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Macht Martin Heidegger kehrt?

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Karl Löwith, Professor in Heidelberg, der sich selber als Schüler Martin Heideggers bekennt (76), versucht (Karl Löwith, Heidegger, Denker in dürftiger Zeit, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1953, Preis 5.80 DM), Heidegger mit Heidegger in Frage zu stellen. Er weiß um das Berückende seiner Philosophie und hat es vielleicht an sich selber erfahren, aber jetzt will er es wagen, „zwischen den beiden Extremen der Faszination und Abstoßung einen kritischen Mittelweg zu gehen" (8), und „Heideggers Monolog mit der abendländischen philosophischen Tradition zur Erörterung zu.stellen".-Frage: Ist Heideggers Weg von seinem Hauptwerke „Sein und Zeit" (1927), dessen zweiter Teil wohl angekündigt, aber nicht erschienen ist, zu seiner Schrift „Humanismus" (1947) und seinen unter dem Titel „Holzwege" gesammelten Vorträgen (1950) eine Konsequenz seines Ausganges und damit Ersatz des nichterschienenen zweiten Teiles oder eine „Kehre"? Welche Kehre? Die von „Sein und Zeit" zu „Zeit und Sein"? (Dazu S. 21, 24—26, 29 ff., 39 f., 42, 56 f., 61 ff., 67, 74 f.) Vielleicht ist, meint Löwith, „Heidegger zu jenem theologischen Ausgang" zurückgekehrt, der sich in seiner Habilitationsschrift „Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus" ausspricht. (20, Fußnote.) Mit dem das Dasein betreffenden „Sein", das Heidegger nun als „das ganz Andere zu allem Sein" versteht, das diktiert und „zuspricht" und dem „seinsgeschichtlichen Denken" die Feder führt (75), könnte, meint Löwith, für Heidegger „der" Gott wieder möglich geworden sein. Es sei nur „eine eindeutige Antwort aus dem Glauben an Gottes Schöpfung, dem Heidegger als Denker sich versagt" (42). Möglich! Darum läßt er es beim zurückhaltenden, um nicht zu sagen hilflosen „es gibt" bestehen. „Wenn irgendwo, so scheint die strenge Entschiedenheit von Heideggers Denken in dieser wesentlichsten aller philosophischen und theologischen Fragen merkwürdig unentschieden" (42).

Die „Kehre" oder wenigstens ein „Unterwegsein" zu ihr läge in der Wende vom ek-sistenten, orts- und heimatlosen Dasein zum Sein, das jetzt als das „ganz Andere zu allem Seienden" (75), als „Es selbst", als „universales Faktum", als „Wunder aller Wunder" verstanden und ausgesprochen wird und das selbst das Woher und Wohin in sich trägt (24). Es wäre die Wendung vom Daseinsentwurf zum Wurf des Seins; von der rein ek- sistenten Faktizität zum „es-gibt"-Sein. In „Sein und Zeit" wird das „Sein" vom „Dasein" her interpretiert, jetzt umgekehrt das „Dasein" (des Menschen) vom Sein (26). Es wäre die Kehre von der vom Tod „ereigneten" Ek-sistenz zu der vom Sein in „Huld" und „Gunst" ereigneten Existenz; die Kehre von der existentialen, wandelbaren und darum relativen „Wahrheit" zur Wahrheit des Seins; von der unbestimmten „Entschlossenheit" in „Sein und Zeit" zur Ent-schlossenheit,’das heißt zur Offenheit aus der Befangenheit im Seienden zur „Aufgeschlossenheit für das ganz andere Sein"; von der Endlichkeit zur Ewigkeit (33 ff.). Damit hätte Heideggers Fundamentalontologie einen neuen Ausgang und einen neuen Sinn. „Sie ist nicht mehr eine die Seinsfrage fundierende Analyse- des Daseins, sondern ein Versuch, den verborgenen Grund der Ontologie freizulegen" (36).

Zu diesem Ergebnis kommt Karl Löwith in seinem ersten Kapitel, das er überschreibt: „Zu sich selbst entschlossenes Dasein und sich selber gebendes Sein." Ob seine Beobachtung recht hat, hätte Heideggers Neuerscheinung, seine „Einführung in die Methaphysik" zeigen müssen, die zur Stunde, da Löwith seine Untersuchung abschloß, noch nicht erschienen war. Aber sie stellt sich als Neuauflage von „Was ist Metaphysik?" vom Jahre 1930 heraus.

Das zweite Kapitel: „Geschichte, Geschichtlichkeit und Seinsgeschick" fragt, ob Heideggers Geschichtsdeutung eine „Kehre" gemacht hat. Wenn, dann wäre sie 1. von d?r Radikalisierung des historischen Relativismus in „Sein und Zeit" zu einer existentiellen Geschichtlichkeit eingeschwenkt, denn das Ende des Daseins ist der immer gleiche ungeschichtliche Tod. 2. Die Geschichtlichkeit des im „Sein zum Tode" befestigten Daseins wird aufgehoben, indem Heidegger das „Dasein" in die „Wahrheit" des Seins zurücknimmt und die Geschichte der Wahrheit als „Wahrheitsgeschehen" des Seins versteht. Das Sein offenbare sich in immer neuen Parusien. Aber es offenbart und verbirgt sich in der Geschichte. Das Sein hält sein Wesen zurück. Darum verwechselt der Mensch das (geschichtlich) Seiende leicht mit dem (verborgenen) Sein und Sinn der Geschichte. 3. Dieses Sein wird schließlich als — physis" verstanden und damit die Geschichte als eine der physis.

Heidegger fühlt sich als Prophet des Seins, das nach seiner Meinung der bisherigen abendländischen Philosophie verborgen geblieben ist. Der ■ tjeschichtsgrund der abendländischen Weltgeschichte" ist darum nach Heidegger nihilistisch, weil sie eine das Sein vergessende Metaphysik gehabt hatte. Ausgestoßen von der Wahrheit des Seins kreist der neuzeitliche Mensch heillos um sich selbst. Die Rettung kann „nur von dort kommen, wo sich das Verhältnis des Menschen zum übermenschlichen und überseienden Sein wendet" (56). Das subjektive Hinblicken, Wahrnehmen und Aussagen über Seiendes bekam und bekommt den Vorrang „vor dem Hervorgang der Verborgenheit (des Seins) in die Unverborgenheit des Seienden". Bei Plato und Aristoteles sei das genau so wie bei Thomas von Aquin und Descartes bis zu Nietzsche herauf: Wahrheit, sagt Heidegger, sei bei ihnen allen ein lebensnotwendiger Irrtum, eine Verfälschung der Wirklichkeit, Wahrheit sei bei ihnen allen nicht mehr a-letheia („Unverborgen- heit"), sondern adaequatio (also: „Uebereinstim- mung"). Man horcht auf, was Heidegger meint und worauf er hinaus will. Was er aber vorbringt, ist nur ein schwieriges und leidenschaftliches Bemühen, das „Sein" zur Sprache zu bringen. Ein Hinhorchen, ein banges Warten. Denn das „Sein" ist es, das uns das „Geschick" wie das „Denken" zuschickt und seinen Denker inspiriert. Der muß darum ehrfürchtig warten. Denn das Sein selbst hat in dieser Zeit ein böses Mißgeschick erfahren, den „Verfall des Denkens an die Wissenschaften und das Glauben".

Denn die Geschichte ist ein „Wahrheitsgeschehen als Hervorgang des Verborgenen in das Unverborgene". Sie wird nicht von freien Menschen gemacht. „Die Freiheit des Menschen läßt das Seiende in dem, was und wie es ist, sich selbst offenbaren, indem sie sich auf das Verborgene (Wahre) einläßt."

Bleibt die Frage: „Vermag aber Heideggers kunstvolles Sprachgefüge wirklich das Wesen oder Unwesen der Geschichte zu erhellen, wenn diese, im Hinblick auf das reine Sein als solches, mit der Natur als physis zusammenfällt?" (66.) Und Karl Löwith meint: „Wenn überhaupt nach einem

Wesensgrunde der Geschichte gefragt werden muß, dann ist die biblische Schöpfungsgeschichte für das Verständnis der profanen Geschichte noch immer erleuchtender als eine seinsgeschichtliche Spekulation über die Bedingung und Möglichkeit der Vulgärgeschichte" (72). Die Kehre bestünde hier also in einem grübelnden, bohrenden Kreisen nicht einmal um den eigenen Standort, der verlassen zu sein scheint, sondern um Worte und Termini, in denen das verborgene Sein zum Sprechen gebracht werden soll.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Auslegung des „Ungesagten" in Nietzsches Wort: „Gott ist to t."

Dieses Ungesagte ist, wie bei allen Interpretationen Heideggers — und deren sind viele — das, was er aus einem Text herausliest, immer aus seinem Apriori, „durch Vorhaben, Vorsicht und Vorgriff gesichert" (80). Nietzsches Wort ist also nur Anlaß, Interpretation ist Deutung, ist Umdeutung.

Zum ersten Male befaßt sich Heidegger mit Nietzsches Wort „Gott ist tot" in seiner Rektorats- r.ede (1933) und erkennt in ihr ganz richtig nicht eine ontologische Aussage; das Wort sei Ausdruck für die „Verlassenheit des heutigen Menschen inmitten des Seienden", und er verlangt ganz im Geiste Nietzsches („Der tolle Mensch"), daß diese Gottverlassenheit ernst genommen werde. Bisher war es bei Heidegger ontologisch in der Frage, ob Gott ist, bei der neutralen Feststellung geblieben, daß die Existenzanalyse weder etwas für noch gegen ein mögliches Sein zu Gott entscheide („Wesen des Grundes", S. 28, Anm.).

Nun aber nimmt Heidegger das Sein als den möglichen Ort des „Heilen", damit (in seinem für ihn typischen Wortspieldenken; S. 14 ff.) des „Heiligen", ja des Göttlichen und er fragt, ob das Sein „noch einmal" eines Gottes fähig sein werde!

Halten wir einen Augenblick inne und fragen wir: Was sind alle blasphemischen Haßausbrüche Nietzsches gegen Gott, die doch die Unschuld des einsetzenden Wahnsinns und die Kausalität der nahen Paralyse für sich haben, gegen den, sicher unbewußten, Hochmut und die Gnädigkeit dieser Frage, die Heidegger so lässig fallen läßt? Und das wäre zu fragen nicht angesichts einer Milliarde Menschen, die, wenn auch in aller Armut und Armseligkeit, die niemand übersehen wird, an Gott glauben und der anderen Milliarde, die dem „Unbekannten" dienen oder ihn suchen in aller ihrer Gebrechlichkeit und Selbsttäuschung. Und das ist zu fragen gerade vom Standorte der Existenz. Heidegger und jeder andere kann fragen, ob er in seiner dunklen Icheinsamkeit je Gott finden werde, und er bleibt damit innerhalb des Elends und der Größe des Menschen. Aber wer gibt wem das Recht, in dieser furchtbarsten aller Fragen in der dritten Person zu sprechen? Jeder weiß um die faktische Gottesferne und die Ohnmacht auch der Gläubigen. Aber die schwärt diesseits aller Philosophie und sie wird auch durch keine Interpretation der Existenz je behoben werden. Da ist mir noch die Haltung des logischen Positivisten Ludwig Wittengenstein ehrfürchtiger: Was man (philosophisch) nicht beantworten kann, das soll man auch nicht fragen.

Heidegger verwahrt sich, und das mit Recht, in seiner Zurückhaltung verwechselt zu werden „mit den öffentlich Herumstehenden", die glaubenslos geworden sind, „weil sie selbst die Möglichkeit des Glaubens aufgegeben haben". Er ist „unterwegs" und steht, ehe er auf seine Frage eine Antwort „weiß“, zur „Möglichkeit des suchenden Glaubens" zwischen dem skeptischen Wissen und dem Glauben des Gehorsams. Ist dieser suchende Glaube übermethaphysisch zum Unterschied oder im Gegensätze zum „gedankenlosen

Glauben" der Theologen? Glaube hat nach Heidegger im Denken keinen Platz (94 f.). Das Nietzsche-Wort: „Gott ist tot" bedeutet nach Heidegger, „daß die metaphysische Welt der Ideen, Ideale und Werte nicht mehr lebendig ist und daß damit (!) die Metaphysik überhaupt zu Ende ist". Dieses „damit" ist dem Vitalisten Nietzsche nachzufühlen. Ist es Heidegger erlaubt? Sicher ist es, daß Nietzsche sich als Atheisten nahm, wenn auch als den bedingten, der stets bereit war, dem Rufe des unbekannten Gottes zu folgen. Ebenso darf man annehmen, daß sein „Atheismus" die Tendenz hatte, die faktische, ahnungslose Gottlosigkeit seiner Zeit zur Selbstkritik und zur Entscheidung zu zwingen.

Und Heidegger? Er will sein eigenes Denken über das Christentum weder mit Pascal an Gottes Offenbarung in Christus orientieren, noch will er mit Hegel dem „Tode Gottes" in einem „spekulativen Karfreitag" eine wenigstens philosophische Existenz geben, noch will er Nietzsches Wort von der „zweitausendjährigen Lüge" des Christentums wiederholen. Wohl aber ist ihm „das Christentum selbst nur die Ausformung eines im Sein wesenden Nihilismus", und damit geht er in den Spuren Nietzsches. Nur ist Nietzsches Nihilismus, wie er ihn versteht, die notwendige Aufräumungsarbeit für seine „ewige Wiederkehr", für Heidegger aber ist Nihilismus „die Verborgenheit der Wahrheit des Seins"; das hätte Nietzsche ebensowenig begriffen wie alle Metaphysik vor ihm. Was soll das heißen?

Heidegger hat die überlieferte metaphysische Unterscheidung von „essentia"und „existentia" beiseite geschoben (Humanismusbrief, 68 f.), darum kann er, weil er mit Nietzsche sieht, wie sehr sich die übersinnlichen Maße und Ziele des Menschen, vor allem die christliche Liebe ausgelebt hätten (109), behaupten, obgleich er kein Vitalist ist, daß „damit" der übersinnliche Grund und die übersinnliche Welt selbst unwirklich geworden sei. Karl Löwith fragt darum mit Recht, „ob denn jemals ein übersinnliches Prinzip die unfehlbar wirksame Wirkungsmacht" in dem war, was in der Geschichte der Welt jeweils epochemachend geschah. Und büßt ein solches Prinzip etwa die Wahrheit ein, wenn es nicht oder nicht mehr epochemachend, sondern nur „da und dort lebendig ist?" (109.) Wird etwas dadurch, daß es unwirksam ist, unwahr, nicht existent? Erweist sich die Unterscheidung von „essentia"und „exi-

stentia“ nicht doch als richtig, nicht nur philosophisch, sondern gerade dann, wenn eine Philosophie das Geschichtliche und Zeitliche deuten will? „Heidegger kann eine so naive Frage nach dem Wahren und Rechten nicht stellen, weil ihm die Wahrheit selbst als Erscheinen und Scheinen, Offenbaren und Verbergen, Wahrsein und Irresein ein zweideutiges Wahrheitsgeschehen ist, das sich in jähen Epochen der Wahrheit wandelt" (109). Denn gerade das Unheil ist ihm „der Nährboden für eine urtümliche (!) Fragwürdigkeit des Seins und sie treibt zu einer Entscheidung, „ob das Sein noch einmal eines Gottes fähig werde". Oder ganz in der Sprache Heideggers: „Unheil als Unheil spurt uns das Heil" und nähert so „den Gott. Je rücksichtsloser sich die Neuzeit in der ihr eigenen heillosen Größe vollendet, desto größer ist die Chance, daß aus der wachsenden Gefahr auch „das Rettende" kommt und das Sein seine Vergessenheit „umkehrt". Eine philosophische Hoffnung, aber als solche ist sie doch nur eine gefährliche Neuformulierung und Wiederkehr des Nietzscheschen Nihilismus.

Die „Kehre" Heideggers ist demnach seine urtümliche und immer gleiche, nur wird sie — vielleicht — deutlicher: Heidegger ist seiner ganzen geistigen Struktur und seinem innersten Anliegen nach Theolog geblieben, aber er will urtümlich religiöse Anliegen philosophisch bewältigen. Es ist nicht zufällig, daß gerade die religiöse Erwartung der ersten Nachkriegszeit sich von ihm angesprochen wußte. Und die Faszination, die von ihm ausging, lag wesentlich darin, daß man sich von ihm den erlösenden Zugang zum „Heile”, zum „Heiligen", ja zu einer neuen Parusie erwartete. Ein Vierteljahrhundert bemüht er sich, das Sein zum Sprechen, zu bringen. Aber es bleibt verborgen. Aber sein Denken wartet. Ehrfürchtig und „fromm". Er ist der Fakultät nach Philosoph, seiner Haltung nach und wider Willen Theolog. In allem, was er sagt. Das ist seine ihm verborgene oder noch verborgene, jedenfalls immer gleiche „Kehre". Jenseits aller Theologie und Philosophie lebt er in einer „Religion", die über beide hinweg sich dem „nichtseienden Sein" rückverbunden („religatä") weiß. „Nichtseiend" in dem Sinne, daß dieses „Sein" nicht in der Weise des „Seienden", des Geschöpflichen ist; was der Theologie durchaus nichts Unbekanntes ist. Und vielleicht hat Karl Löwith recht, wenn er auch auf die Philosophie Heideggers Nietzsches Ansicht über die ganze deutsche Philosophie anwendet, nämlich daß sie samt und sonders nur „eine hinterlistige Theologie" sei. Vielleicht nicht gerade „hinterlistige", wohl aber heimliche Theologie.

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