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Materialismus und Idealismus

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Die Frage „nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur“ bezeichnet Friedrich Engels, der Begründer des naturwissenschaftlichen Zweiges des dialektischen Materialismus, als die „höchste Frage der gesamten Philosophie“, und wir müssen ihm hierin voll und ganz zustimmen; denn davon, ob wir alles Seiende in Abhängigkeit von einem denkenden Wesen sehen oder umgekehrt alles Denken als ein Produkt einer zunächst ungeistigen „Natur“, wird unsere Einstellung zu der Welt und zum Leben in dieser Welt abhängen: unsere Weltanschauung wird die Grundlage unserer Le b e n s anschauung werden. Eine klare Auseinandersetzung mit dieser philosophischen Grundfrage wird darum für jeden Menschen zur sittlichen Pflicht, nur die Lösung dieser Frage ermöglicht dann eine freie sittliche Entscheidung in den verschiedenen Lebensbelangen.

Engels unterscheidet zwei Grundrichtungen der Philosophie: den Materialismus und den Idealismus. Für den Materialismus sei die Natur das Primäre, der Geist das Sekundäre, während für den Idealismus das Umgekehrte gelte. Damit ist ein grundsätzliches Bekenntnis zu einer monistischen Weltanschauung abgelegt; der Standpunkt einer dualistischen Weltanschauung, der zufolge Geist und Materie als gleichberechtigte Prinzipe der Welt nebeneinander angenommen werden, wird von vornherein abgelehnt.

Die Frage, ob der Materialismus heute auf Grund der modernen Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, noch irgendwie gehalten werden kann, können wir erst beantworten, wenn wir uns darüber verständigt haben, was „Materie“ ist. Die Behauptung, daß die „neue Physik“ „den Materialismus widerlegt haben soll“, wird von W. I. Lenin in seinem für eine Auseinandersetzung mit dem Materialismusproblem bedeutungsvollen Werk „Materialismus und Empiriokritizismus“ entschieden mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, daß „die Physiker die Dialektik nicht kannten“. Materie im Sinne von letzten, unteilbaren Wirklichkeitsklötzchen, wie sie die griechischen Atomisten annahmen, wie sie aber auch noch von der im 17. Jahrhundert neuentstandenen Atomtheorie angenommen wurde, ist nicht die „Materie“, wie sie der dialektische Materialismus sieht. Er stellt sich bewußt in schroffem Gegensatz zu dem ursprünglichen „mechanistischen“ Materialismus, der alles Geschehen in der Natur auf solche letzte „Materieteilchen“ und zwischen ihnen wirkende physikalisch-chemische Kräfte zurückführt. Für den dialektischen Materialismus bedeutet Materie „nichts anderes“ als die objektive, unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende und von ihm abgebildete Realität“ (Lenin). Diese Definition will zur Kenntnis genommen werden;, damit ist das Problem zu einem Problem der Erkenntnistheorie geworden. Behauptet wird zunächst nur die Realität der Außenwelt, die wir Natur nennen und zu der auch wir als ein Bestandteil gehören. Wir bezeichnen diesen erkenntnistheoretischen Standpunkt als Realismus, und zwar, da die Realität der Außenwelt schlechthin behauptet wird, als „naiven“ Realismus, während der „kritische“ Realismus zu der Existenz einer von unserem Bewußtsein unabhängig existierenden Außenwelt erst auf Grund sehr schwieriger philosophischer Untersuchungen gelangt. Dieser naive Realismus hat für den philosophisch Ungeschulten etwas Bestechendes an sich, und man kann ihn leicht dazu bringen, in jeder „Kritik“ überflüssige Metaphysik zu sehen, weil sie für das praktische Leben ohne Bedeutung sei. Gewiß, wenn man unter praktischem Leben das nur auf Verbesserung unserer irdischen Verhältnisse gerichtete Leben sieht, ist die Frage, ob hinter dieser unseren Sinnesorganen zugänglichen Welt noch eine andere Welt existiert, überflüssig. Für den Menschen ist es aber offenbar nicht überflüssig, zu wissen, ob diese Natur und er selbst von einem jenseits dieser Welt stehenden geistigen absoluten Sein geschaffen und abhängig ist oder nicht, ob er in einer freien Entscheidung sein Leben gestalten kann oder nicht und ob sein Dasein zeitlich begrenzt ist oder nicht.

Diese letzten entscheidenden Fragen aller Metaphysik — die Fragen nach Gott, Freiheitund Unsterblichkeit — sind von höchster praktischer Bedeutung! Und so suchen wir sie zu beantworten — nicht nur wir, auch der Materialismus muß es tun. Genau so „unkritisch“ wie die „Realität“ der Außenwelt hingenommen wird, wird behauptet: „Die Materie ist das Primäre; Gedanke, Bewußtsein, Empfindung sind das Produkt einer sehr hohen Entwicklung. Dies besagt die materialistische Erkenntnistheorie, auf deren Boden die Naturwissenschaft instinktiv steht“ (Lenin). Dagegen ist einzuwenden: Nicht die Naturwissenschaft als reine Erfahrungswissenschaft kann hier Stellung nehmen; es handelt sich um ein Problem der Philosophie, der Metaphysik. Aber diese Stellungsnahme darf nicht instinktiv erfolgen. Man kann allerdings auch die Möglichkeit einer solchen Stellungnahme leugnen: auf diesem Standpunkt steht der Positivismus, der von dem dialektischen Materialismus gleichfalls entschieden abgelehnt wird. Der Positivismus behauptet nämlich, daß jede metaphysische Aussage prinzipiell unmöglich sei; ihn interessieren nur die unserer Erfahrung unmittelbar zugänglichen Größen, also nur das, was „gemessen“ werden kann.Der dialektische Materialismus gibt — nid damit unterscheidet er sidh vom mechanistischen Materialismus und stimmt überein mit der aristotelisch-scholastischen Naturphilosophie — die wesentliche Verschiedenheit der Dinge in der Natur zu. Er anerkennt Seinsstufen, das heißt einen Schichtenbau in der Natur; anorganische Welt, eine Welt der Organismen, also belebte Welt, und eine geistige Welt, ein Bewußtsein in der Welt. Während der mechanistische Materialismus all dies auf physikalisch-chemische Kräfte zurückführt, behauptet der d i a 1 e k- tischeMaterialismus dieSelbst- bewegung der Materie, eine ununterbrochene Veränderung, bei der quantitative Unterschiede schließlich durch qualitative ersetzt werden: er behauptet den „Sprung von der Quantität in die Qualität“. Ein Beispiel kann das erläutern. Ein Molekül wird im Bereiche des Anorganischen so lange durch Ansetzen neuer Atome an Größe zunehmen, bis schließlich an Stelle einer weiteren quantitativen Veränderung die qualitative Veränderung tritt, das Molekül beginnt zu „leben“. Nun gehört es einer neuen Seinsstufe an. Wie Lenin schreibt, betont der dialektische Materialismus „nachdrücklich, daß jeder wissenschaftliche Lehrsatz über die Struktur und die Eigenschaften der Materie nur relative, annähernde Geltung hat, daß es in der Natur keine absoluten Schranken gibt, daß die sich bewegende Materie Verwandlungen durchmacht aus dem einen Zustand in einen anderen, der von unserem Gesichtspunkt aus anscheinend mit dem vorhergehenden unr vereinbar ist usw.“. Dadurch erscheine eine Einheit der Welt hergestellt und sie bestehe „in ihrer Materialität“, die — wie Engels sagt — „durch eine lange und langwierige Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaft bewiesen ist“.

Diese Behauptung ist zurückzuweisen. Der mechanistische wie auch der dialektische Materialismus können weder unter naturwissenschaftlichem noch unter philosophischem Aspekt vertreten werden. Ein naturwissenschaftlicher Nachweis müßte sich auf genaue Experimente stützen. Man müßte zeigen können, daß ejn solcher Sprung beobachtet wurde. Und zwar unter Bedingungen, die eine Wiederholung der Beobachtung ermöglichen. Daß dies zutrifft, wird auch von dem entschiedensten Vertreter materialistischer Weltanschauung nicht behauptet. So bleibt vom Standpunkt der Naturwissenschaft aus ein solcher Sprung, ein Übergang von einer Seinsstufe in die andere, immer nur Hypothese. Ob sie als A r b e i t s hypothese für die Naturwissenschaft von Bedeutung sein kann, ist eine andere Frage. Vom Standpunkt der Philosophie aus ist die Auffassung: Empfindung, Bewußtsein, Gedanke, also mit einem Wort Seelisches und Geistiges, seien das Produkt des Materiellen, des Unbelebten, jener Seinsstufe, der die genannten Attribute eben nicht zukommen, unhaltbar, weil sie einen Widerspruch in sich birgt. Der Satz vom Widerspruch sowie der Satz vom zureichenden Grunde widerlegen die materialistische Weltanschauung. Man müßte also zuerst die beiden Denk- und Seinsprinzipe, das Widerspruchsprinzip und das Kausalitätsprinzip, leugnen. Ohne sie aber ist es unmöglich, eine Wissenschaft aufzubauen.

Der Einwand des dialektischen Materialismus gegen den „Idealismus“ erscheint so lange berechtigt, als man unter Idealismus den „erkenntnistheoretischen Idealismus“ etwa Kant versteht. Abzulehnen ist eine Auffassung, nach der die Welt, die Natur, durch den sie erkennenden Geist geformt wird. Wir erkennen aber in der Welt eine Gesetzlichkeit, die einerseits in mathematischen Formeln und Gleichungen zum Ausdruck kommt, andererseits in einem Streben, das auf ein Ziel gerichtet ist, in der Zweckmäßigkeit im Bereiche des Lebendigen; und schließlich erkennen wir eine Gesetzlichkeit im geistigen Bereiche, der beide vorhergehenden Bereiche weit übersteigt. Dieser letzten Gesetzlichkeit verdanken wir unsere Erkenntnis. Eine Selbstbewegung der Natur aus tiefen, dumpfen, unbewußten Schichten zu dieser Höhe geistiger Tätigkeit erscheint uns widerspruchsvoll. Die Gesetzlichkeiten aber der verschiedenen Seinsbereiche und der Welt als Ganzes läßt uns allerdings einen Idealismus vertreten, der nicht ein erkenntnistheoretischer ist, sondern ein seinsmäßiger, ontologischer. Das erste Sein ist geistiges Sein. Denn gerade die Naturwissenschaften — Physik und Biologie — zeigen, daß das Sein von Ideen her, vom Geiste her bestimmt ist. Die Welt ist — um es kurz und bündig zu sagen — ein Gedanke Gottes: ein ausgesprochener Gedanke Gottes Sein Gedanke wurde Wirklichkeit, er wurde realisiert in der uns sichtbaren Welt, die in der Tat von unserem Bewußtsein irgendwie abgebildet wird.

Eine Auseinandersetzung mit dem dialektischen Materialismus muß vor allem bestrebt sein, zu zeigen, wieweit wir ihm zustimmen können und müssen: Wir stimmen zu in der Anerkennung der Realität der Außenwelt. Allerdings verlangen wir für sie einen kritischen Nachweis. Wir stimmen zu in der Anerkennung eines Schichtenbaues der Natur. Allerdings verlangen wir für die Entstehung dieser Schichten oder Seinsstufen eine außerweltliche Ursache, weil wir in einer Selbstbewegung der Natur keine hinreichende Ursache erblicken können. Wir stimmen überein in der Anerkennung- unserer Erkenntnis als einer Fähigkeit des Bewußtseins, die Welt irgendwie abzubilden. Aber wir erkennen gerade dadurch diese Welt als das Werk eines geistigen Urhebers, der sie nach seinen Ideen geschaffen hat.

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