sinn noch ungewohnter neuer Formen im Sakralbau, sondern erweist sich auch als ein grundsätzlicher Beitrag zum gläubigen Verständnis der Gegenwart.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung