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Öffentliche Anklage

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Der Mensch hat in den letzten Jahrzehnten schwere Enttäuschungen erfahren. Zu welchem Ziel ein Materialismus letzten Endes führen kann, wurde ihm mit harten Faustschlägen angedeutet. Die Hypertrophie mechanistisch-materialistischer Eleutungsver- suche aller Lebensvorgänge hat ihn aus dem Gleichgewicht geworfen, und die quälende Angst vor den letzten Konsequenzen des Materialismus, der Verkümmerung des Subjektbegriffes, des persönlichen Wollens und Tuns, des Sinnes für Verantwortung, Schuld und Opfer treibt ihn in einer verzweifelten Abwehrreaktion in das Gebiet des Metaphysischen, Metapsychischen und Transzendentalen. Die Ubertonung der Naturwissenschaften vor den Geisteswissenschaften hat durch viele Jahrzehnte hindurch der Welt ihr Gepräge zu geben versucht und selbst dort nicht haltgemacht, wo eine Korrespondenz dieser beiden Richtungen geboten erschien: in der Psychologie. Ein furchtbares Chaos muß letztlich das Ergebnis sein, eine Disharmonie von Religion - Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft, welche sich der Harmonie von Gott-Geist- Materie entgegenstellt.

Durch den materialistischen Determinismus in seinem Verantwortlichkeitsbewußtsein erschüttert, sieht sich der Mensch plötzlich vor dem drohenden Nichts; nicht mehr fähig, in sich selbst die Verantwortung zu suchen, irrt er, von der Schuldfrage gepeinigt, im Nebelland des Übernatürlichen umher, im Überbewußten, Überwirklichen, um dort „Entschuldigung“ zu finden. Es können immer nur Irrwege sein, Irrwege, die ihn ins Verderben führen, solange nicht diesem Chaos gesteuert wird, das heute noch zusätzlich — in gieriger Auswertung der Situation — durch die gegenwärtige Kunst, vor allem durch Film und Theater, aber auch durch die Publikationen1 aller Art und Schattierungen nur noch vergrößert wird.

Es ist sicher nicht zuletzt die Folge zweier Weltkriege, dieser Feuerzeichen einer unvernünftigen Zertrümmerung der harmonischen Weltordnung, daß heute psychologische und psychopathologische Stoffe in pseudowissenschaftlicher und deshalb um so gefährlicherer Form in der Publizistik immer breiteren Raum einnehmen. Viele Zeitschriften und Zeitungen bringen heute schon mehr oder weniger ernst zu nehmende Veröffentlichungen aus diesem Themenkreis, die vielfach nur auf Sensation und Effekt abzielen; graphologische Gutachten und astrologische Deutungen suchen die Sehnsucht des Menschen nach dem Metaphysischen zu befriedigen, nehmen ihm damit den letzten Rest seines Verantwortlichkeitsgefühles und treiben Ihn nur noch tiefer in die tragische Verwirrung.

Daß nun der Film mit seinem volksbuchmäßigen Stoffhunger und in seinem — wegen seiner wirtschaftlichen Voraussetzungen sicher berechtigten — Streben nach möglichst weitem Publikumserfolg begierig Stoffe aufgreift, die „wirkungsvoll“ sind und der eben gezeichneten seelischen Situation des Menschen am ehesten entsprechen, ist weiter nicht zu verwundern. Aber daß auf diese Weise psychopathologische Themen in der Produktion einen immer breiteren Raum einnehmen, bedeutet eine ungeheure Gefahr für die seelische Gesundheit.

Machen wir uns nichts vor: die unmittelbare Gegenwart ist neben der — oder vielleicht gerade wegen der — weltanschaulichen Verwirrung durch eine katastrophale Störung des Gemeinschaftsbezuges gezeichnet.

Hat sich die Ichbezogenheit des Menschen wegen der Enttäuschung an der Gemeinschaft verdichtet, so wird diese Verichlichung durch die starke Befassung mit psychologischen Problemen nur noch gesteigert, die Behandlung psychopathologischer Stoffe aber — zumal in der stark suggestiven Form des Films — kann zu schweren seelischen Infektionen führen.

Vielleicht wird zur Rechtfertigung dieser Haltung des Films die medizinische Aufklärungsmission herangezogen. Daß in dieser Beziehung manche wertvolle Streifen über sonstige Krankheiten gezeigt worden sind, soll nicht geleugnet werden. Die Darstellung psychischer und geistiger .Erkrankungen aber in den bisherigen Tonfilmen dieses Stoffkreises hat mit populärwissenschaftlicher Aufklärung überhaupt nichts mehr zu tun. Vielmehr könnte man einen „psychischen Grobianismus“ der Gegenwart als Motiv annehmen, nur mit der Steigerung, daß nicht eine im Grunde gesunde Naivität, sondern einzig und allein die Gier nach dem Sensationellen und Aufwühlenden den Impuls gegeben hat.

Mit der Entfesselung der Filmkamera und der dadurch ermöglichten Auflockerung des Handlungsraumes, mit der Entwicklung der mechanischen und chemischen Überblendungstechnik und der dadurch erleichterten Konkretisierung psychisch-assoziativer Vorgänge, mit der Ausbildung des Filmschnittes als des eigentlichen filmischen Kontrapunktes und der dadurch erreichbaren Darstellungsmöglichkeit psychischer Geschehnisse, kurz dadurch, daß der Film als technische Tat alle Forderungen film- künstlerischen Wollens und Sehnens erfüllt hat, vermochte er alsbald, die Vorgänge des Unterbewußten sinnkräftig zu symbolisieren, die Mikrodramatik des Unterbewußten in Schlaf, Traum und Hypnose wirkungsvoll zu gestalten und — es war nur ein kleiner Schritt — auch die Erlebnisse seelisch und geistig Kranker mit allen Mitteln von Filmimpression und Filmeffekt aufzuzeichnen. Niemand konnte sich anfangs der Wirkung dieser Filme, soweit sie technisch sauber und inhaltlich halbwegs echt waren, entziehen. Aber diese Wirkung lag doch vor allem im Stoff selbst, im Sonderbaren und Seltenen des psychopathischen Geschehens, in der Tragik der Geisteskranken — kurz im Sensationellen.

Zu welchem Ergebnis aber das beängstigende Zunehpien dieser Filmstoffe letztlich führt, ist zunächst noch gar nicht abzusehen. Tatsache ist aber schon heute, daß die Menschen, durch die Ereignisse der letzten Jahre seelisch ohnedies stark erschüttert und zu intensiv mit sich selbst beschäftigt, durch solche Stoffe noch ängstlicher und feinhöriger ihr eigenes Seelenleben beobachten, psychologische Deutungen am eigenen Ich versuchen, die wegen der rein wissenschaftlichen Voraussetzungslosigkeit zum Scheitern verurteilt sind, und sich zuletzt sogar Diagnosen anmaßen, die zur Verzweiflung führen können und bisweilen schwere seelische Störungen zur Folge haben.

Statt die erschütterte und stark individualisierte Menschheit zum Gemeinschafts- und zum gesunden Umweltbezug zu erziehen, werden dunkle Leidenschaften geweckt und ein verderbliches Spiel mit dem Unbewußten angeregt. Nur der Fachmann, der an neurologisch-psychiatrischen Abteilungen gewirkt hat, vermag abzuschätzen, wie schwer Diagnose und Differentialdiagnose, wie verantwortungsvoll die Behandlung von Neurosen und Psychosen ist; nur an diesen Stätten kann man ermessen, welche Anforderung die Psychopathologie an den Arzt stellt, welch ein heikles Instrument etwa die Psychotherapie in den Händen auch des erfahrensten Neurologen ist und anderes mehr. Wie verantwortungslos ist es also erst, mit diesen Dingen ein Spiel zu -treiben, die kostbare seelische Gesundheit und ihre tausend Gefahren dem Moloch Effekt und Gewinn zu opfern, aus einer ernsten, schweren Wissenschaft ein Objekt zur Befriedigung der Sensationsgier zu machen!

Es mochte für den Film mit oll seinen hochentwickelten technischen und künstlerischen Möglichkeiten gewiß verlockend erscheinen, sich mit den „Nachtseiten der menschlichen Natur“ zu befassen. Daß aber Filme, wie etwa „Das andere Ich“ oder „Dr. Mabuse“, wegen ihres starken Publikumserfolges sogleich eine ganze Kettenreaktion auslösten, war nur verständlich, und nur die Politisierung und die Betonung des Tendenziösen der Filmstoffe im letzten Jahrzehnt brachte vorübergehend einen Stillstand. Sowie aber mit der Gewinnung eines gewissen Abstandes zum politischen Weltgeschehen sich beim Publikum die ersten Unlustzeichen dem politischen Tendenzfilm gegenüber zeigten, dieser also — direkt oder indirekt — in seinen verschiedenen Verschlüsselungen nicht mehr zu „ziehen“ drohte, griff der Film wieder auf die Effektsicherheit des psychopatho- logischen Stoffes zurück, wobei ihm heute die bereits geschilderten psychischen Voraussetzungen im Menschen entgegenkommen.

Die Motive innerhalb dieses Stoffkreises sind mannigfaltig; man kann ganz allgemein folgende Gruppen unterscheiden:

1. Die Darstellung der psychischen Äußerungsformen auf Grund zentraler Schädigungen bei Kriegsverletzten, und ihre tragischen Folgen für den Gemeinschaftsbezug.

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