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Philosophie der Materie

19451960198020002020

Von Ulrich Schöndorfer. Verlag Styria, Graz. 227.Seiten. Preis 56 S.

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Von Ulrich Schöndorfer. Verlag Styria, Graz. 227.Seiten. Preis 56 S.

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Für die geschichtliche Entwicklung der physikalischen Entwicklung unseres Jahrhunderts ist zweierlei kennzeichnend. Die tiefgreifenden Ergebnisse der Quanten- und Relativitätstheorie führten die Pioniere dieses Gebietes einerseits zu erkenntnistheoretischen Fragen, die sie — im Stich gelassen von so vielen philosophischen Richtungen, aber mitunter zunächst auch philosophisch ungeschult — selbst zu lösen versuchten (so die Physiker Planck, Einstein, Bohr, Heisenberg, Schrödinger, lordan, de Broglie, v. Weizsäcker, die Astronomen Edding-ton, Jeans, Millne usw.). Zum anderen wandten sich — ausgestattet mit gründlichen naturwissenschaftlichen Kenntnissen — Philosophen diesen Problemen zu, wobei nur folgende besonders wichtige Namen aus dem deutschen Kulturkreise angeführt seien: H. Driesch, B. Bavink, A. Wenzel, Z. Bucher. Ein umfangreiches Schrifttum entstand, und heute ist es selbstverständlich, daß erkenntnistheoretische Fragen in physikalischen Zeitschriften und Lehrbüchern behandelt werden.

Was aber nach mehr als dreißigjähriger Diskussion fehlte, ist eine Ueberschau über den ganzen Problemkreis. Sie liegt heute vor in dem ausgezeichneten Buche von Schöndorfer. Ihm seien, geschrieben nicht von einem Philosophen, sondern einem Astronomen, der seit über 40 Jahren diese ganze Entwicklung

bewußt erlebt hat, Worte der Würdigung gewidmet. Zunächst eine kurze Inhaltsangabe. Der erste Teil bringt auf etwa 60 Seiten einen Abriß der Geschichte des Materieproblems von den Vorsokratikern bis zur Gegenwart. Die ruhige objektive Würdigung all der vielen Philosophen und Naturwissenschaftler, die das ganze Buch durchzieht, ist gleich hier zu spüren. Als Astronomen mußten mich natürlich die Ausführungen über Kopernikus, Galilei usw. besonders interessieren. Wie richtig ist die Leistung des Thorner Reformators der Astronomie gekennzeichnet gerade angesichts der Zerrbilder, die im letzten Jahre anläßlich von Jubiläumsfeiern aus dem Lager des dialektischen Materialismus erschienen. Aehn-liches gilt von der Darstellung des „Falles Galilei“, wobei ergänzend bemerkt -sei, daß der große Florentiner die Richtigkeit der heliozentrischen Lehre weder bewiesen hat, noch überhaupt durch seine Beobachtungen beweisen konnte.. Daß sich die Erde wirklich um die Sonne bewegt, hat erst mehr als ein Jahrhundert später Bradley in Greenwich mit der Entdeckung der Abberation des Lichtes bewiesen. Galilei hat mit seinem legendären „Und sie bewegt sich doch“ in der Sache zwar recht behalten, die Vertreter der Kirche waren aber auch im Recht, als sie bis zum Vorliegen gültiger Beweise die Lehre des Kopernikus als eine Hypothese bezeichneten.

Der zweite Teil von Schöndorfers Buch ist der Theorie der Naturerkenntnis gewidmet, also den Voraussetzungen und den Reichweiten unserer Möglichkeiten, den Fragen um Beobachtung, Messung, Experiment einerseits und denen um Hypothese, Modell, Theorie und Naturgesetz anderseits. Auch hier haben wir eine objektive Gegenüberstellung der älteren und vor allem der neueren erkenntnistheoretischen Versuche, insbesondere auch der des Positivismus.

Die 50 Seiten des zweiten Teiles sind die Grundlage des wichtigsten, 70 Seiten umfassenden dritten mit der Ueberschrift: „Ontologie und Metaphysik der materiellen Wirklichkeit“ und den Abschnitten „Raum und Zeit“, „Aufbau und Struktur der Materie“, „Kraft, Energie und Materie“, „Bau und EntWicklung des Weltalls“ und „Metaphysik des materiellen Seins“. Als Naturwissenschaftler kann ich auch hier nur die umfassenden Kenntnisse des Autors anerkennen. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und Register bilden den Schluß des Werkes.

Wer sich ein zutreffendes Bild von den heutigen Anschauungen über die Struktur des Weltalls als Ganzes machen will, dem seien die wenigen Seiten 185 bis 194 empfohlen. Schöndorfer schreibt mit Recht, daß eine Entscheidung über die verschiedenen Weltmodelle noch nicht gefallen ist. Wir erhoffen vieles von der Arbeit mit den großen Spiegelteleskopen, werden aber gewiß noch eine Reihe Jahre warten müssen. Als echte Wissenschaftler vermeiden wir es, insbesondere die Beobachter vom Fünfmeterspiegel am Mt. Palomar, mit voreiligen Meldungen Sensationen zu verursachen, die dann, wie schon so oft, durch Nichtfachleute nur grob mißbraucht werden.

Wesentlich genauer überblicken wir heute das Alter des Universums, was ein hervorragender Astrophysiker einmal so formulierte: „Wir kennen heute keinen physikalischen Vorgang, der weiter als rund fünf Milliarden Jahre zurückliegt.“ Schöndorfer nennt dies eine überraschende Jugend des Universums. Das läßt sich verstärken mit dem Hinweis, daß wir heute ganz junge Sterne kennen, ja vielleicht „Sternembryonen“ auf der einen Seite und „tote Sterne“ auf der anderen Seite. Die materialistische Hypothese eines ewigen Kreislaufes im Weltall hat heute weniger denn je eine Grundlage in unseren Beobachtungen.

Doch zurück zur Philosophie, das heißt zum letzten Abschnitt des Buches. Schöndorfer bekennt sich zu einem kritischen Realismus, den er in einem eigenen Werk noch ausführlicher dargestellt hat und zu einem gemäßigten Hylomorphismus.

Welchen Leserkreis soll man nun dieser „Philosophie der Materie“ wünschen? Zunächst einmal alle Studenten, die für das Rigorosum oder die Prüfung als Lehramtskandidaten sich über ihre philosophischen Kenntnisse ausweiten müssen, sei es auch nur wegen der knappen und klaren geschichtlichen Darstellung. Zweitens wünsche ich es mir in den Händen all der Lehrer unserer Mittel- und Hauptschulen, deren Fächer die Einführung in die Philosophie, die Physik und der Religionsunterricht sind. In seiner ausgezeichneten „Einführung in die Atomphysik“ spricht W. Finkelnburg von den großen gedanklichen Schwierigkeiten für Physiker und besonders Ingenieure, von den anschaulichen ' Modellbildern der klassischen Physik zur Begriffswelt der Quantenmechanik zu kommen. So ähnlich geht es wohl manchem Lehrer, der im Uebermaß der Tagesarbeit nicht die Muße findet, durch ständiges Verfolgen der Literatur den Weg von den gewohnten alten Weltbildern, womöglich gar noch materialistischer Grundhaltung, zum heutigen zu finden. Schöndorfers Buch zeigt ihnen „Neue Wege“ für ihren Unterricht. Seine klare Sprache erleichtert gerade dem Nichtphilosophen den Zugang zu den philosophischen Problemen und umgekehrt dem Nicht-physiker das Verständnis unseres heutigen Weltbildes. So kann das Buch auch jedem philosophisch und naturwissenschaftlich Interessierten wärmstens empfohlen werden.

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