6700388-1963_26_08.jpg
Digital In Arbeit

Neuere Sachlichkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Dem Schlußvortrag Golo Manns verdankte das heurige, sechste Europa-Gespräch in Wien („Die europäische Großstadt — Licht und Irrlicht“, vom 11. bis 15. Juni) die Feststellung, daß die Großstadt eigentlich für niemanden ein Problem darstelle. „Städtische Fragen sind Teilfragen unter anderen.“ Und die Teilnehmer waren einig, daß die bedeutendste Funktion der europäischen Großstadt darin zu sehen sei, daß sie schon lange bestehe und dadurch „Geschichte präsentiere“. Einige Ereignisse dieser Tagung, die weniger von politischem oder praktischem als philosophischem Interesse sind, lassen sich daher besser um andere Themen gruppieren. Das Folgende lediglich von einigen Sätzen Theodor W. Adornos handeln.

Dieser deutsche Philosoph, Soziologe und Musiktheoretiker äußerte auf einer Sonderveranstaltung im Museum des 20. Jahrhunderts einige Gedanken zur gegenwärtigen Architektur, die hier sinngemäß wiedergegeben werden:

„Der Funktionalismus ist eine unverlierbare historische Stufe der Architektur. Anderseits erleben wir jetzt seine Austrocknung, Sterilität. Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus, ohne hinter den Funktionalismus zurückzugehen? Der Begriff der Phantasie, die sozusagen obendrein dazukommt, ist unzureichend. Man kann nur über die Sachlichkeit hinaus, indem man noch sachlicher ist.“

Wer bestimmt die Zwecke?

Der Begriff der Funktion ist schon vor dem „Funktionalismus“ erörtert worden; man könnte ihn zur Basis einer Geschichte der Arcrfitektur-theorie machen. Dabei würde sich allerdings zeigen, daß er bei den bedeutendsten Äußerungen die geringste Rolle spielt. Daß er zur Bezeichnung einer historischen Periode dient, hat nicht zu seiner Klarstellung beigetragen. Man kann sagen, daß sich mit dem Wort „Funktionalismus“ bei Architekten wie Laien mehr unbewußte als bewußte Vorstellungen verbinden.

Vor der historischen Prägung S u 1-I i v a n s hieß Funktion im Deutschen schlicht „Zweck“. Kant definiert die Baukunst als jene, die Dinge wohlgefällig macht, die „ihren Bestimmungsgrund in einem willkürlichen Zwecke“ haben. Mit „willkürlich“ ist hier gemeint, daß jener Zweck nicht aus der Baukunst selbst, sondern von außen an sie herankommt. Der populären Vorstellung nach ist denn auch ein konsequenter Funktionalist einer, der seine Bauten ihren Bestimmufigsgrund in Zwecken finden läßt.und darauf verzichtet, sie wohlgefällig zu machen.

Weniger Konsequente bedienen sich der von Adorno erwähnten Phantasie. Es gebe so viele Bereiche und Einzelheiten, die nicht durch Zwecke gebunden seien, und dort sei der künstlerischen Freiheit weites Feld. Dem entspricht die Vorstellung, Architektur sei nur da reine Kunst, wo sie nicht durch Zwecke gebunden sei. Viele meinen, da Zwecke sich nicht umgehen ließen, sei die Architektur eben verunreinigt und „angewandt“; andere streben — zumindest in Entwürfen — nach „funktionsloser“ Architektur: Das Motto jener Sonderveranstaltung der Architekten: „Architektur — Gebrauchsgegenstand oder künstlerische Provokation“ entspricht genau dieser Stufe der Problemstellung.

Der Funktionalismus Neutras

Vor diesem Hintergrund kann man die Position des Ehrengastes Richard J. Neutra entwickeln. Seine Theorien können als absoluter Funktionalismus aufgefaßt werden. Er ist der Meinung, daß jede architektonische Entscheidung gebunden ist an Zwecke, die sich mit den Worten „gesundes Leben“ zusammenfassen lassen. Die Biologie und die Physiologie werden immer mehr imstande sein, die für den menschlichen Organismus günstigsten Bedingungen anzugeben, und die Menschen, vor allem die Architekten, werden sich immer mehr darnach richten. Bau und Raum, Licht und Klimatisierung, aber auch Materialien, Texturen, Formen und Farben werden dann nicht mehr von Zufall oder Willkür, sondern vom wissenschaftlich erarbeiteten Zweck des gesunden Lebens bestimmt sein (siehe hierzu das Interview auf dieser Seite).

Die „Sache selbst“

Adorno sprach nicht nur von „Funktionalismus“, sondern auch von „Sachlichkeit“, freilich ohne Unterschied. Es scheint aber, daß dieser Begriff ergiebiger ist, und schwerlich hätte Adorno fordern können, man müsse „noch funktioneller“ sein.

Den oben beschriebenen Annäherungen an den Begriff Funktionalismus ist gemeinsam, daß sie wie Kant den

Bestimmungsgrund in außerhalb liegenden Zwecken sehen. Man könnte so weit gehen, die Entscheidungen dem Benutzer oder Auftraggeber, dem „Konsumierenden“, zu überlassen, der schließlich am besten wissen muß, was er braucht.

„Sachlichkeit“ dagegen tendiert genau in die andere Richtung. Gegenüber den „Forderungen der Sache selbst“ hat der Konsumierende sein Recht verloren. Sie stellen sich dem Künstler aus dem Material, das er bearbeitet.

So wenig nun Musik behindert ist dadurch, daß sie mit Ohren vernehmbar sein muß, so wenig tut es dem Bau, daß er benutzbar ist oder daß er

nicht zusammenbrechen darf (auch solche Argumente gibt es). Wenn Schall in der Zeit das allgemeinste Material der Musik ist, so ist Funktion und Konstruktion im Raum das der Architektur. Und wie es die Sonderfälle der Stille und der schmerzenden Lautstärke gibt, so die der nicht berücksichtigten oder verhinderten „Funktion“. Neben Kants Definition der Baukunst steht die höhere Hegels, in der nicht mehr von Zwecken die Rede ist: Ihre allgemeine Aufgabe ist, „die äußere unorganische Natur so zurechtzuarbeiten, daß sie als kunstgemäße Außenwelt dem Geiste verwandt wird“.

Kann man Städte planen?

In einer Bemerkung ging Adorno freilich darauf ein, daß die Architektur zum Unterschied von anderen Künsten bei der Verwirklichung auf den Konsumierenden angewiesen sei, und die Stadt ist in seiner soziologischen Terminologie doch jedenfalls das Werk von „Produzierenden“ und „Konsumierenden“ gemeinsam. Der Schweizer Soziologe Lucius B u r c k-h a r d t stellte in seinem Vortrag auch fest, eine Stadt sei grundsätzlich nicht planbar. Da ihr der geschichtliche und alltägliche Wechsel aller Umstände wesentlich sei, könne sie nicht etwas sein, was eine „Form“ habe. Brasilia, Chandigarh seien Dinge mit „Form“ und deshalb keine Städte. Was Stadtplanung liefern könne, sei eine Struktur („grain“), die jeden Wechsel zulasse.

Wenn nun auch ein weniger von Formvorstellungen geprägtes Brasilia für die heutigen Probleme der Architektur bedeutsamer gewesen wäre, so hätte selbst die veränderlichste Struktur nicht Geschichte vorwegnehmen und eine Stadt schaffen können.

Schließlich sei noch eine allgemeine Forderung Adornos für die Architektur zitiert:

„Es i'sf auch in der Architektur nötig, exakte Begriffe zu bilden und sich nicht mit amateurhaften ad-hoc-Theorien zu begnügen. Der ,Raum zum Beispiel könnte eine exakte Analyse erfahren und zu

einem produktiven Begriff der Architektur werden, statt als ,Raum-erlebnis' und ähnliches beliebigem Gerede ausgeliefert zu sein ...“ Von allem Unfug, der von Architekten mit Worten getrieben wird, ist der mit dem „Raum“ noch der harmloseste, und groß ist die Zahl der Begriffe, die nicht nur kritisiert, sondern überhaupt beseitigt werden müßten. Sachlichkeit als eine Haltung der Reflexion stellt tatsächlich eine Stufe der Bewußtheit dar, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Jeder Verzicht auf eine Überlegung bedeutet einen Qualitätsverlust.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung