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Polnische Kulturchronik

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Im Mittelpunkt des Interesses aller geistigen Kreise und darüber hinaus der politischen Welt stand der Schriftstellerkongreß, der vom 17. bis 19. November 1947 in Wroclaw, dem früheren Bicslau, tagte. Das Parlament der Dichter beansprucht in Polen um so mehr Teilnahme, als die Literaten, die Redaktoren und die Gelehrten heute die führende Schicht ihres Landes sind, die in sämtlichen Parteien und in der Regierung über großen Einfluß verfügt und der viele, auch wirtschaftliche Begünstigungen zukommen. Doch nicht darum allein wendet sich die Aufmerksamkeit diesen Zusammenkünften der Männer der Feder zu: während im Sejm derzeit keine Opposition vorhanden ist, da über die Grundfragen der äußeren und de‘r inneren Politik unter den Mageordneten Einmütigkeit herrscht, während die Unzufriedenen sich entweder absentieren oder unterirdisch wirken, kamen auf dem Schriftstellerkongreß die widerstreitenden Meinungen ungehindert zur Geltung. Dabei handelt es sidi wesentlich um weltanschauliche Verschiedenheiten; der geistige Kampf wird aber in sehr würdiger Form ausgetngen, ohne daß irgend jemand schwächliche Konzessionen an den Gegner machte.

Auf dem Kongreß waren drei Hauptgruppen zu unterscheiden Katholiken, Marxisten und liberale Vertreter der „nicht dogmatisdi festgelegten“ Weltansdiauung. Als Führer der Marxisten hielt der Herausgeber der wichtigsten Kulturwochenschrift seines Lagers, Stephan Zolkiewski, das Referat über Aufgaben und Unzulänglichkeiten der polnischen Literatur in unserer Gegenwart. Er trat für einen „gesunden Realismus“ ein, unter scharfer Ablehnung nadiexpression.stisdier Verstiegenheiten und eines negativen Individualismus. Die Dichtung habe vordringlich soziale Aufgaben. Die Literatur als „moralische Anstalt“ dürfe ihre Helden nicht, wie bisher, fast ausschließlich in den früheren Oberschichten und in der Intelligenz suchen. Sie habe ins Volk zu gehen, bei der Umordnung der Gesellschaft mitzuwirken, keinen falschen Humanismus zu betreiben und sich nicht an metaphysische Spekulationen, an törichte Phantastik zu verlieren. Die Verlagspolitik dürfe nicht auf kommerziellen Grundlagen allein aufgebaut werden, sondern sie solle ideologische Ziele verfolgen. Leitmotiv in den formvollendeten Ausführungen des Redners war die Mahnung, statt Wahngebilden oder Konstruktionen den wirklichen Menschen und seine Probleme zu zeigen, ihn den Weg zur wahren, nämlich der wirtschaftlichen Freiheit zu geleiten.

Den durchaus im Sinne der marxistischen Orthodoxie gehaltenen Ausführungen Zol- kiewskis entgegnete als Sprecher der Katholiken der hervorragende Dramatiker und Poet Jerzy Zawieyski. Audi er bekannte sich zur moralischen Sendung der Literatur und zum Optimismus. Er und der Chefredakteur der bedeutendsten katholischen Kulturzeitschrift „Tygodnik Pow- szechny" forderten .und anerkannten die Freiheit, die in Polen für den dichterischen Ausdruck jeder Weltanschauung bestehe. Ein dritter katholischer Autor und Theaterkritiker betonte das Recht des Schriftstellers auf Experiment, Aufruhr, Kampf gegen starre Formen und auf verwickelte Problemgestaltung. Einen dritten Standpunkt verfocht der originelle Publizist Stephan K i s i e 1 e w s k i, der zwar in katholischen Zeitungen das Wort ergreift, doch durdiaus liberale Ansichten verfidit. Er wandte sidi gegen die Zensurhemmnisse und überhaupt gegen manche Erscheinungen, die an und für sich weder den Marxisten noch den gläubigen Katholiken, wohl aber den humanitären Demokraten stören, in der Politik wie in Kunst und Diditung. Es wurden ferner die Fragen der sogenannten bäuerlichen Literatur, der weltansdia illdien Bindung erörtert, sodann eingehend die wirtsdiaftlidien Nöte des Schriftstellers und seine Fachorganisation. An deren Spitze wurde ein Liberaler, Jaroslaw Iw.iszkiewicz. berufen, dem als Vizepräsidenten Zolkiewski und Zawieyski zur Seite traten.

Die Mannigfaltigkeit, die in bezug auf Gesinnung und Stoff innerhalb der heutigen polnischen Literatur Herrsdit, aber auch der Umfang dieses Schrifttums eines vom Krieg so schwer geprüften Landes leuchte aus ein paar Zahlen hervor. Im dritten Vierteljahr 1947 wurden 1191 Werke veröffentlicht. Dabei standen folgende Gebiete an den vordersten Plätzen: schöne Literatur 144, Religion 144, Jugendbücher 89, Geschichte 80 Bände. Am schledi- testen haben Anthropologie und Bibliographie abgeschnitten, die gar keinen, Kriegswesen, Sprachwissenschaft und Enzyklopädien, die vier, beziehungsweise je acht Werke als Vertreter haben. Bemerkenswert ist die steile Zunahme religiöser Bücher. Nidit nur sind sie gegenüber 56 im Durchschnitt des Jahres 1946 auf 144 gestiegen, ihr mittlerer Umfang beträgt 744, gegen vordem etwa 100 Seiten pro Band! Einen andern Aspekt weist die Statistik der Verlagshäuser auf. Von sämtlichen Veröffentlichungen sind ein Fünftel in Verlagsgenossenschaften erschienen, deren drei größt , Ksiazka, Gzytelnik und Wiedza, zusammen 14 Prozent aller Bücher heraus- gebradht haben; ein zweites Fünftel entfällt auf staatliche Verlage, je ein Zehntel wurde von religiösen oder weltlichen Organisationen hcrausgegeben und der Rest geht aufs Konto privater Verleger.

Die Aufmerksamkeit der Leserschaft gilt, soweit di sehr zahlreichen Gebildeten und die leidenschaftlich nadi Kultur dürstenden Massen in Betracht kommen, vornehmlich zweierlei, dem Theater und der problemegestaltenden, erzählenden Prosa. Beim Drama ist es gleichgültig, welche Themen es behandelt. Die Kunst der ausgezeichneten polnisdien Schauspieler, die Leistung dev Regisseurs und die Dekorationen entscheiden fast mehr über den Erfolg als der formale oder der gedankliche Wert eine Stücks. Weniger Warschau, als Lodz, wo der Meister der Inszenierung, I.eon Schiller, über zwei Bühnen regiert, und Krakau bescheren dem anspruchsvollen Publikum immer neue sehenswerte Premieren. Man könnte nicht behaupten, daß dabei jener Realismus dominiere, den Zolkiewski und mit ihm sein katholischer Gegenredner verfochten. Der führende Dramatiker, Jerzv Szaniawski, die ins Altertum auf Stoffwahl zurückgreifenden Dichter Flukawski und Gefährten, ja Zawieyski seihst entzückten die Zuseher durch ein „Theatre des požtes", das sich von Müsset und von den französischen Symbolisten herleitct; nicht umsonst erfährt Müsset eben jetzt in Polen glänzende Aufführungen. Auch das tiefste und schönste Problemstück, das seit Szaniawskis „Zwei Theater" über die Bretter gegangen ist, Roman Brandstetters Rembrandt- Tragödie „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes" bleibt durchaus in gewolltem, mystischem Halbdunkel. Politische Tendenzdramatik, soweit sie polnischen Ursprungs ist, hat bisher nichts Überragendes hervorgebracht. Man muß derlei aus dem benachbarten Sowjetrußland beziehen — Simonovs berühmte, geistreiche „Russische Frage" —- oder man kann Giraudoux’ „Amphitryon 38" als aufklärerische Offenbachiacle darbieten.

Zwei Genres der realistischen erzählenden, Prosa erfreuen sich besonderer Beliebtheit, Der Bauernroman, der sich von Reymonts im Grund symbolisch-individualpsychologischem Meisterwerk einem krasseren und die Gemeinde zum Kollektivhelden wählenden Realismus, mit vordringlich anklagenden und zugleich Wege weisenden Absicht zukehrt. Altere repräsentative Schöpfungen, wie Kruszkowskis „Der adelige Held und der Bauernlümmel“, „Pfauenfedern“ oder Kowalskis „In Grzmiąca“, werden wieder hcrvorgeho't und sie wetteifern mit unbeholfenen, doch gch.tltigen neuen Romans fleüves, wie Ga- lajs „Mystkowice“, der Gesamtgesdiichte eines lebensprühenden Dorfes. Zum zweiten, es wimmelt von historischen Erzählungen, die mit Bedacht die Frühzeit Polens bevorzugen. Die großartige Wiederbelebung jener Epoche in Antoni Golubiews „Boleslaw der Tapfere“, die aus der Emigration nach Polen gedrungenen farbensatten „Silbernen Schilde“ Pamickis, das polnische Gegenstück zu „Notre Dame". Frau Malewskas „Steine werden rufen“ und, im Abstand, die mit viel historischer Sorgfalt erarbeiteten Walter-Scottiaden von Bunsch und Grabski repräsentieren diese, bei aller scheinbaren Gegenwartsferne gar zeitbezogene Gattung, für deren in Polen unverwüstliche Bedeutung die steten Neuausgaben Sienkiewiczs und Kraszewskis zeugen.

Aus seiner gesamten Überlieferung hat das polnische Kulturleben den Hang, alle Kunst und alle Dichtung unter sittlichen und gemeinschaftsverbundenen Gesichts punkten zu bewerten. Doch ebenso hartnäckig ist, wie immer sich der politische Rahmen gestalte, die Hinkehr zur eigenen nation alert Vergangenheit und zu deren freilich im Wandel der Epochen wechselnd gedeuteten Tradition.

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