6745783-1967_08_03.jpg
Digital In Arbeit

Liberal-Sein in osterreich

Werbung
Werbung
Werbung

Ad 1.: Die letzte Auflage des Brockhaus-Lexikons widmet dem Begriff Liberalismus immerhin neun Spalten, und das Herder-Lexikon ist noch ausführlicher — ohne erschöpfend zu sein. Und Ihre Frage, ob der Liberalismus heute noch eine eigenständige Gesinnung ist oder zu einer unverbindlichen Interpretation verschiedener Lebensumstände geworden ist, differenziert nicht einmal zwischen politischem, wirtschaftlichem, intellektuellem, radikalem,gemäßigtem, konservativem, christlichem oder atheistischem Liberalismus. Um sich überhaupt an die Beantwortung der von Ihnen gestellten Frage zu wagen, muß man auf die simple Definition des Brockhaus-Lexikons von 1894 zurückgreifen: „Liberalismus“ ist „Ausdruck liberaler Gesinnung“. Mir will scheinen, daß die Grundsätze des Liberalismus immer noch am besten in John Stuart Mills Essay „On liberty“ formuliert worden sind, der im Fortsehritt der Geschichte die unaufhörlichen Auseinandersetzungen zwischen Freiheit und Autorität gesehen hat, und der der Autorität nur in jenem einzigen Falle das Recht zugestand, die Freiheit des Individuums zu beschränken, wenn aus der Freiheit eines einzelnen Schaden für einen anderen einzelnen erwachsen sollte. Hierin liegt, meines Erachtens, der Grundgedanke des Liberalismus: daß die Freiheit des einzelnen nur beschränkt werden dürfe, wenn ein anderer einzelner Schaden nimmt — nicht aber der Staat, die Nation, die Partei, die Klasse usw., jene Begriffe, in deren Namen immer wieder die Freiheit eingeengt, ja vernichtet wird. Und wir können nicht oft genug jenen Kernsatz wiederholen, in dem J. St. Mill seine Ausführungen gipfeln läßt: Und wäre die ganze Menschheit einer Meinung und nur ein einziger Mensch der gegenteiligen Ansicht, so hätte die Menschheit nicht mehr Recht, ihn zum Schweigen zu bringen, als er das Recht hätte, die Menschheit zum Schweigen zu bringen.

Auf diesen Grundgedanken zurückgeführt, kann Liberalismus gar keine eigenständige Gesinnung, sondern sollte doch eigentlich über alle Weltanschauungen hinweg die Basis der menschlichen Beziehungen sein. Es war das Verderben des Liberalismus, daß diese Grundgesinnung aus einer bestimmten historischen Kampfstellung heraus verdrängt wurde durch eine starre Dogmengesinnung. Mir will scheinen, daß das, was man heute unter dem Begriff „Dialog“ in die menschlichen Beziehungen einführt, im Grunde nur die dem Stil unseres Jahrhunderts angepaßte Erscheinungsform echter liberaler Gesinnung ist; als Papst Paul VI. im Herbst 1965 vor den Vereinten Nationen seinen erschütternden (und seither so mißachteten) Appell zum Frieden an die Welt richtete, da sprach er von den „Grundrechten und Grundpflichten des Menschen, seiner Würde, seiner Freiheit und vor allem der Religionsfreiheit“. Es waren die Forderungen des Liberalismus, die hier aus dem Mund des Oberhauptes der katholischen Kirche erklangen. Und als er diesen Worten hinzufügte: „denn es handelt sich vor allem um das Leben des Menschen, und das Leben des Menschen ist heilig: niemand darf daran Hand anlegen“, da hat er, so will mir scheinen, die Kluft überbrückt, die Liberalismus und Konservatismus so lange getrennt hat, da war mit diesen Worten die Erkenntnis ausgesprochen, daß liberal sein, denken und handeln mehr ist als bloß unverbindliche Interpretation verschiedener Lebensumstände.

Ad 2.: Schwieriger ist es, die Frage nach der Situation des Liberalismus in Österreich zu beantworten. Schwieriger schon deshalb, weil es — überspitzt gesagt — trotz aller historischen Werke, die darüber geschrieben wurden, in Österreich nie einen echten Liberalismus gegeben hat. Die österreichischen „Liberalen“ des 19. Jahrhunderts waren antiklerikale Josephiner und deutschnationale Zentralisten, für sie stand der Staat oder die Nation, nie aber das Individuum, der einzelne Mensch, im Mittelpunkt des politischen Handelns. Und so ist es leider bis heute geblieben. Der Begriff der „Amtsehre“ allein zeigt schon, wie wenig wirklich „liberale“ Gesinnung das öffentliche Leben leitet; (— und daß ein junger Soldat, der sich in seiner Freude über das Abrüsten betrinkt und dann mit dem Leutnant, der dafür kein Verständnis hat, in Streit gerät, zum Abschied vom Bundesheer mit einem Jahr Kerker bestraft wird, das ist doch Beweis genug dafür, daß es mit liberaler Gesinnung bei maßgebenden Kreisen in Österreich nicht weit her sein kann!) Nachdem alle anderen Götzen politischer Weltanschauungen langsam die Gewalt über den Menschen verloren haben, wird bei uns die Neutralität zum neuen Fetisch erhoben, in dessen Namen die Freiheit des einzelnen wieder beschränkt werden kann, weil man vorgibt, daß sie von außen bedroht ist. Die Mitte der sechziger Jahre findet uns in einer seltsamen antagonistischen Situation: der „Liberalisierung“ im weltanschaulich-parteipolitischen Bereich, die fast schon zu der Bereitschaft geführt hat, dem Andersdenkenden ebenfalls eine positive, konstruktive Zielsetzung zuzuerkennen, steht eine bedenkliche Verabsolutierung sogenannter staatspolitischer Forderungen entgegen — übrigens nicht eine ausschließlich österreichische Erscheinung. Daß jene große Friedensbotschaft Papst Paul VI. vor den Vereinten Nationen in Österreich im Manövergeschrei untergehen konnte, das scheint mir Zeugnis dafür, daß wir bei allem Lippenbekenntnis zur Freiheit des Menschen noch weit entfernt von wahrer liberaler Gesinnung sind, daß wir doch noch nicht dazu gefunden haben, wirklich den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt unseres Denkens zu stellen und zum Ziel unseres Handelns zu machen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung