Agnes Heller - Ágnes Heller<br />
Die ungarische Philosophin wurde am 12. Mai 1929 in Budapest geboren. Sie hat das böse Ende der Horthy-Diktatur und die Shoah<br />
erlebt und die Gewalt der stalinistischen Gesellschaftsordnung. - © Foto: Wikipedia / Arild Vågen (cc by-sa 4.0)

Lob des Eigensinns

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Sie ist eine Zeugin des 20. Jahrhunderts, das Kernstück ihres umfangreichen Œuvres scheint die Ethik zu sein: Die ungarische Philosophin Ágnes Heller feiert am 12. Mai ihren 90. Geburtstag.

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Sie ist eine Zeugin des 20. Jahrhunderts, das Kernstück ihres umfangreichen Œuvres scheint die Ethik zu sein: Die ungarische Philosophin Ágnes Heller feiert am 12. Mai ihren 90. Geburtstag.

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Dem Namen von Ágnes Heller bin ich schon sehr früh begegnet, nämlich 1974, in einem dieser unscheinbaren und zugleich intellektuell gewichtigen Merve-Bändchen. Dort stellten die Vertreter der Budapester Schule, Ágnes Heller, ihr (zweiter) Mann Ferenc Fehér, András Hegedüs und György Márkus, die Neue Linke in Ungarn vor. Das war ein riskantes Unterfangen, hatten sich doch in unseren Nachbarländern nach dem gescheiterten Prager Frühling die Türen und Fenster zum demokratischen Sozialismus wieder geschlossen – drei Jahre später verließ Heller nicht ganz freiwillig Ungarn.

Die neuen, kritischen Linken, die es damals in Ungarn oder auch in Polen (Jacek Kuroń, Leszek Kołakowski) durchaus (noch) gab, passten übrigens, nachträglich betrachtet, nicht besonders gut zu jenen jungen im Westen, die sich von Sozialdemokraten und laschen Kommunisten absetzten. Während die einen, ähnlich wie etwa die Eurokommunisten in Italien, später auch in Griechenland und Spanien, sich zunehmend von ihren bolschewistischen Traditionen verabschiedeten und einen Weg einschlugen, der in Richtung Sozialdemokratie wies, radikalisierten sich die anderen, die aus dem Mai 1968 entstandenen westlichen Linken, und geißelten im Namen von Lenin, Stalin oder Mao den Frieden, den der organisierte Marxismus mit der bürgerlichen Gesellschaft schließen wollte.


Kronzeugin des 20. Jahrhunderts


Mit der Ho-Chi-Minh-Linken hatte Ágnes Heller, 1929 in eine bürgerlich-jüdische Familie hineingeboren, wenig am Hut, sehr viel mehr mit jener in Belgrad und Zagreb beheimateten Praxis-Gruppe und ihren sommerlichen Treffen im jugoslawischen Korčula, bei denen Brückenschläge zwischen Marxismus und Zivilgesellschaft erprobt wurden – ein heute verschattetes Projekt, das nach dem Scheitern des Prager Frühlings niemals mehr eine historische Chance bekam.

Persönlich kennengelernt habe ich Heller indes viel später, in den 1980er-Jahren, aber noch vor dem Zusammenbruch der ‚realsozialistischen‘ Regime. Es waren die kurzen Jahre der Postmoderne, jene Periode, die im engeren Sinn nur ein Jahrzehnt gedauert hat, während sie – weiter und nicht rein zeitlich gefasst – bis heute anhält. Sie ist dadurch charakterisiert, dass die Geschichte mit dem Ende des Sozialismus ihre säkulare Transzendenz, die Schaffung einer ganz anderen Welt, eingebüßt hat. Restbestände sind das Festhalten an der Freiheit des Menschen, besonders der Meinungsfreiheit, das Programm der Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und die Hoffnung auf eine ökologische Wende. In diesem Kontext entfaltet Heller ihre Fähigkeit, mit Jürgen Habermas ebenso in einem freundschaftlichen Verhältnis zu stehen wie seinerzeit mit Jacques Derrida, mit dem sie ein Seminar zum Thema Freundschaft gestaltet hat und den sie höchst respektvoll als den „größten Interpreten“ bezeichnet.

Ágnes Heller, aus einer ungarisch-österreichischen Familie stammend, ist eine Kronzeugin des kurzen 20. Jahrhunderts. Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geboren, hat sie das böse Ende der Horthy-Diktatur und die Shoah, der die damals 15-Jährige nur haarscharf entging, ebenso erlebt wie die Schaffung einer durch Druck, Tricks und schiere Gewalt etablierten stalinistischen Gesellschaftsordnung. In diese Zeit fallen ihre Studienzeit und der Beginn einer akademischen Karriere als zeitweilige Assistentin von György Lukács, dem nicht nur renommiertesten Philosophen Ungarns, sondern auch einem weltweit gelesenen Denker.

All das lässt sich in ihren Lebenserinnerungen nachlesen, die den schönen Titel „Der Wert des Zufalls“ (2018) tragen, etwa wie das junge Mädchen kurz vor der drohenden Internierung durch die Pfeilkreuzler, die ungarischen Nazis, noch einmal in die Oper geht, oder wie sie bei der ersten Vorlesung von György Lukács kein Wort versteht und deshalb beschließt, Philosophin statt Chemikerin zu werden. Ich habe diese Geschichten im Ohr, sie hat sie dem jungen Germanisten seinerzeit, in den 1980er-Jahren, im Bayerischen Rundfunk erzählt, als sie das ins Trudeln geratene Boot namens Marxismus bereits verlassen hatte und zu neuen Ufern aufgebrochen war.

Ágnes Heller hat die Shoah im Gegensatz zu ihrem Vater, zu Familienangehörigen, Freunden und Bekannten nicht zuletzt durch Geistesgegenwart nicht einfach nur überlebt, sie hat dieses Leben nach Auschwitz mutig und erstaunlich optimistisch in die eigenen Hände genommen. Ein Leben, das stets von äußeren Ereignissen bedroht war, 1944, 1949–1953, in der Phase des harten Stalinismus auch in Ungarn, nach 1956 und nach 1968. 1977 verließ sie – Arrangement mit dem Kádár-Regime – Ungarn, um, spät genug, im Ausland, zunächst in Australien und später in den USA, akademische Karriere zu machen. Sie wurde mit einer Professur an der renommierten New School for Social Research belohnt – mit dem Lehrstuhl, den Hannah Arendt innegehabt hatte. 1989 kehrte sie nach Ungarn zurück; einige der samtenen ungarischen Revolutionäre wie der spätere Bürgermeis­ter Gábor Demszky waren alte Freunde und Weggefährten.
2011 haben wir uns wieder getroffen, als Andrea Seidler und ich sie an die Universität Wien einluden, um einen Vortrag über Lukácsʼ berühmte, hundert Jahre zuvor erschienene Aufsatzsammlung „Die Seele und die Formen“, ein Manifest der Moderne, zu halten. Die Veranstaltung konnte wegen diverser Drohungen nur mit Saalschutz durchgeführt werden. 2010 war Victor Orban wieder an die Macht gekommen und Aufmärsche rechtsextremer bewaffneter Gruppen wurden wieder Teil des ungarischen Alltagsbilds – Sympathisanten gab es auch in Wien.

So ein langes Leben: Bemerkenswert daran sind die Energie, der Optimismus, Witz und Humor. Weibliche Klugheit. Die ‚kleine Frau‘, sofort imstande, einen Kaffeehaustisch, aber auch eine Aula zu füllen, kann als lebender Beweis dafür gelten, dass es besser ist, tatkräftig einzugreifen, statt wehleidiges Opfer zu sein. Ágnes Heller ist – sympathisch altmodisch – eine intellektuelle Persönlichkeit. Im Unterschied zu vielen über autoritäre und nationalistische Entwicklungen Empörten von heute, lässt sie sich nicht von ihrer Abneigung täuschen. Scharfsinnig fasst sie die Stärken ihrer Widersacher ins Auge. Sie praktiziert eine souveräne Offenheit, die sie ungeachtet der orthodoxen Positionen von Lukács an ihm positiv würdigt.
Wer der Shoah und dem Gulag entkommen ist, der kommt nicht umhin, die Verletzung von Menschenrechten ganz generell zu markieren, ob sie nun von links oder von rechts erfolgen. So findet Heller für Venezuelas Machthaber nicht weniger klare Worte als für den Diktator zu Hause. Dass die einstige Zionistin eine einigermaßen unglückliche, aber unbeirrbare Liebe mit Israel verbindet, darf dabei nicht weiter verwundern. Das ist, um ein Lieblingswort von ihr zu gebrauchen, eine Frage des Anstands.
Hellers Werk ist umfangreich. Ihre Bücher über Alltag und Bedürfnisse waren wegweisend und standen noch in der Tradition eines (post-)marxistischen Diskurses, den schon Lukács um diese Themen erweitern wollte. Darüber hinaus hat die ungarische Ausnahmephilosophin eine bis heute lesenswerte Studie über die Renaissance verfasst. Sehr viel später hat sie sich einem literarisch-philosophischem Thema zugewandt, dem Komischen, das ihr zufolge das Tragische überlebt habe, freilich – von Don Quichotte über Beckett bis zu Kundera – in einer nicht besonders heiteren Form.

Kernstück ihres Œuvres scheint mir freilich ihre Ethik zu sein. Ethik bildet jene Leerstelle der Marx’schen Theorie, die sie charakterisiert und konstituiert. Sie ist nicht Anwendung, sondern Kernstück einer Philosophie, die stets, und das ist das positive Erbe von Marx, praktisch ist. In ihr spielt Gerechtigkeit eine maßgebliche Rolle, wobei Heller zwischen einer statischen und einer modernen dynamischen Form unterscheidet, in der die „beiden universalen Ideen der Moderne Freiheit und Leben“ oftmals in Widerstreit zueinander geraten. In der Moderne besteht das Paradox, dass Gerechtigkeit immer umstritten und kontextuell ist, deren Geltung aber stets verbindlich sein muss: „Eine soziale Ordnung kann immer dann als relativ gerecht gelten, wenn eine erhebliche Mehrheit der Gesellschaft sie für gerecht hält.“ Das setzt eine Welt voraus, in der die Menschen ihre Meinungen frei äußern können. „Eine total gerechte Gesellschaft ist unmöglich und gar nicht wünschenswert.“ Wie alle Versuche seit der Französischen Revolution, sie herzustellen, zeigen, schlägt sie nämlich stets in ihr Gegenteil um. Die Ethik bleibt transzendental unbehaust, aber das bedeutet nicht, dass sie marginal wäre. Ganz im Gegenteil.

Grundlagen der Moderne

Ágnes Heller erinnert uns daran, wie wichtig es ist, sich der Grundlagen der Moderne bewusst zu werden, sie immer wieder neu zu bestimmen und sie offensiv, über die akademische Welt hinaus, ins Spiel zu bringen. Das Erstaunliche an Hellers Gesamtschau der Moderne ist, dass ihr Pathos und Dramatik völlig fremd sind, obschon ihre Lebenserfahrungen von Brüchen gekennzeichnet sind, die Gefahr für das eigene Leben mit sich gebracht haben. Die Hinwendung der jungen Philosophin zu Marx war, anders als ein oder zwei Generationen zuvor, nicht mehr bedingungslos, deshalb musste der Abschied von seiner großen Idee, anders als etwa im Falle ihres Landsmanns Arthur Koestler, auch nicht bedingungslos ausfallen. Im Gespräch zu bleiben mit jenen, mit denen man nicht (in allem) übereinstimmt und nicht in den eigenen kleinen selbstgeschaffenen Blasen zu leben, das tut gerade in einer Zeit not, in der nicht zuletzt durch die Dynamik des digitalen Netzes ein brisantes Gemisch von Wehleidigkeit, Empörung und Opfer-Eitelkeit entstanden ist, das die Kunst der Auseinandersetzung, die Differenz, Respekt und Widerstreit beinhaltet, unterminiert. Wenn zum Beispiel ein slowenischer Philosoph sich kritisch zum Thema Feminismus und weibliche Nacktheit äußert, wäre das doch eher ein Grund mit ihm zu streiten, als ihn in einer Parallelaktion mit der Inbrunst der Empörung zu beschimpfen.

Kultur ist ein Gemeinschaftswerk, in dem Freundschaften eine ebenso maßgebliche Rolle spielen wie der faire Streit. Vielleicht besteht darin die entscheidende Überlegenheit jener oft gering geschätzten westlich-liberalen Kultur, die stets von sich selbst bedroht ist. Ágnes Heller hat diese Bedrohungen am eigenen Leibe erfahren, vermutlich macht diese Erfahrung sie so unnachgiebig in ihrem Einsatz gegen die Wiederkehr des Nationalismus und für die Immanenz einer europäischen Welt, in der die Menschenrechte uneingeschränkt Geltung besitzen – so ihre Botschaft vor zwei Monaten auf einer Konferenz in Rom mit dem Titel „Die Grenzen Europas“.

Der Autor ist Literaturtheoretiker und Kulturphilosoph, war Professor für Kultur­wissenschaften in Birmingham und Wien. Lehr- und Forschungstätigkeit, zuletzt am IWM in Wien, in Rom und in Oslo.

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