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Praxis im Widerspruch zur Theorie

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Gewiß hatte Prof. Garaudy recht, wenn er meinte, es sei unfair, den Rang einer Idee an ihrer immer unzulänglich bleibenden Realisierung zu messen. Gerade der Christ weiß ja um die Erfahrung einer „Selbstentfremdung“, die offenbar einer rein ökonomisch sozialen Überwindung unzugänglich ist. Es war besonders Prof. Metz, der auf diesen Tatbestand hinwies, den die Theologie mit dem merkwürdigen Stichwort „Konkupiszenz“ bezeichnet. Auf Grund dieses Tatbestandes wird der Mensch immer eine Diskrepanz zwischen dem erfahren, woraufhin er sich entwarft und dem, woraufhin er tatsächlich lebt, zwischen Idee und Existenz. Immer wird er hinter den großen Erfahrungen seines Lebens Zurückbleiben, sich nicht von ihnen verwandeln lassen, sondern sie selbst zu den Selbstverständlichkeiten seines Alltags verwandeln Und nivellieren.

Im ganz analogen Sinn sprach auch Prof. Garaudy von einer „Deformation des Marxismus“; auch er leide zutiefst an all dem Unzulänglichen und Falschen, das es auch heute noch in der marxistischen Praxis gibt. Im übrigen bleibe auch das Christentum hinter seinem eigenen Anspruch zurück und es gebe wohl kein einziges Beispiel eines voll realisierten, christlichen Humanismus, und zwar weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Christen und Marxisten hätten in diesem Punkt einander nichts vorzuwerfen; entscheidend sei einzig und allein, daß die Reinheit des Entwurfes vor jeder opportunistischen Anpassung an die Gegebenheiten einer schlechten Praxis bewahrt werde.

Was ist authentischer Marxismus?

Hier erhebt sich jedoch für den christlichen Gesprächspartner sofort die Frage, was denn nun eigentlich die „authentische“ Form des Marxismus sei. Es war vor allem Professor Jules Girardi von der Päpstlichen Universität der Salesianer in Rom, der auf diese Schwierigkeit hinwies. Prof. Garaudy sei zum Beispiel der typische Vertreter jenes „offenen Marxismus“, wie er auch in Italien existiert. Anderseits sei es gerade Garaudy gewesen, der von einer Deformation der Lehre durch marxistische Denker gesprochen habe. Im Rahmen der Paulus-Gesellschaft habe man es immer nur mit den aufgeschlossenen Vertretern des Marxismus zu tun. Wie steht es dann aber mit jenem Marxismus, der in diesem Forum nicht vertreten ist? Mit dem integristischen Marxismus, der jeden Dialog ablehnt und den fundamentalen Pluralismus der Wirklichkeit leugnet? Das ist in der Tat das Problem der christlichen Marxismuskritik, die sich — fast möchte man sagen, zwangsläufig — ihrem vulgärmarxistischen Objekt anpassen mußte, weil ja dieser Vulgärmarxismus stalinistischer und nachstalinistischer Prägung lange Zeit hindurch als die einzige authentische Form des Marxismus galt. Aber auch dort, wo einzelne Interpreten über den Kanon der offiziellen Doktrin hinausgehen, ist es oft einer solchen Verkürzung sehr ernste Mißverständnisse entstehen können, hat dieses Chiemseer Gespräch über „Christliche Humanität und marxistischer Humanismus“ erneut gezeigt. So wurden zum Beispiel die an sich äußerst brillanten Ausführungen des protestantischen Theologen Prof. Helmut Thielicke über „Christliche und marxistische Anthropologie“ allgemein als nicht ganz zureichend empfunden. Thielicke vertrat die These, daß der Marxismus von seiner Position aus die Menschlichkeit des Menschen nicht ins Visier bekommen kann, denn paradoxerweise bleibe die Menschlichkeit des Menschen so lange unerkennbar, als man sie für einen rein immanenten Wert hält.

„Im profanen Sinn an den Wert des Menschen glauben“, sagte Thielicke, „heißt nichts anderes, als ihn als verwertbar halten, zum Beispiel im Produktionsprozeß oder als Fortpflanzungsinstrument, ihn also Mittel zum Zweck sein lassen.“

Wenn diese Aussage rein faktisch gemeint ist, so ist sie zweifellos eine traurige Wahrheit, die durch die Art und Weise, wie der Kommunismus mit dem Menschen umging, und oftmals auch heute noch umgeht, sehr drastisch vor Augen geführt wird. Etwas anderes ist es, wenn man, wie es Thielicke getan hat, diese Ent- artungs- und Deformationserscheinungen aus der inneren Logik des ursprünglichen Systems abzuleiten versucht; wenn man also zu zeigen sucht, daß die faktische Unmenschlichkeit der marxistischen Praxis auf der Unzulänglichkeit des humanistischen Ansatzes beruhe. An sich ist diese Methode natürlich durchaus legitim; anderseits besteht aber die Gefahr, daß dadurch die eigentliche schöpferische Herausforderung des Christentums durch den marxistischen Humanismus eher verdeckt als freigelegt wird.

Christliche Humanität und marxistischer Humanismus

Diese Herausforderung wird heute von der christlichen Theologie sehr ernst genommen. Prof. Johannes Metz sprach von der wachsenden Verantwortung der christlichen Hoffnung gegenüber der geschichtlichen Mitwelt, die sich theologisch durch den Begriff einer „schöpferischen

Eschatologie“ bestimmen lasse. Eine solche schöpferisch-militante Hoffnung beziehe sich wesentlich auf die Welt und auf die weltverändernden Kräfte in ihr. Sie müsse sich daher mit den großen politischen, sozialen und technischen Utopien auseinandersetzen, mit den aus der modernen Gesellschaft reifenden Verheißungen eines universalen Friedens und einer universalen Gerechtigkeit. Denn das Heil, auf das sich die christliche Hoffnung bezieht, sei nicht nur und nicht primär das Heil des einzelnen, „ ... sondern das Heil des Bundes, des Volkes, der Vielen“. Von der Position einer solchen Theologie der Zukunft und der Verantwortung für das Heil der Welt ausgehend, stellte Prof. Karl Rahner seinen marxistischen Freunden die Frage, ob christliche und marxistische Humanisten notwendig Feinde sein müssen:

„Müssen sie Feinde sein, weil die konkrete Zukunft, die der Marxist plant, der widerspricht, die der Christ erbauen will? Aber das Christentum als Christentum fordert gar keine bestimmte konkrete Zukunft, und der Marxist wird hoffentlich auch nicht meinen, daß er sie schon als fertigen Fünfjahresplan in der Tasche hat. Warum sollten beide also nicht zusammen die Zukunft planen, die beiden unbekannt ist? Warum das Geahnte an ihr: Gerechtigkeit, Freiheit, Würde, Einheit und Differenziertheit der Gesellschaft nicht gemeinsam sich deutlicher machen? Nimmt ein Christ darum diese Zukunft weniger ernst als der Marxist, weil er sie als die Vermittlung der absoluten Zukunft Gottes will? Oder wird sie dadurch nicht gerade von absolutem Emst und gleichzeitig offen für die weitere Geschichte? Der weltliche Humanismus des Christen, der sich für die absolute Zukunft offen hält, impliziert gewiß manche formale Strukturen auch für die konkrete innerweltliche Zukunft: aber eben damit die Forderung eines Freiheitsraumes für die religiöse und somit auch für die nichtreligiöse Entscheidung, weil die Offenheit auf die absolute Zukunft nur in Freiheit realisierbar ist, also auch den Freiheitsraum für den Marxisten,, der sich irreligiös interpretieren will. Warum sollte der Marxist eben diesen selben Freiheitsraum nicht auch dem Christen zugestehen?“

Garantie der Freiheit

Freilich sei die geschichtliche kollektive Tat, die die Zukunft schafft, niemals das Ergebnis bloßer Theorie, sondern immer auch eine aus der Theorie allein unableitbare Praxis, und diese impliziere immer auch die Gewalt.

Aber gerade wenn dies von beiden Seiten in antiliberalistischer Nüchternheit eingesehen, zugegeben und sich gegenseitig zugestanden würde, könnte Form und Umfang dieses bleibenden Kampfes in einer Weise gestaltet werden, daß immer noch ein greifbarer Freiheitsraum in einigermaßen erträglichen Grenzen übrigbleibt. Der Mut zur Selbstbegrenzung, sagte Karl Rahner, müsse auf beiden Seiten ein positives Anliegen werden, weil man erst dann humaner Mensch ist, wenn man darauf verzichtet, absolut sein zu wollen und wenn man — bei allem Willen zur Einheit — den Pluralismus der Welt und des Menschen durchhält. Hier berührte Rahner zweifellos das Kernproblem des Dialogs zwischen Christen und Marxisten, von dem eingangs die Rede war: nämlich die Frage, wie im konkreten Hier und Jetzt Formen gefunden werden können, in denen die Auseinandersetzung in menschenwürdiger Weise erfolgen kann. Es handelt sich um jenen Freiheitsraum, der vom Kommunismus bis jetzt noch niemals glaubwürdig garantiert wurde. Dr. Kellners Hoffnung auf ein universales, ethisches Prinzip und auf geeignete Institutionen, die die ideologische Koexistenz garantieren sollen, mag utopisch sein. Anderseits wird der Dialog solange um keinen Schritt weiterkommen, als die Marxisten auf diese für die Christen entscheidende Frage keine befriedigende und vor allem glaubwürdige Antwort geben können.

Wenn das Chiemseer Gespräch ein Ergebnis hat, so war es die Erkenntnis, die Prof. Jules Girardi in seinem Schlußwort folgendermaßen zusammenfaßte: Der Dialog ist wichtig, aber sehr schwer. Wir stehen noch am Anfang.

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