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Lyssenko

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Vor kurzer Zeit berichtete die Tagespresse über Angriffe, die sich von maßgeblicher Seite gegen den Diktator der Biologie in der Sowjetunion, T. D. Lyssenko, und die von ihm vertretene Schule richteten. Einem mächtigen Günstling Lyssenkos wurde vorgeworfen, der Entwicklung der Landwirtschaft schweren Schaden zugefügt und sich hohe akademische Würden erschlichen zu haben. Das Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei brandmarkte die Lyssenkoisten als „wissenschaftliche Monopolisten“. Man vermutete den bevorstehenden Sturz T. D. Lyssenkos, der vor gar nicht langer Zeit noch durch höchste Auszeichnungen geehrt worden war. Was wirklich vorgeht, ist undurchsichtig — und auch sicher schwer verständlich für die freie Welt, in der man nicht gewohnt ist, naturwissenschaftliche Fragen in unlösbarer Verknüpfung mit weltanschaulicher Ideologie und mit der Dynamik politischer und wirtschaftlicher Entwicklung abgehandelt zu sehen. Wenn es wirklich zum Sturz dieses Mannes kommt, dessen Name zu einem Symbol der widersprechendsten Urteile geworden ist, so würde dies, das tragische Ende der Laufbahn eines offenbar durchaus ehrlichen Fanatikers bedeuten, aber wohl sicher nicht das Ende jenes tragischen Risses, der die geistige Fialtung der Menschheit in zwei unversöhnliche, einander grundsätzlich mißverstehende Lager zu trennen scheint.

Die sogenannte „neue, fortschrittliche Genetik in der Sowjetunion“ hat in der freien Welt viel Aufsehen erregt, besonders seit 1948 durch eine Entscheidung der höchsten Parteistellen Lyssenko und seine Richtung zur unbeschränkten diktatorischen Macht gelangt waren. Man hat die wissenschaftliche Seite der Angelegenheit vielfach überschätzt, ihre geistesgeschichtliche Bedeutung und die psychologischen Seiten der Bewegung jedoch meist unterschätzt. Daß die Reaktion der freien Wissenschaft eine vorwiegend scharfe, verärgerte Ablehnung war, darf niemand wundern. Die Bücher und Arbeiten der neuen Schule, die zum Teil in Uebersetzun- gen verbreitet und bekannt geworden sind, zeigen oft eine so abstruse Mischung von Dilettantismus, unsachlicher- Berichterstattung und maßlosen Angriffen gegen allgemein anerkannte wissenschaftliche Grundlagen, daß es dem wissenschaftlich Geschulten schwerfällt, sie ernst zu nehmen. Sie sind im erregten, übertriebenen und aggressiven Ton politischer Propagandareden geschrieben, was unserer Auffassung von wissenschaftlicher Objektivität völlig widerspricht. Vor allem aber mangelt es ihnen meist in hohem Maß an jenen methodischen Angaben und kritischen Voraussetzungen, die eine Vorbedingung für die Wiederholbarkeit von Versuchen und für die Einordnung von Resultaten in das bisherige Wissensgut sind und damit eine selbstverständliche Forderung für die erfahrungswissenschaftliche Arbeit darstellen. Trotzdem kann man der „westlichen“ Wissenschaft nicht den Vorwurf machen, daß sie sich nicht um eine experimentelle Klärung der Widersprüche bemüht hätte. Gerade die aufsehenerregendsten Behauptungen Lyssenkos, die angebliche’ Veränderung des Erbgutes durch Pfropfung, und gewisse Versuche über die Vererbung erworbener Eigenschaften, wurden — zum Teil sogar jenseits des. Eisernen Vorhangs — in sehr umfangreichen. Versuchen nachgeprüft, jedoch mit vollkommen negativem Resultat. Andere Behauptungen seiner Anhänger, wie die Umwandlung von Roggen in Weizen und zahlreiche noch phantastischere Artumwandlungen, sind so unsinnig und werden in so unsolider Form mitgeteilt, daß man wirklich von niemandem verlangen kann, daß er sich mit der Wiederholung solcher Experimente abgibt. Es hat nicht an wohlgemeinten Versuchen gefehlt, die Anschauungen der Lyssenkoisten mit der wirklichen Problematik der modernen Genetik und Evolutionsforschung zu konfrontieren und aus ihnen neue Gesichtspunkte für eine gesunde Kritik der Begriffe Gen, Mutation, Anpassung usw. zu gewinnen. Diese Versuche blieben erfolglos, Lyssenko selbst aber lehnt jeden Kompromiß und jede Diskussion mit der wissenschaftlichen Genetik empört ab, denn er hält diese für grundsätzlich verfehlt, aus weltanschaulichen, aus philosophischen Gründen;

Und hier liegt der wichtige Angelpunkt, um den die Diskussion, immer wieder zur Ergebnislosigkeit. verurteilt, kreisen muß. Lyssenko stellt eine Reihe von merkwürdigen, in sich selbst oft widerspruchsvollen und den gesicherten Ergebnissen der wissenschaftlichen Biologie oft entgegengesetzten Theorien auf, so von der „Assimilation der Umweltbedingungen durch den Organismus“, von der selektiven Befruchtung, von der obligaten Dominanz biologisch günstiger Erbanlagen und so weiter, die in dem Begriff von der „Natur“ des Organismus und deren Veränderlichkeit gipfelt — vitalistische Theorien in eigentümlich materialistischer Verkleidung. Für die Begründung dieses Theoriengebäudes beruft er sich letzten Endes und in der verbindlichsten Form auf den Diamat, die unerschütterlichen Grundsätze des dialektischen Materialismus, Eine Philosophie, eine Weltanschauung, die mit dem Glaubenseifer einer pseudoreligiösen Ueberzeugung vertreten wird, ist also Ausgangspunkt, Maßstab und Richtlinie für die Erfahrungswissenschaft, nicht aber die Erfahrung. Daher auch die uns so primitiv anmutende Mythologisierung der Autoritäten, wie Darwin, Timirjazew und Mitschurin, und die Dogmatisierung überholter Meinungen. Der Totalitätsanspruch des Diamat läßt gar keine andere Vorstellung zu als die, daß auch die Erfahrung, daß auch alle Wissenschaften immer .wieder nur zur Bewährung seines Dogmensystems führen müsse und daher die höchste Autorität dieses Systems auch die höchste Autorität in allen fachwissenschaftlichen Fragen sei „Der Führer hat immer recht, der Führer behält immer recht"!. Für manche der in der denkwürdigen Sitzung der Lenin-Akademie 1948. gemaßregelten sowjetischen Vererbungsforscher mag daher ihr Widerruf ein echter Gewissenskonflikt gewesen sein. Für den in der landwirtschaftlichen Praxis hochverdienten, aber ohne regelrechte wissenschaftliche Vorbildung emporgekommenen, ehrgeizigen Fanatiker Lyssenko besteht hier kein Konflikt, er ist bedingungslos diamatgläubig. Er und seine Gesinnungsgenossen vermögen daher in der wissenschaftlichen Genetik der freien Welt auch gar nichts anderes zu sehen als ein philosophisch-politisches Lehrgebäude von idealistischer Prägung. Sie mythologisieren den katholischen Priester Mendel, den deutschen Geheimrat Weismann und den amerikanischen Kapitalisten Morgan und dogmati- sieren willkürlich herausgegriffene überholte Formulierungen zu einem Phantom, ganz nach dem Muster des Diamat, nur mit entgegengesetzten Vorzeichen. Sie halten es sicher für Heuchelei, wenn die erstaunten Wissenschaftler der freien Welt beteuern, daß sie doch lediglich ein erfahrungswissenschaft- iches Lehrgebäude zu vertreten hätten und keinerlei Philosophie oder politische Ideologie.

Aus dieser Verschiedenheit in der Grundeinstellung ergibt sich auch eine weitere Quelle des Mißverständnisses. Die Lyssenko- isten betonen immer wieder, daß jene wissenschaftliche Theorie die richtige sei, auf Grund derer man die größten praktischen Erfolge erzielen könne, und verweisen dabei auf Erfolge der russischen Landwirtschaft, die sie auf ihre Theorien zurückzuführen glauben. Sic berauschen sich an dem Ausspruch Mitschurins: „Wir können von der Natur keine Geschenke erwarten, sie selbst zu nehmen, ist unsere Aufgabe.“ Nach dem Diamat ist der neue Mensch berufen, die Welt nach seinem Willen umzugestalten und so das irdische Paradies zu verwirklichen. Diesem Glaubensartikel muß sich auch die Erfahrung unterordnen. denn: „Wenn man ein bestimmtes Ergebnis haben will, dann erreicht man es auch“ Lyssenko. Nach unserer Auffassung ist jedoch die Biologie als Grundlagenwissenschaft eine reine Erfahrungswissenschaft, die nach den bewährten empiristischen Methoden an der Erschließung einer objektiv gegebenen Ordnung arbeitet, wie alle anderen Naturwissenschaften. Der Drang nach Erkenntnis ist das primäre Motiv dieser Arbeit. Der praktischen Nutzung dienen die angewandten Wissenschaften, wie Landwirtschaftswissenschaften, Technik, Medizin. Sie fußen auf den Erkenntnissen der Grundlagenwissenschaften und stellen ihrerseits die Richtlinien für die Praxis selbst auf, die ihrem Umfang und ihrer Ausrichtung nach von den außerwissenschaftlichen Kräften der Wirtschaft und der Organisation bestimmt wird. Ein großer Teil der grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnisse ist zunächst oder auch für alle Zeiten praktisch nicht nutzbar, z. B. die Erkenntnisse der Astronomie. Deswegen sind sie für uns als wesentliche Teile des erfahrungswissenschaftlichen Weltbildes nicht weniger wertvoll oder nicht weniger „wahr“. Umgekehrt können wir es uns ohne weiteres vorstellen, daß praktische Erfolge — etwa durch organisatorische Verbesserungen — auch auf Grund einer falschen oder unvollkommenen grundlagenwissenschaftlichen Theorie erzielt werden können oder daß die zu solchen Erfolgen führenden Maßnahmen grundlagenwissenschaftlich falsch interpretiert werden. Ein dauernder Fortschritt ist allerdings nur bei einer fortdauernden freien Entwicklung der Grundlagenwissenschaft vorstellbar. Versiegt diese oder gerät sie auf falsche Bahnen, so muß wohl notwendigerweise auch der praktische’ Fortschritt, veröden. Ein momentaner praktischer Erfolg ist jedoch kein unmittelbarer Beweis für die Richtigkeit einer grundlagenwissenschaftlichen Theorie. Auch meinen wir, daß die in der Natur gegebene Ordnung dem praktischen Fortschritt gewisse unüberschreitbare Grenzen setzt, seine Richtung und sein Ausmaß bestimmt. Die weltanschauliche Deutung und Wertung dieser reinen Erfahrungstatsache ist eine andere Frage.

Wie hat nun die freie Welt zu dieser geistesgeschichtlich so bedeutsamen Verschiedenheit in den Grundanschauungen Stellung genommen? Viele Fachleute haben sie einfach übersehen und begnügen sich mit einigen empörten Bemerkungen über die Unterdrückung der freien Forschung in der Sowjetunion. Es hat jedoch auch nicht an Aeußerungen gefehlt, die gewisse, wenn auch bedingte Sympathien für Lyssenko verraten — selbst wenn man von den auf der Parteilinie liegenden Apologien absieht. So versucht ein deutscher Berichterstatter seinen Lesern die Situation dadurch zu erklären, daß er feststellt: „Aehnlich wie in der katholischen Kirche kann in der Sowjetunion eine dem Dogma widersprechende Meinung nicht aufkommen, während anderseits unrichtige Ansichten, nur weil sie den Diamat stützen könnten, keineswegs Förderung erfahren.“ Dieser Herr scheint nicht viel vom Wesen des katholischen Dogmas und des Lehramtes der Kirche zu wissen. Trotzdem dürfte seine Meinung in gewissen liberalistischen Niederungen des westlichen Geisteslebens manche Anhänger finden, besonders in Amerika und dem England Arnold Toynbees. Haben sich alle diese Leute noch nie Gedanken darüber gemacht, warum es gerade nur in dem vom Christentum geprägten europäischen Kulturkreis zu einer so ungeheuer erfolgreichen Entfaltung der Erfahrungswissenschaften gekommen ist, warum gerade nur in dieser von der christlichen Philosophie geklärten Atmo- Siehe „5X’ie die Götter . . .", „Furche", 4. Jahrgang, Nr. 40, ferner „Der Sieg der fortschrittlichen Biologie in Rußland", „Furche", 4. Jahrgang. Nr. 52, und „Mitschurin, der Materialismus und das Leben", „Furche", 4. Jahrgang, Nr. 42.

Sphäre die erfahrungswissenschaftliche Methodik bis zu einem solchen Grad verfeinert und gereinigt werden konnte? Ist es ihnen noch nicht aufgefallen, daß jene Geisteshaltung, die vor mehr als 150 Jahren aufgebrochen ist, um im Namen der Vernunft und mit den Mitteln des wissenschaftlich gelenkten Fortschritts den Menschen das Paradies auf Erden zu bringen — daß unter ständiger Verdünnung und Aushöhlung der christlichen Substanz die legitimen Erben eben dieser Geisteshaltung in roter oder brauner Couleur es nun glücklich so weit gebracht haben, die Erfahrungswissenschaften in die Zwangsjacke ihrer Ideologien zu stecken, um ihren pseudoreligiösen Systemen die fehlende innere Kraft durch den Mythos einer Scheinwissenschaft zu ersetzen?

Es ist eine persönliche Tragik Lyssenkos, daß ihm nun mangelhafte Bewährung seiner Theorien in der Praxis und wissenschaftlicher Formalismus vorgeworfen werden, die gleichen Beschuldigungen, mit denen er seine wissenschaftlichen Gegner am empfindlichsten zu treffen glaubte. Es wird aber notwendigerweise immer wieder zu dieser Situation kommen müssen, solange der Totalitätsanspruch materialistischer Ideologien die Erfahrungswissenschaften ihrer methodischen Autonomie berauben und ihnen ihre Resultate und den Weg ihrer Theorienbildung aus ideologischen Gründen vorschreiben will. Es kann die Tragik eines ganzen Zeitalters werden, wenn sich die Menschen nicht auf die einzige weltanschauliche Grundlage besinnen, die diese Autonomie der Erfahrungswissenschaften gewährleisten kann, den Glauben an Gott, die Anerkennung der gegebenen und erschließbaren Ordnung seiner Schöpfung und die Begründung des wissenschaftlichen Strebens und des menschlichen Fortschritts im göttlichen Sittengesetz. In dieser verwirrten Zeit wenden sich die Augen der Wissenschaftler, auch solcher, die nicht bewußt Christen sind, zum Stuhl Petri, von wo immer wieder die mahnenden Worte eines großen Papstes das klare Verhältnis von Glaube und Wissen umreißen, die Wissenschaftler aufrufen zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

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