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Probleme der neuzeitlichen Kunst

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„La teoria e il capitano a la pratica sondi soldari.“

Leonardo da Vinci

Es ist nur zu natürlich, daß wir in unserer Ratlosigkeit gegenüber künstlerischen Erscheinungen der Neuzeit die Geschichte in Anspruch nehmen.

Wenn wir daher nach ähnlichen Krisenerscheinungen, wie sie die Kunst der Gegenwart erfaßt haben, Umschau halten, und zwar Krisenerscheinungen, welche ihrem Umfang und ihrer Wirkung nach mit der unsrigen vergleichbar sind, so können wir zwei zum geschichtlichen Vergleich heranziehen: den großen Zeitumbruch an der Zeitwende von der ausgehenden Antike zur beginnenden frühmittelalterlichen Kunst und den von der ausgehenden mittelalterlichen zur beginnenden Renaissancekunst.

In der Spätantike geht die antike, auf sinnlicher Erfahrung beruhende Kunst und sensuelle Kultur zugrunde, und es entsteht eine andere Kunst, die sich von der sinnlichen Erfahrung abwendet und zur Trägerin allgemeingerichteter vergeistigter Ideen wird. Diese altchristliche und frühmittelalterliche Kunst wird zum Träger außerweltlicher Ziele, und daher vergeistigt sie ihre Ausdrucksmittel. In der Gotik erhebt sie sich bis zur Verklärung des Transzendenten und der extremsten Vergeistigung des Stofflichen, so daß man sie nicht mit Unrecht als versteinerte Scholastik bezeichnet hat*, Und-umgekehrt bildet die neu aufkommende Renaissance, vorbereitet bereits durch den mittelalterlichen Dualismus, eine Rückkehr zur antiken sinnlichen Erfahrung, zum antiken Sensualismus und zu einer gewissen Abkehr der hochgespannten Aufgaben der mittelalterlichen Kunst. Wenn wir nuhivcmnder'-Gegenreformationskunst absehen, die, wenn auch in einem anderen Sinn-,■'mittelalterliche Aufgaben aufgreift und sie mit der verfeinerten Sinnlichkeit der Renaissance verbindet, so ist auch die ganze neuzeitliche Kunst, wenn wir ihre Haupttendenzen im Auge behalten, eine Fortsetzung der Renaissance. Vor allem in. dem Sinne, daß .sie ihre künstlerischen Erfahrungen auf die Beobachtung sinnlicher Tatsachen stützt.

Wir können diesen Wandlungsprozeß der abendländischen Kunst noch von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten. Ein mehr oder weniger „freies“, das heißt individualistisches Schaffen löst ein geistig ..gebundenes“ Schaffen ab. Das „freie“ Schaffen der Antike wird von dem „gebundenen“ mittelalterlichen, das „gebundene“ mittelalterliche wiederum von dem „freien“ renaissanceartigen abgelöst. Zuletzt eine mehr relative „Gebundenheit“ des Gegenreformationszeitalters von der „Entbundenheit“ der Neuzeit. Innerhalb dieser Ablösungen kann es noch — und dies ist für das Verstehen moderner Kunstersdieinungen wesentlich — eine progressive Steigerung der Befreiung von einem „universal-gebundenen“ zu einem „individualistisch-freien“ Kunstschaffen geben. Die Neuzeit bildet den Höhepunkt dieser Progression. Hier können wir in den aller-modernsten Kunsterscheinungen der Gegenwart von einer weitestgehenden Entbundenheit sowohl in formaler als auch in geistiger Beziehung spredien. Es wird ein ganz freies Spiel künstlerischen Schaffens proklamiert.

Mit dieser freigewordenen Spontaneität künstlerischen Schaffehs berühren wir eine der Kernfragen des allcrmodernsten Kunstschaffens: den Subjektivismus. Er besteht in der Auflösung aller objektiven Werte, und zwar in der Zertrümmerung der stofflichen Gegenständlichkeit, der Form und des Inhalts. Die Erhebung des Subjektivismus zu einem absoluten Prinzip des künstlerischen Schaffens bedeutet nicht nur einen Bruch mit allen bisherigen historischen Kunsterscheinungen, sondern eine Überschreitung der Grenzen dessen, was wir als Kunst noch zu bezeichnen pflegen. Nicht der Subjektivismus als solcher bildet die Gefahr, den ohne ihn ist kein geistiges Schaffen möglich, sondern die Identifizierung des künstlerischen Schaffens mit dem Subjektivismus schlechtweg.

Man hat bereits öfter gewisse Tendenzen des neuzeitlichen Expressionismus, wie zum Beipiel die Neigung zum Subjektiven, Abstrakten oder die übertriebene Ausdruckskraft, durch ähnliche Erscheinungen historischer Stile zu rechtfertigen gesudit. Wohl gibt es ähnliche Erscheinungen in der vorangehenden abendländisdien Kunst. So ist die spätantike, altchristliche und frühmittelalterliche Kunst sowohl „expressiv“ als abstrakt. Man kann diese Tendenzen damit in Zusammenhang bringen, daß man die auf sinnlicher Erfahrung beruhende antike Kunst durch eine abstraktere und vergeistigtere ersetzen wollte. Sicherlich gibt es da Übergangserscheinungen, die in der Intensität und Abstraktheit der Ausdrucksmittel sich weit hinausgewagt haben, und doch springt ein fundamentaler Unterschied zur abstrakten Kunst der Gegenwart in die Äugen. Wohl kann als Rechtfertigung und als Analogieschluß angenommen werden, daß auch die neuzeitliche Kunst als Reaktion gegen Naturalismus und Sensualismus (hauptsächlich im Impressionismus) entstanden ist. Aber der prinzipielle Unterschied liegt darin, daß für das Expressive und Abstrakte der modernsten Kunst jede tiefere und höhere Rechtfertigung im Gegensatz zu der alt-christlichen und frühmittelalterlichen fehlt, die eben darin bestanden hat, daß das „Expressive“ und „Abstrakte“ in den Dienst einer höheren universalen Idee gestellt worden ist. Es ist das „Abstrakte des Abstrakten“ wegen, die „Expression der Expression“ wegen, das die moderne Kunst wiedergibt.

Man kann daraus entnehmen, daß im allgemeinen in den meisten Kunsterscheinungen der Gegenwart eine Abwendung von der geistigen Substanz sich bemerkbar macht. Damit beginnt ein Leerlauf der Kunst. Die Kunst wird sich selbst Ziel. Blütezeiten der Kunstentwicklung beweisen es, daß in der Verankerung in den die Menschheit führenden, erziehenden und läuternden universalen Ideen die Kunst ihre höchste und erhabenste Aufgabe erfüllt hat.

Uber die Grenzen reiner historischer Betrachtungsweise hinaus erheben sich aber in dieser Frage auch bestimmte ontologische Probleme. Es Ist vor allem die Frage nach der Funktion der Kunst im menschlichen Dasein, im Leben der Gemeinschaft und die Frage nach dem höheren Sinn der Kunst. Es handelt sich hier nicht mehr um diese oder jene Richtung oder Strömung in der bildenden Kunst der Gegenwart.sondern um ihre grundsätzliche Bedeutung, um ihre Daseinswerte.

Wir wählen aus der Fülle der Ansichten, die die universale Bedeutung der Kunst in ontologischer Hinsicht eingeengt haben, nur die wichtigsten, und zwar diejenigen, die in der bildenden Kunst eine Verabsolutierung des ästhetischen Moments oder der bloß sinnlichen Steigerung des Daseins verkörpert sehen wollen.

Durch die Verabsolutierung des Formalen, die für idealistische Zeitepochen charakteristisch ist, hat sich die bildende Kunst auf ein autonomes Gebiet zurückgezogen und mehr oder weniger von der universalen Ganzheit des Seins losgelöst. Dies gilt vor allem für jene Kunsterscheinungen, welche eine Uberästhetisierung aufweisen, so zum Beispiel die L'art-pour-l'art-Bewegung. Eine Überkompensierung des bloß Ästhetischen erschüttert in hohem Maße die ontologische Funktion der Kunst, deren Aufgaben sich weit hinaus über das bloß Ästhetische und Formale erstrecken. Vom ontologisdien, das heißt vom Standpunkt der Daseinswerte gesehen, hat die Kunst eine weit widitigere Aufgabe zu erfüllen, wobei sie selbstverständlich die geistigen, sittlichen und transzendenten Aufgaben mit den verschiedensten künstlerischen Mitteln zum Ausdruck bringt. Damit will nidit gesagt werden, daß sie die Aufgaben der Literatur, Ethik, Philosophie oder Religion direkt übernimmt, sondern die für das menschliche Dasein notwendige geistige, ethische und transzendente Substanz in sich aufnimmt und künstlerisch verarbeitet, das heißt zu einer künstlerischen Form erhebt. Es hängt von der irrationalen Sphäre des künstlerischen Schaffens ab, wie sich diese „heilige Ehe“ zwischen dem geistigen Gehalt und der Gestaltungsform vollzieht. Frei je nach Temperament, Zeit und Überlieferung ist die Wahl der künstlerischen Mittel. Notwendig für eine Erfüllung einer überaus wichtigen ontologisdien Lebensfunktion der Kunst ist aber, daß sie Gehalt und Form zu einer höheren Einheit verbindet. Verschließt sie sich in der Erfüllung bloßer formaler Aufgaben, dann schaltet sie sich weitgehend aus dem Kreis ihrer ontologisdien Aufgaben aus. Aus ähnlidien Gründen ist die aus dem Sensualismus hervorgegangene Ansicht, daß die Kunst der bloßen sinnlichen Steigerung des Daseins dient, wie die durch die evolutionistisdie Ästhetik vertretene Meinung, daß die Kunst eine Art von Luxusspiel überschüssiger biologischer Kräfte sei, vom ontologisdien Standpunkt untragbar.

Allen diesen Ansichten liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Kunst mit keinen Lebensfunktionen verbunden ist. Die Kunst ist in sinnlicher und geistiger Beziehung eine Art Muße an sich, ein Spiel- dieses oder jenes Organs, „eine Luxustätigkeit der Seele, in der sie sich ihres Überschusses an Kräften entäußert“ (Worringer).

Es ist an und für sich gleichgültig, ob die Kunst als Steigerung des grob-sinnlidien oder intellektualistischen Lebensgenusses hingestellt wird, entscheidend ist ihre Uninter-essiertheit an dem Wahren, Nützlichen und Guten (Spencer). Die Kunst als „freies Spiel“ zur Befriedigung des Lebensgenusses löst sich gänzlich von ihren ontologisdien Lebensnotwendigkeiten ab. Ein Schritt weiter führt zur Proklamierung der Kunst zum Lebensluxus im Dienste des Reichtums.

Es ist daher kein Wunder, daß diese innere Aushöhlung der Kunst zu ihrer Gesinnungslosigkeit beigetragen hat.

In diesem Zustand äußerster Schwäche wurde sie zuletzt von der allgemeinen Technisierung und Mechanisierung ergriffen. Das Prokrustesbett der Tedinik mußte sich verhängnisvoll in einer Sphäre auswirken, die ihrer ganzen Natur nach das Gegenteil von Maschine ist. Die Mechanisierung des Lebens mit der unvermeidlichen Automatisierung und Vermassung bedroht nun den eigentlichen Lebensnerv der Kunst: das individuelle Schaffen, das eine Atmosphäre jenseits aller Massenbetriebsamkeit braucht, um in Freude am Schaffen Werke zu vollbringen.

Und eine der Folgen dieser Berührung der Kunst mit der Technik war eine fortschreitende Entmenschlichung, Enthumanisierung der Kunst. Statt das Göttliche in einer erhöhten Menschheit wiederzugeben, ist die Kunst zum Menschen herabgestiegen und sollte ihm dienen, ihn verherrlichen. Das Gegenteil davon ist eingetreten. Die heutige abstrakte Kunst kann kaum mehr als Erhöhung oder Verklärung, sondern muß als Erniedrigung und Verzerrung des Menschen aufgefaßt werden.

Die Abwendung von den entologischen Lebensnotwendigkeiten, die Loslösung vom universalen Sein hat furchtbare Folgen gezeitigt, Folgen, die die bildende Kunst unserer Tage an den Rand des Abfalls vom Wesen der Kunst, wie Jaspers sich einmal ausgedrückt hat, gebracht haben.

Die Loslösung vom universalen Sein hat zur Entfesselung des schrankenlosen Subjektivismus in der bildenden Kunst geführt und damit die Wege einer jeden Weiterentwicklung in dieser Richtung verschüttet. Das bedeutet keine Aburteilung des Subjektivismus an und für sich, sondern eines Subjektivismus, dem jede im universalen Sein verankerte Richtschnur fehlt.

Die materialisierte Folgeerscheinung dieses schrankenlosen Subjektivismus in der bildenden Kunst ist ihre Verwirrung und Chaotisierung. Die Prophezeihung eines der Bahnbrecher der expressionistischen Kunst, daß sie im Zeichen des Geistes stehen wird und das Zeitalter des Genusses einer abstrakten, das heißt absoluten Kunst hervorrufen wird, hat sich nicht erfüllt. Denn eine absolute, reine, vom universalen Sein losgelöste Kunst kann es eben im menschlichen Bereich nicht geben. Absolutes gibt es nur im übermenschlichen transzendenten Bereich.

Es ist unmöglich, irgen welche Prognosen über die Zukunft der bildenden Kunst zu stellen, und wer würde sich dessen vermessen.

Aber die heute oft verschmähten historischen Erfahrungen enthüllen eine einfache, aber nicht immer gern beachtete Wahrheit, die nicht nur die bildende Kunst, sondern das ganze menschliche geistige Leben umfaßt.

Das innere Chaos im Gefühls-und Triebsleben der Menschen kann nur dann überwunden werden, wenn es durch ein kosmisch geordnetes universales Weltbild beherrscht wird. In dem Grade, als wir uns von diesem, im Metaphysischen verankerten Weltbild entfernen, verfallen wir der dämonischen Wirkung chaotischer Naturgewalten. Auf der Spur folgt dann die Zerstörung aller dieser Kulturwerte, welche die universalen Zeitepodien im zähen Kampf mit Naturgewalten sich abgerungen haben. In diesen universalen Zeitaltern liegt die Sicherung gegen einen jeden schrankenlosen und daher zerstörenden Subjektivismus in der Entfaltung und Gestaltung objektiver geistiger Werte, welche die Riditschnur für die Beurteilung aller geistigen Erscheinungen bilden.

Nur aus dieser Objektivität geistiger Werte kann das Sinnvolle vom Sinnlosen, das Qualitätsvolle vom Qualitätslosen, das Wertvolle vom Wertlosen unterschieden werden. Objektive Normen und Gesetzmäßigkeiten bestimmen das geistige Leben. Auch die bildende Kunst, der eine große Rolle als antologische Lebensnotwendigkeit in universal gerichteten Kulturen zufällt, übt ihre wichtige Funktion als einer der Träger dieser objektiven Welt universaler Werte aus.

Sind wir wirklich so weit entfernt von solchen Vorstellungen von der Rolle des geistigen Lebens und ihrem Verhältnis zur bildenden Kunst?

Aus der Sehnsucht nach dem ordnenden Sinn des menschlichen geistigen Lebens und aus dem Prinzip der Berührung der Gegensätze zu schließen, scheint es, daß diese Entfernung vielleicht geringer ist, als man es in einem hoffnungslosen Pessimus auzunehmen geneigt wäre.

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