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...noch nicht alle Möglichkeiten

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Die Psychotherapie im Alltag. Sieben Radiovorträge. Von Viktor Frankl. In: Der Mensch, Schriftenreihe für Psychologie und Psychotherapie. Verlag Psyche, Berlin-Zehlendorf. 31 Seiten.

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Die Psychotherapie im Alltag. Sieben Radiovorträge. Von Viktor Frankl. In: Der Mensch, Schriftenreihe für Psychologie und Psychotherapie. Verlag Psyche, Berlin-Zehlendorf. 31 Seiten.

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Die vorliegende Schrift ist aus einer Anzahl von populären Radiovorträgen entstanden; ihr Charakter wird dadurch bestimmt. Ihre Vorzüge bestehen in klarer und geistvoller Diktion mit einer ge- wissen Neigung zu geistreichen Wortspielen. Ihr Mangel besteht darin, daß von Psychotherapie objektiv so gut wie nichts Konkretes vor- . kommt, vor allem nicht von Psychotherapie im Alltag. Soweit von Psychotherapie die Rede ist, handelt es sich um allgemeine „outlines".

Im zweiten Vortrage (Psychoanalyse und Individualpsychologie) vergleicht der Verfasser die Schulen von Freud und Adler und kommt zur Feststellung: „Freud sah richtig, aber er sah nicht alles, sondern er verallgemeinerte bloß, was er gesehen hatte.”

Das ist zweifellos richtig. Frankl übersieht aber anscheinend, daß die gleiche Kritik auch von seiner Logotherapie gilt. Wenn Freud den geistigen Menschen nicht gesehen hat, so berücksichtigt Frankl nicht oder ungenügend die Tiefenregion des Unbewußten.

Deswegen geht sein Vorwurf fehl, daß der „Pansexualismus" von Freud in der Aera der

- bürgerlichen ..Plüschkultur" entstanden sei, die

- prüde und lüstern zugleich war; die sexuelle Pro- f blematik stünde heutzutage nicht mehr im Vordergrund. sondern die „existentielle" Leere. Letzteres

‘ wäre richtig, wenn das wesenhafte Sein nicht mit „existentiell" bezeichnet würde. Dies ist der verhängnisvolle Grundirrtum des Existentialismus, der eine universalistische Seins- und Wesensschau verhindert. Unrichtig ist auch die Annahme, daß die sexuelle Problematik heute eine geringere Rolle spiele als zur Zeit von Freud. Freilich tritt heute — was zu Freuds Zeit noch nicht der Fall war — ihr seinsmetaphysischer Hintergrund immer deutlicher hervor: Die Entscheidung für oder wider ein göttliches Lebensgesetz. Daß Frankl — ähnlich wie C. G. Jung —; auch die metaphysische Problematik in der Psychotherapie gesehen und versucht hat, ihr Rechnung zu tragen, wird Beider Verdienst bleiben.

Wenn Frankl einmal alle die angedeuteten Zusammenhänge uno intuitu anzuerkennen und daraus die letzten Konsequenzen zu ziehen bereit ist, dann wird er bereiter sein für die große Aufgabe der großen Stunde einer universalistischen Psychotherapie, die alle Wahrheitserkenntnisse umfaßt und keine Wahrheit ausschließt, sich keiner verschließt.

Einstweilen bringt Frankl für diese große Aufgabe zwar sehr bedeutsame Voraussetzungen mit; es ist aber das Wesentliche bei ihm noch V e r- heißung und Möglichkeit und noch nicht Erfüllung und die letzte Wirklichkeit.

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