proust - © Foto: Imago / Leemage

Marcel Proust und die Auflösung der Ich-Instanz

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Vor 100 Jahren verstarb der französische Schriftsteller Marcel Proust. Dessen auch philosophische Bedeutung zeigt ein Band mit Aufsätzen und Notizen von Roland Barthes.

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Vor 100 Jahren verstarb der französische Schriftsteller Marcel Proust. Dessen auch philosophische Bedeutung zeigt ein Band mit Aufsätzen und Notizen von Roland Barthes.

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Der umfangreiche Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust zählt zu den bedeutendsten Texten des 20. Jahrhunderts. Das komplexe Werk wurde vielfach als Beschreibung der mondänen Pariser Gesellschaft des Fin de Siècle interpretiert oder als Erinnerungsroman, in dem verschiedene Lebensabschnitte des Protagonisten thematisiert werden. Übersehen wurde dabei, dass es Proust um die Auflösung der rationalen Ich-Instanz ging. Der Autor präsentiert Sinneseindrücke, Erinnerungen und körperliche Empfindungen der chaotischen Innenwelt des Erzählers, die sich zu keiner Ganzheit zusammenfügen, weshalb er schon in den ersten Sätzen als ein Ich dargestellt wird, das sich an sein vergangenes Ich zu erinnern sucht. Der Philosoph Theodor W. Adorno verstand den Roman als einen grandiosen Versuch, „die Nichtidentität des psychologischen Subjekts inmitten seiner Identität darzustellen“.

Lebenselixier Philosophie und Literatur

Philosophie und Literatur – „ohne die alles verlorene Zeit sei“, wie der Autor schrieb – waren Schwerpunkte in seinem Leben. Geboren wurde Marcel Proust am 10. Juli 1871 im Pariser Vorort Auteuil. Sein Vater war ein angesehener Arzt und Epidemiologe; mit seiner Mutter, die aus dem jüdischen Finanzbürgertum stammte, verband ihn eine intensive Beziehung. Als Jugendlicher antwortete der Schriftsteller auf die Frage, welches das größte Unglück für ihn sei: „Von Maman getrennt zu werden.“ Die Zuneigung, die bereits das Kind erhielt, war für Proust von existenzieller Bedeutung; sie ist ein bestimmendes Motiv, das in seinem literarischen Werk immer wieder auftaucht. Ähnlich intensiv war die Beziehung des französischen Philosophen und Semiologen Roland Barthes zu seiner Mutter. Als sie 1977 starb, schrieb er: „Was ich verloren habe, ist das Unersetzliche.“

Die Folge war eine tiefgehende Depression, die Barthes nicht mehr bekämpfen wollte. „Depression ist etwas ganz anderes als eine Krankheit“, notierte er, „wovon wollen sie mich heilen? Um in welchen Zustand, in welches Leben zurückzukehren? Wenn Trauer eine Arbeit ist, so ist derjenige, der daraus hervorgeht, kein fades, sondern ein moralisches Wesen, ein wertvolles Subjekt – und kein integriertes.“

Schon während der Gymnasialzeit studierte Proust die Schriften von Philosophen wie Immanuel Kant. Auf Wunsch des Vaters begann er ein Jura-Studium; parallel dazu besuchte er philosophische Vorlesungen an der Universität Sorbonne. Seine Lehrer waren heute in Vergessenheit geratene Repräsentanten verschiedener philosophischer Strömungen. Proust befasste sich auch mit der Lebensphilosophie von Henri Bergson, mit dem er entfernt verwandt war. In der Nachfolge Friedrich Nietzsches berief sich Bergson auf den gesamten schöpferischen Prozess des Lebens. Er betonte, dass sich „das Leben durch eine fortwährende Veränderung des Gesichtspunkts, die Einmaligkeit der Phänomene und die vollkommene Eigenständigkeit“ auszeichne. Für Bergson ist das Leben in seiner schöpferischen Aktivität durch die Vernunft nicht fassbar. Der Verstand sei viel zu unbeweglich, konstatierte Bergson, um das Dynamische des Lebens zu erfassen. Der Mensch habe nun die Aufgabe, sich aus dieser Erstarrung zu befreien, um in den schöpferischen Prozess des Lebens „einzutauchen“.

Die Lektüre von Bergsons Philosophie beeinflusste auch den Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wobei Proust dessen Ansatz modifizierte. Der Vorrang der Sinneseindrücke und Prozesse der Unbewussten, die sich der rationalen Fixierung entziehen, wird im Roman durch die sogenannte „Madeleine-Episode“ deutlich. Hier löst der Geschmack von Tee und Sandtörtchen – den „Petites Madeleines“ – bei dem Protagonisten des Romans jene Erinnerungen an die Kindheit wach, die bisher verschüttet waren.

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