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„Maßstab für die Freiheit des Geistes“

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Der Marxismusforscher Iring Fetscher sagte in seiner Laudatio auf Georg Lukäcs anläßlich der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt a. M. an den ungarischen Gelehrten am 28. August in der Paulskirche: „Indem sie Georg Lukäcs ehrt, ehrt die Stadt Frankfurt zugleich sich selbst. Sie verleiht den Goethe-Preis einem weltberühmten und bedeutenden marxistischen Gelehrten, dessen politische Überzeugung kein Mitglied des Magistrates teilt. Sie beweist damit, daß sie zu jener progressiven, mutigen und toleranten Haltung zurückgefunden hat, die zum ersten Male bei der Zuer-kennung des Goethe-Preises an Sigmund Freud im Jahre 1930 zum Ausdruck kam. Aber auch wenn sich der Frankfurter Magistrat nicht mit dem Kommunisten Lukäcs einig weiß, mit dem humanistischen Antifaschisten steht er gewiß auf einer Seite.“ Mit diesen Worten umriß der Redner die Position, in der die Goethe-Stadt Frankfurt zu einem Gelehrten und Humanisten vom Schlage eines Georg Lukäcs stehen kann, auch wenn dieser als Kommunist dn einem natürlichen Spannungsverhältnis zur bürgerlich-liberalen deutschen Umwelt stehen muß. Aber der Kommunismus von Georg Lukacs ist von besonderer Prägung, und auch das literarische Schaffen des Gelehrten stellt Verbindungen her, die diese Auszeichnung als gerechtfertigt, ja als in hohem Maße begründet erscheinen lassen. Georg Lukäcs entstammt einer Budapester Bankiersfamilie, er wurde am 13. April 1885 geboren. Der junge Lukäcs rebellierte bald und entfernte sich von der für ihn vorgezeichneten Laufbahn zunächst in Richtung moderne Literatur. Als Student in Budapest nahm er an verschiedenen Gründungen — Theater, Zeitschriften — teil. Bald atoer erkannte er seine Wesensverwandtschaft mit den Klassikern. Das Moderne und jede Art von Romantik, Formalismus und Irrationalismus lehnte er von nun an ab.

Lukäcs begab sich schon früh, nachdem er mit seinem ersten Essayband „Die Seele und die Formen“ 1911 international Aufsehen erregt hatte, nach Deutschland und lebte fortan jahrelang in Heidelberg, wo er unter anderem mit Max Weber befreundet war und sein nächstes berühmtes Buch, „Die Theorie des Romans“, schrieb. Mit diesem Buch erwies sich Lukäcs als ein Meister in der Anwendung der Hegeischen Denkmethode. Hegel und Goethe führten Lukäcs zu seinem Ideal der Entfaltung des humanen Individuums in der freien Gesellschaft — von wo er gegen Ende des ersten Weltkriegs zur revolutionären Arbeiterbewegung stieß. Der Kreis — sein Kreis — war geschlossen. Er ließ ihn nicht mehr frei.

Die neue Lebensphase begann für ihn bezeichnenderweise mit einer Niederlage. Lukäcs war immer schon im Erfassen neuer Geistesrichtungen und auch in der Vorwegnahme utopischer Konsequenzen seiner Umgebung voraus. Nun wurde die Essaysammlung des jungen Kommunisten Lukäcs, „Geschichte und Klassenbewußtsein“, von der damals schon zur Orthodoxie neigenden Partei scharf kritisiert. Lukäcs distanzierte sich hierauf von seinem vielleicht berühmtesten Werk, das die Verbindung der klassischen deutschen Philosophie zur marxistischen Geschichtsauffassung, die jene „aufhebt“, zu beweisen trachtete. Inzwischen war Lukäcs

— aber dies war eine Episode im Leben dieses politischen Einzelgängers — Unterrichtsminister in Ungarn unter Bela Kun. Nach dem Scheitern der Proletardikta-tur lebte er zehn Jahre lang in Wien (zu seinen Freunden zählte damals auch Ernst Fischer), dann in Berlin und schließlich in Mos-

Photo: Votava kau, wo er sich in zunehmend schwieriger Lage unter dem Druck der Stalin-Diktatur ausschließlich der Literaturwissenschaft und hier hauptsächlich der Erforschung und marxistischen Deutung der Goethe-Zeit widmete. An dieser seiner Außenseitersituation hat sich auch durch seine Rückkehr nach Ungarn 1945 nicht viel geändert.

Lukäcs verband iit einem Thomas Mann stets mehr als mit seinen „Kritikern“, die mit inquisitorischer Strenge von ihm stets die Selbstverleugnung verlangten. Eine weitere Episode: Lukäcs, der während des Tauwetters der beginnenden Chruschtschow-Ära beglückt aus seiner Reserve trat, im berühmt gewordenen Petöfi-Kreis der Studenten eine hervorragende Rolle spielte und eine Schlüsselfigur der damaligen Widerstandsbewegung innerhalb der Kommunistischen Partei war, kam für ganz kurze Zeit noch einmal mit der „Macht“ in aktiver Weise in Berührung, wenn auch diese Macht damals eher nur symbolische Bedeutung besaß, als er nämlich Minister für kulturelle Angelegenheiten in der Regierung von Imre Nagy wurde. Mit dem später hingerichteten Nagy wurde er im Herbst 1956 nach Rumänien deportiert. Seit seiner Rückkehr lebt Lukäcs in'Budapest in ziemlicher Zurückgezogenheit. Während er aber in Ungarn als Großer Alter Mann der marxistischen Literaturwissenschaft wieder in Ehren akzeptiert wird, steht er zum Beispiel in Ostdeutschland nach wie vor auf der Verbotsliste. Dort hält man ihn für untragbar, noch ganz im Sinne der stalinistischen Praxis, als Fragen der Philosophie, etwa die Frage der Beurteilung Hegels, von der Partei als ein Thema von ganz konkreter politischer Relevanz eingestuft wurden und dementsprechend für den Philosophen lebensgefährlich werden konnten, so auch für Lukäcs, der in den dreißiger Jahren in Moskau über den jungen Hegel schrieb, ein „Mittlerwerk zwischen den Sphären und Zeitaltem“, wie Thomas Mann schrieb.

Dieses „Mittlerwerk“ erwies sich später, auch in der Sicht Lukäcs', als eine allzu optimistische, illusionäre Vorwegnahme vielleicht kommender Entwicklungen, als eine Hoffnung, die mit der Wirklichkeit jedoch nur wenig gemein hat.

An der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche war der Preisträger nicht anwesend. Der Frankfurter Oberbürgermeister überreichte den Preis dem Fünf-undachtzig jährigen vor kurzem in Budapest.

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