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Primat der Metaphysik

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Das allgemeine Interesse für die neuesten Forschungen auf naturwissenschaftlichem Gebiet ist nicht nur durch die technischen Möglichkeiten, die nicht unterschätzt werden dürfen, bedingt, sondern nicht weniger durch die weltanschaulichen Konsequenzen, die auf verschiedenen Seiten aus den Forschungsergebnissen gezogen werden. Dabei fällt auf, daß diese Konsequenzen nicht immer in einer Richtung liegen. Daher könnte man vermuten, den physischen Gegebenheiten, die Gegenstand der Naturwissenschaft sind, entspreche nicht eindeutig eine den Erscheinungen zugrunde liegende Wirklichkeit oder es sei ein Schluß von der phänomenal gegebenen Welt auf eine hintersinnliche, metaphysische Welt nicht erlaubt. Und so ergibt sich für uns die Frage, ob eine Metaphysik überhaupt möglich sei oder ob wir sie als unwissenschaftlich ablehnen müssen, weil sie durch Erfahrung nicht bestätigt werden kann.

Wenn wir die Metaphysik, wie es in jüngster Zeit oft geschehen ist, mit Erich Becher als „Wissenschaft vom Gesamtwirklichen“ definieren, so werden wir in der Tat auf Erfahrungsmaterial, das uns die Fachwissenschaften liefern müssen, nicht verzichten können. Und Metaphysik, wie sie uns irgendwie als Ziel vorschwebt, ist eine solche auf das Gesamte gerichtete Wissenschaft, die uns so Grundlage einer Weltanschauung werden soll. Aber sie hat, wie Aloys Wenzl sagt, nicht nur diesen „empirischen Pol“, mit Rücksicht auf den sie „eines wachen Hinblicks auf das zu verarbeitende Material“ bedarf, sondern auch einen „ontologischen", dessen Aufgabe in einer „Klärung der letzten Seinsgrund- begriffe und Grundsätze“ besteht. Und dieser ontologische Pol ist gemeint, wenn hier von einem Primat der Metaphysik vor den Fachwissenschaften, die die Natur zum Objekte haben, die Rede ist.

Diese Metaphysik geht auf Aristoteles zurück, der sie als Wissenschaft bezeichnet, die auf das Seiende als solches und nicht auf irgendein einzelnes Gebiet allein gerichtet ist und die die ersten Gründe und Prinzipien von allem Existierenden untersucht. Daß wir einer solchen „ersten Philosophie“ nicht entraten können, wußte auch der hl. Thomas von Aquino, wenn er seine auch für unsere Zeit nicht unbedeutenden „Untersuchungen über die Wahrheit“ mit den Worten beginnt: „Wie man bei Beweisführungen auf irgendwelche Prinzipien zurückführen muß, die dem Verstände durch sich selbst bekannt sind, so bei der Erforschung dessen, was ein jedes ist; sonst würde es hier wie dort ins Unendliche fortgehen, und es würde alles Wissen und Erfassen der Dinge zunichte." Wird auch von dem großen Kirchenlehrer der Scholastik in seiner „ersten Quaestio“ die Erkenntnistheorie ontologisch begründet, so finden wir, worauf Edith Stein besonders aufmerksam gemacht hat, in seiner dem Geist gewidmeten „zehnten Quaestio" um so mehr „die stärkste Annäherung an die moderne erkenntnistheoretische Problematik“ und „die Möglichkeit einer Auseinandersetzung". Die moderne Naturwissenschaft selbst aber, insbesondere die Physik, liefert uns den Beweis, daß vor aller naturwissenschaftlichen Erfahrung nicht nur gewisse logische Grundgesetze, sondern auch metaphysische Seinsgesetze als gesichert angenommen werden müssen, vor allem das Kausalprinzip, das aussagt, daß jedes nicht schlechthin notwendige Sein ein anderes fordert, das für sein Dasein und Sosein, für sein Werden und Verändertwerden verantwortlich gemacht werden muß. Dieses so gefaßte Kausalprinzip bildet die Voraussetzung jeder physikalischen Messung sowie jeder physikalischen Theorie, mag sie der sogenannten „klassischen" oder der modernen, aber keineswegs „akausalen“ Physik angehören. Daß diese letzten Seinsprinzi- pien nicht unabhängig von jeder Erfahrung von dem menschlichen Verstände gewonnen werden, widerspricht nicht einer metaphysischen und nicht erfahrungsmäßigen, also induktiven Begründung der Naturwissenschaften. Der Tnduktionsschluß selbst fordert ja geradezu den Kausalsatz, da ein Induk- tionsverfahren nur dann berechtigt erscheint, wenn wir auf Grund einiger gleichgerichteter Beobachtungen auf einen inneren Kausalzusammenhang schließen, von diesem aber auf ein gleichgerichtetes zukünftiges Ereignis. Die erste, oft vorwissenschaftlich genannte Erfahrung ist nämlich nicht gleichbedeutend mit der Erfahrung, die die Grundlage für die induktiven Wissenschaften bildet. Selbstverständlich findet sich nichts in unserem

Geiste, was nicht früher im Sinne war. Darauf hat John Locke hingewiesen. Es war aber auch dem Aquinaten nicht fremd. Audi Thomas wußte, daß die Verstandeserkenntnis, wenn sie mit Hilfe der Sinne gewonnen ist, von außen stammt. „Aber sofern die Dinge durch die T ä t i g k e i t des Verstandes erkennbar werden, rührt die Erkenntnis von innen her; außerdem sind die ersten Prinzipien, die uns von Natur aus eigen sind und die wir unmittelbar erkennen, ein innerer Erkenntnisbesitz.“ Als solche aber sind sie nicht nur Denkgesetze, die unsere Erkenntnis in eine bestimmte Richtung lenken, uns aber im Sinne des Kantschen Kritizismus zu dem „Ding an sich“ nicht vorstoßen lassen, sondern Seinsgesetze, weil die uns gegenüberstehende, objektive Welt in demselben absoluten Sein, nämlich in Gott, verankert ist, wie der die phänomenal gegebene Welt erkennende und deutende Verstand.

Haben wir in dem Kausalprinzip ein metaphysisches Grundgesetz vor uns, das das naturwissenschaftliche Forschen erst ermöglicht, so werden auch die Begriffe Wesen und Wert, Sinn und Zweck ontologisch vorliegen müssen, wollen wir sie in die empirische Forschung einbauen und nicht auf jede die Naturwirklichkeit erklärende und verstehende Wissenschaft vollends verzichten: denn erklären heißt aus Gründen und aus dem Wesen, verstehen aber mit Rücksicht auf Wert, Sinn ,und Zweck die Gegebenheiten mit dem Verstände erfassen. Hier liegen Begriffe vor, bei denen ein Hinblicken auf die Erfahrung wieder nur psychologisch, das heißt für unsere Erkenntnis hier und jetzt, nicht aber logisch und ontologisch, grundsätzlich und seinsbedingt gefordert wird. Wertend verhält sich die Naturwissenschaft, wenn sie zum Beispiel dem durch das Gesetz von der Entropie, dem durch das Gesetz von einem allgemeinen Energieausgleich bestimmten anorganischen Sein das durch ein spezifisches Ordnungsgefüge gekennzeichnete sich ektropisch verhaltende organische Sein gegenüberstellt oder wenn sie von „Leben“ bei pflanzlichen und tierischen Organismen, beziehungsweise beim Menschen in körperlicher und geistiger Hinsicht spricht, also einen Analogiebegriff verwendet, der, wie die Metaphysik lehrt, in höchster und eigentlicher Weise nur dem absoluten Sein, Gott, zukommt. Die Naturforschung bedient sich ihrer durch die Metaphysik dargebotener Begriffe, wenn sie von Höherentwicklung, von gestaltenden Ordnungsprinzipien, von zweckmäßigem, auf ein Ziel gerichtetem Geschehen in ihren verschiedenen Bereichen spricht. Und für alle diese Begriffe gilt, daß der Mensch zwar, angeregt durch eine „vorwissenschaftliche“ Erfahrung, sie sich zu eigen macht, daß er sie aber nicht in der Weise, wie sie die Erfahrung bietet, aber auch keineswegs anthropomorph verwendet, sondern nach völliger Abstraktion von phänomenal gegebenen Besonderheiten.

Ein metaphysischer und nicht wissenschaftlicher Begriff ist vor allem der Substanzbegriff. Gerade was ihn betrifft, zeigt eine philosophiegeschichtliche Untersuchung, daß eine Verwechslung der Rangordnung zwischen Physik und Metaphysik verhängnisvolle Irrtümer mit sich bringen muß. Schwebt uns nämlich bei der Bildung des Substanzbegriffes irgendwie ein fester Körper vor, der als etwas Beharrliches und Selbständiges aufgefaßt wird, so gelangen wir zu einem naturwissenschaftlichen Substanzbegriff, der notwendig zum Materialismus führt. Beschränken wir uns mit dem Positivismus bei unserer Erkenntnis nur auf positiv Gegebenes, das heißt auf jene veränderlichen Qualitäten, die die Psychologie Empfindungen nennt, so kommen wir zu einer völligen Auflösung des Substanzbegriffes. Das beweist aber wieder, daß wir eben metaphysischer Begriffe und nicht physikalischer bedürfen, um die Wirklichkeit zu treffen, und daß wir zu diesen Begriffen nicht mit physikalischen, sondern nur mit metaphysischen Methoden vorstoßen können Das bedeutet aber nicht, daß ein metaphysisch gesicherter Begriff nicht auch in der Welt der Erscheinungen seine Bewährungsprobe zu bestehen hätte. Und er wird sie um so besser bestehen, je mehr er in einer die allgemeinen Seinsgesetze darlegenden Metaphysik begründet ist.

Damit aber haben wir nicht nur den Vorrang der Metaphysik vor jeder Erfahrungswissenschaft kurz dargelegt, wir haben auch eine Erklärung für sooft einander wider-

sprechende Deutungen der phänomenal vorliegenden Gegebenheiten möglich gemacht. Die Naturwissenschaft und besonders eine die durch die Naturwissenschaft festgestellten Tatsachen deutende Naturphilosophie bedarf eines metaphysischen Rüstzeuges. Auch dort, wo Metaphysik bewußt abgelehnt wird, kann man dies unschwer nachweisen. Liegen aber bei Verwendung der Grundbegriffe, beziehungsweise der das Sein und Denken betreffenden Grundgesetze Irrtümer vor, und das ist keineswegs ausgeschlossen, kennen wir doch verschiedene metaphysische Systeme, dann sind auch die Folgerungen aus den empirisch vorliegenden Tatsachen verschieden. Und es ist die Aufgabe des Metaphysikers, nicht des Naturforschers, hier nach dem Rechten zu sehen. In der Tat könnte, falsche Prämissen vorausgesetzt, ein und dieselbe Naturwirklichkeit zu verschiedenen Folgerungen führen. Die Dinge, die wir sehen, sind, wie Augustinus sagt, nur Zeichen dessen, was wir nicht sehen. Wer sich aber bei der Deutung der Zeichen eines falschen Schlüssels bedient, wird Falsches aus ihnen herauslesen. Darum: Videant metaphysici…!

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