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Musik und Wissenschaft

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Innerhalb der dem Mensdien geschenkten Fähigkeiten schöpferischen Gestalten? ist Musik die unmittelbarste. -Der Stoff, aus dem sie ihr Werk formt, ist die Luft, jenes unsichtbare Etwas, das uns alle umgibt, das wir nicht greifen können das füf uns aber dennoch eines der lebenswichtigsten Elemente ist. Als immateriellste der Künste wird Musik vor allem eben als „Kunst“ (ars) aufgefaßt, wie dies auch in unzähligen Aussprüchen und in der Meinung der meisten Menschen feststeht .

Musik ist so „Geist als schaffende Kraft“, an deren Ursprung Intuition, „Einfall“ und, mit ihnen wesentlich verbunden wie in aller. Künsten, der schöpferische Akt steht. Ebenso wesentlich ist das folgende: das „Zusammenbauen“ (Komponieren) der musikalischen Einfälle. Daß dies, je nach Veranlagung, in verschiedener Weise vor sich gehen kann, ist jedem, der einigermaßen mit unseren großen Meistern vertraut ist, bekannt. Zu dem fertig niedergeschriebenen Kunstwerk muß sich dann der ausübende Künstler gesellen. Das ist unerläßliche Forderung des musikalischen Kunstwerkes, die hat sie mit Tanz und Schauspiel gemeinsam. Dadurch, daß solches „Ausüben der Musik“ gelernt sein muß, gelangen wir schon zu einer Art Wissenschaft von der Musik: dem Musikunterricht, der Übermittlung aller für die Ausübung dieser Kunst notwendiger Fähigkeiten. Da dieser Unterricht aber schließlich eine immer weiter eindringende Unterbauung hervorruft, begeben wir uns über ihn sozusagen von selbst in den Begriff der Musik als „Wissenschaft“ (scientia), den näher darzulegen, Aufgabe dieser Zeilen ist.

Wissenschaft ist „Geist als forschen- d e Kraft“. Daß auch dazu Intuition und schöpferisches Vermögen gehört, darf wohl als bekannt vorausgesetzt werden. Im Gebiet der Wissenschaft geht aber dem Darstellen die Erkenntnis der fremden Arbeitsleistung voraus und damit unterscheidet sie sich wesentlich von der Kunst. Musik als Wissenschaft beinhaltet daher ein Erforschen ihrer Grundgesetze, was teilweise auch schon der praktische und theoretische Musikunterricht vollbringen muß, weiter, darauf beruhend, ein Bewußtwerden ihres Wesens, ihrer Wirkungen, Faktoren und Entwicklungen. Damit werden Beziehungen im eigenen Inneren der Musik bloßgelegt, die ihre Vervollständigung in Aufdeckung des Zusammenhanges mit allen übrigen Geistesgebieten finden. So tritt die Musik als Wissenschaft noch im Bereich des Menschlich-Irdischen nach außen, tim von da ab über Kosmisches in Metaphysisches aufzusteigen. Das sind Gebiete reiner Geistigkeit, die behutsam behandelt, sein wollen und daher auch nicht jedermanns Sache sind.

Den Begriff von Musik als einer Wissenschaft, der unserer Zeit in seiner vollen Bedeutung verlorengegangen ist, hatte das Altertum in der Lehre von der „Harmonik“ (der Begriff möge nicht mit dem uns geläufigen, aus der Akkordlehre stam menden verwechselt werden) und später noch däs Mittelalter, das der musica im Quadri- vium ihren Platz zwisdien Geometrie, der die Arithmetik voranging, und Astronomie eingeräumt hatte. Es wir damit ein gelehriger Schüler des Altertums, dessen müsiktheoretisches Wissen ihm vor allem durch Boethius (f 526) und Cassiodor (f 580) übermittelt wurde Musik war die Universal Wissenschaft, mit der man schlechthin alles, ja die ganze Welt begreifen konnte.

Damit wird klar, daß andere Wissensgebiete in die Musik hereinragen und daß Einflüsse von beiden Seiten hin- und hergehen. Diese anderen Wissenschaften aber können ersehen, wieviel „Musikalisches" in ihnen steckt, beziehungsweise wie man sie mit musikalischen Größen begreifen kann, und werden aus dieser, ihnen neuen Betrachtungsweise ,auch neue Blickpunkte für ihre eigenen Forschungsmethoden gewinnen können.

Die folgenden Darlegungen wollen nun eine sinnvolle Ordnung der Wissenschaften aufstellen, wie sie einem Gesamtgebäude der Musikwissenschaft zugrunde liegen müßte. Die Beziehungen, die von der Musik zu allen natürlichen und geistigen Seinsbereichen des menschlichen Lebens sowohl wię der gesamten Welt vorwalten, sollen in logischer Folge aufscheinen. Damit gelangt man zum Grundriß einer „systematischen Musikwissenschaft“ schlechthin, dessen Gestalt als vorläufiges Ergebnis einer schon längere Zeit währenden Besdiäf- tigung hier zum erstenmal in stark gedrängter Form der Öffentlichkeit zur Diskussion unterbreitet wurde.

Der Ausgangspunkt ist Gott und das „Fiat“ seiner Weltschöpfung. Damit wird die bewegte Materie mit den ihr inne wohnenden Gesetzen geschaffen, an deren Aufschließung das Menschengeschlecht unausgesetzt arbeitet. Die regelmäßigen Bewegungen der Materie werden Wellen und Strahlen, mit deren Erforschung sich die Physik beschäftigt. Jene Wellen, die irgendwie hörbar werden, bilden die physikalische Akustik, aus deren großem Bereich die regelmäßigen tonerzeugenden Wellen als musikalische Akustik abgesondert werden. Sie Ist das Gebiet der eigentlichen musikalisdien Materie mit Tonerzeugung, Tonmessung, Schwingungsformen und allen übrigen Problemen. Die Wechselbeziehungen seelischer Art zwischen den einzelnen Komponenten (Obertöne, Klangfarbe, Schwingungsform) bleiben dabei dem Gebiet der Musikpsychologie Vorbehalten. Raumakustik gehört dazu, wie ebenso die in stetem Vorwärtsdrängen befindliche Elektroakustik mit eigener Tonerzeugung, Tonkonservierung und Übertragung (Radio). Die Auswirkungen aller dieser technischen Errungenschaften auf die praktische Musikübung sind, wie jedermann weiß, von größtem, Ausmaß.

Bei all den vorgenannten Gebieten spielen mathematische und geometrische Gesetzmäßigkeiten eine bedeutende Rolle, wobei im Hinblick auf den Instrumentenbau auch die Mechanik nicht vergessen werden darf.

Aus der musikalischen Akustik führt die menschliche Stimme als Mittel zur Tonerzeugung in die Physiologie hinüber. Alles mit Sprechen, Singen, Hören Zusammenhängende ist hier Gegenstand des Forschens. Biologie und Anatomie, Laryngologie und Phonetik stehen hier tn engstem Zusammenhang mit der Musik, die auch von der Pathologie mancherlei erfahren kann. Das Gebiet organischer, beziehungsweise nervöser Störungen ist von Wichtigkeit, ebenso die aus dem Beruf sich ergebenden Überanstrengungen. Paralleluntersuchungen am Tierorganismus führen in die Zoologie und vermögen ebenfalls wertvolle Aufschlüsse zu geben.

Daß der Musik in seelischer Wirkung auch helfende (heilende) Kraft zugesprochen werden muß, ist wohl jedem aus seinem eigenen Leben bekannt. Die systematische Untersuchung aller dieser Wirkungen und ihrer Ursachen, ist Aufgabe der Musikpsychologie als eines Teiles der gesamten Psychologie. Wirkung von Musik auf den Menschen, ihre Verwendung von Seite des Menschen zum Kunstwerk und ihr Vorhandensein im Menschen (Vererbung, Anlage, „Wunderkinder“ usw.) sind die großen Problemkreise, die nach verschiedenen Seiten hin ausstrahlen. Das Entstehen des musikalischen Kunstwerkes muß untersucht werden und führt in letzter Konsequenz zum Ursprung der Musik überhaupt. Mythologie, Sage und Religionswissenschaft haben hier gewichtige Beiträge zu liefern, während nach anderer Richtung hin die Bedeutung von Skizzen zur Psychologie des Kunstschaffens hervorgehoben werden muß. Zusammenhänge und Analogien mit den anderen Künsten sind hier ebenfalls Forschungsprobleme, die schon zum Urteil zwingen und so teilweise die später anzusetzende Musikästhetik vorwegnehmen.

Ist bei sllen Gebieten bisher im wesentlichen der einzelne Mensch und sein Verhält nis zur Musik Gegenstand der Unter- suchung (in der Psychologie wird das Problem der Masse selbstverständlich nicht fehlen dürfen), so weitet sich der Kreis nunmehr in die Mehrzahl. Musik als ge- sellsdiaftsbildende Kraft führt in die Musiksoziologie, wobei Fragen rechtlicher Natur vom Jus her beantwortet werden müssen. Das Verhältnis zu Staat und Politik ist ein nicht uninteressanter Teil dieses Abschnittes. Die sozial gegebenen Schichten führen von sich aus weiter zur Volkskunde mit Brauchtum, Lied, Tanz und Musik, der sich als spezielle vergleichende Musikwissenschaft mit Folklore die musikalische Völkerkunde organisch anschließt mit Geographie und Ethnographie als notwendige, helfende Grundlagen.

Die bisherigen Teil haben die Musik als Element im Raum (Physik) und im Menschen (Psychologie) betrachtet. Daran muß sich die Erforschung der Veränderungen in der Zeit anschließen: die Musikgeschichte mit allen ihren Teilgebieten, Methoden und Hilfswissenschaften. Die daraus erarbeitete Abfolge der Geschehnisse läßt Zusammenhänge erkennen und führt damit einerseits zu einer musikalischen Geschichtsphilosophie, andererseits zu einer Wertung von Form und Inhalt der Kunstwerke: zur Musik ästhetik, die nicht nur auf den Musikwerken der Gegenwart, sondern auf denen aller Zeiten beruhen muß.

Daher hat die Musikästhetik erst nach der Musikgeschichte ihren Platz und schöpft ihre Anschauungen aus den Kunstwerken, aus der schöpferischen Tätigkeit selbst und aus dem betreffenden Schrifttum über Musik. Hier tritt echte Musikkritik (zum Unterschied von der Meinung des Tages) auf. Die Musiktheorie hat hier ihren Platz und führt in die Musikpädagogik hinüber, die als Einzelgebiet der gesamten Unterrichtslehre sich im besonderen mit den Angelegenheiten des Musikunterrichts beschäftigt. Dabei wird das schon im Psychologischen gestreifte Ethos der Musik zu behandeln sein, das hier nach den ästhetischen Problemen in voller Stärke aufleuchtet.

Die auch schon bisher in den einzelnen Gebieten notwendig gewordenen gedanklichen Reflexionen verdichten sich nun zu einer Philosophie der Musik überhaupt. Nicht nur was Komponisten selbst über ihre Kunst geschrieben haben, ist wichtig (man denke an Schumann, Liszt, Wagner, Pfitzner usw.), sondern auch die Anschauungen der Philosophen, Plato, Schopenhauer etwa, beinhalten wertvolle Erkenntnisse über Musik. Ihre ’ Vertiefung erfahren sie durch die Erforschung von Kausalität und Analogie bestimmter Erscheinungen, und schließlich ist die Übertragung musikalischer Verhältnisse auf das menschlidie Leben ein Teil jener „musica humana“, der das Mittelalter soviel Aufmerksamkeit geschenkt hat und die wir heute zum Teil auch irt der Soziologie der Musik wieder finden.

Den Beziehungen zwischen Musik und den übrigen Künsten und Tätigkeiten — Dichtung, Baukunst, Naturwissenschaften, Mathematik, Geometrie usw., wird hier größte Aufmerksamkeit gewidmet und wenn auch vor übertriebenen Vergleichen und Symboldeutungen nicht genug gewarnt werden kann, so ist doch für den, der sich bemüht, streng auf sachlicher Ebene zu bleiben, der Aufstieg in das harmonikale Denken als der eigentlichen philosophischen, weil gedanklichen Seinsweise des Musikalischen, die notwendige Folge. Alfred Freiherr v. Thimus mit seiner „Harmonikalen Symbolik des klassischen Altertums“ (1868 bis 1876) und Hans Kayser, dessen Werk „Akvoasis“, die Lehre von der Harmonik der Welt (Basel 1946), den vorläufig letzten Stand der Forschung festlegt, sind die Hauptvertreter dieser Riditung.

Von da aus ist der Weg offen zu einer Metaphysik der Musik, die man als das „Erstaunen vor dem Göttlichen" in der Kunst der Töne bezeichnen könnte. Wobei „Göttlich“ nicht als pantheistischer Begriff zu werten ist, sondern besagen will, daß man in all den vorhandenen Schönheiten, Gesetzmäßigkeiten und Wirkungen der Musik einen schwachen Abglanz jenes göttlichen Willens sieht, der dies alles geschaffen. In ihren Beziehungen zu Magie (das ist vor allem Gegenstand der musikalisdien Völkerkunde), zu Religion und Theologie, zeigt die Kunst der Töne letzte Tiefen ihres künstlerischen wie gedanklichen Seins: die Hinordnung zu Gott.

Damit steht dieser Versuch einer Systematik der Musik wieder dort, von wo er ausgegangen: beim „Fiat" der Weltschöpfung; der Kreis ist geschlossen.

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