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Psysik und Metaphysik nach Pius XII

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Das bedeutendste Ereignis des vergangenen Jahres auf dem Gebiet der kirchlichen Wissenschaft war ohne Zweifel die Ansprache, mit welcher der Heilige' Vater den vierten Internationalen Thomistischen Kongreß in Rom eröffnete1'.

Oder ist, es nicht erschütternd, wenn dabei der oberste Vertreter derselben Instanz, die einst Galilei verurteilte und Kopernikus auf den Index der verbotenen Bücher setzte, sich in umfangreichen Ausführungen zu derselben neuzeitlichen Physik des Himmels und der Erde bekennt, deren bahnbrechende Begründer unter anderen jene beiden Männer waren? Man hat das Empfinden einer allgemeinen Rehabilitierung der' damals verkannten physikalischen Wissenschaft vor dem Glauben, wie umgekehrt einer Wiedergutmachung von kirchlichen Stellungnahmen, die eine scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Wissen und Glauben aufrissen. Es ist faktisch auffälligster Ausdruck für einen^ Umbruch, der sich unter , Förderung von höchster Stelle vollzieht und der nichts weniger als ein neues Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft hier zunächst von thomistischer Philosophie und moderner Physik angebahnt hat.

Aber nicht weniger aufregend ist der Umstand, daß diese Rede vor.einem internationalen Thomistischen Kongreß gehalten wurde. Es geschah damit vor heutigen Vertretern jener thomistischen Theologie und aristotelischen Metaphysik, aus denen die Argumente gegen die Lehren des Kopernikus und Galilei geholt wurden. Man darf nicht vergessen, daß man sich gegen die damaligen wie gegen die heutigen Erkenntnisse der neuzeitlichen Physik vielfach auf Thomas berufen konnte und kann. Auch er lehrte die Ortsunbewcgiichkeit der Erde und berief sich dafür auf Aristoteles* und auf die Bibel:3, Er lehrte den Geozentrismus * ebenso wie die Bewegung der“ konzentrischen Himmelshohlkugeln um die Erde“. Er erklärte die allgemeine Grayitation von vornherein für unmöglich*. Er verneinte die atomistische Struktur der Körper lind ließ ihre Teilbarkeit grundsätzlich -bei.: der Sichtbarkeitsgrenze enden7. Er lehnte eine korpuskulare Theorie des Lichts mit den schärfsten Ausdrücken ab8. Das alles nicht etwa bloß deshalb, weil es dem Augenschein widersprach, sondern weil es in sich unmöglich schien und mit den Grundlagen der damaligen Naturwissenschaft in unvereinbarem Widerspruch stand. - •, I-

Es möchte mancher trotzdem meinen, daß eine Rede des Heiligen Vaters wie diese heute nicht mehr zeitwichtig, sondern überflüssig sei und offene Türen einrenne. Allein das wäre ein grober Irrtum. Im Gegenteil: Die antigalilei-schen Affekte und antikopernikanischen Instinkte sind nicht erloschen. Sie glühen unter mancher Asche weiter und brechen, wie Beispiele immer wieder zeigen, bei Gelegenheit mit unverminderter Heftigkeit hervor. Die Arguniente werden heute wie damals,wesentlich aus den gleichen Quellen geschöpft. Ist. es heute weniger die Bibel, so ist es die Kirche und der kirchliche Thomismus mit seinem Gewährsmann Aristoteles.

Auch die Waffen sind nach wie vor die selben geblieben. Bei näherer Analyse findet man dieselbe Konsequenzmacherei, die hinter jeder neuen Entdeckung oder Annahme böse Folgen für Theologie und Philosophie sucht und findet, ■dieselbe Verketzerungssuchf, die vieles, was bei Thomas noch nicht zu finden ist, als unkirchlich und metaphysisch widersinnig abtut, daher denselben unklugen Eifer, der meint, alles Neue, schon weil es neu ist, bekämpfen und verdächtigen zu müssen, denselben privaten Anspruch, sich in der Kirche zum Lehrer und Inquisitor aufzuspielen und unter Verhängung von Zensuren von anderen mehr zu verlangen, als die Kirche von allen fordert.

Die damaligen Versuche, wissenschaftliche Kontroversen mit solchen Waffen auszutragen, sind auch heute nicht völlig verschwunden. Eine Forschung, die sich ihnen gegenübersieht, hat es wie damals nicht immer leicht, die Kirchlichkeit ihrer Methoden und Ergebnisse zu verteidigen8*. Aber zur äußeren Bedrohung kommt bei ihr die innere Befürchtung, entweder der philosophischen Ueberlieferung oder den neuen Erkenntnissen zuwenig gerecht zu werden und bei der Suche nach dem richtigen Mittelweg einen Abweg einzuschlagen. Unter diesen Umständen ist es von unschätzbarem Wert, daß man sich heute im Gegensatz zu damals in solchen zeitwichtigen Fragen auf den Papst berufen kann.

Es gibt selbstverständlich- auch auf der wissenschaftsfreundlichen Seite Stimmen, die eine solche Rede mit gemischten Gefühlen aufnehmen. Sie meinen vor allem, die Kirche und ihr Oberhaupt seien als solche nicht zuständig, in den Fragen der Physik mitzureden. Das habe sich im Falle Galilei und Kopernikus ganz eindeutig gezeigt. Und die andere Seite wird das quittieren und sagen, man wisse nicht, ob die heutige Stellungnahme glücklicher sei als die damalige. Also Mißbrauch päpstlicher Autorität.

Allein das wäre wieder ein schweres Mißverständnis. Das Fehlurteil einer Instanz ändert nichts an ihrer Zuständigkeit. Die Zuständigkeit war damals durch den engen Zusammenhang der neuen Physik mit der Bibel, ihrer Deutung, Inspiration und Irrtumsfreiheit gegeben. Heute aber handelt es sich vor allem um den Zusammenhang mit den Lehren eines kirchlich approbierten und gesetzlich geschützten Thomismus. Wie das Vatikanum9 erklärt, hat jede Wissenschaft ihre eigenen Voraussetzungen und Methoden. Sie kommt damit zu ihren eigenen Ergebnissen und ist insoweit, im Gegensatz zur mittelalterlichen Auffassung, von Theologie und Kirche unabhängig. Das schließt aber nicht aus, daß sich zwischen Profanwissenschaft und kirchlicher Theologie Berührungspunkte ergeben, die eine Stellungnahme von seilen der Kirche als hierin zuständiger Instanz nicht bloß rechtfertigen, sondern fordern. Hat nun die Kirche einerseits der Metaphysik des hl. Thomas ihre Zustimmung erteilt und gerät diese Metaphysik mit der Naturwissenschaft in Konflikt, wie es damals geschah, dann muß natürlich die Kirche sich einschalten. Wir hoffen zuversichtlich, daß die heutige Stellungnahme glücklicher sei als die damalige.

Damit kommen wir zu einem der wichtigsten Punkte der Ansprache. Der Papst, der sich nachhaltig zur neuzeitlichen Physik bekennt, steht in derselben Rede nicht weniger nachdrücklich zu dem von. Leo XIII. inaugurierten kirchlichen Neuthomismus. Da aber infolge des Bekenntnisses zur modernen Physik gewisse Positionen des Thomismus geopfert werden müssen, entsteht die Frage, wieweit man sich von Thomas entfernen dürfe, ohne aufzuhören, Neuthomist im kirchlichen Sinne zu bleiben, ja wieweit man sich davon entfernen müsse, um es zu sein. Es ist nun das Eigentümliche dieses Papstes, daß er uns auf solche Fragen nicht bloß allgemeine Antworten, sondern konkrete Beispiele gibt. So auch hier. Und die aufgezeigte Breite der Abweichungen ist enorm. Der Heilige Vater schlägt nicht Geringeres als eine Revision des Hylomorphismus vor, die Anwendung des Thomistischen Hylomorphismusgedan-kens der Zusammensetzung der Körper aus Urstoff und Wesensform auf ein Gebiet, das Thomas nicht bloß nicht kannte, sondern grundsätzlich ausschloß. Das Prädikat hylomorph soll physikalisch von Subjekten ausgesagt werden, die nicht wie bei Thomas der makrophysischen, sondern der Thomas völlig unbekannten mikrophysischen Welt angehören, der Welt der Atome, Moleküle und ihrer letzten Bestandteile10. Und dieser neue Hylomorphismus soll zur Beantwortung von Fragen dienen, die für Thomas nicht gestellt waren und damals nicht gestellt werden konnten. Er soll nicht Wesensartwandel und Artensystem der makrophysischen Körper11, sondern die Zusammensetzung der letzten mikrophysischen Einheiten, Wesen und Ursache der Unbestimmtheit mikrophysischer Vorgänge und die Frage nach der Natur der sogenannten Verwandlung der Materie in Energie zu klären versuchen. Es ist leicht zu sehen, welche Fülle von Problemen dabei aufgeworfen sind. Welches ist z.,B. das Verhältnis des alten biologischen Hylomorphismus, an dem der Papst festhält, zu diesem neuen physikalischen? Welches ist das Verhältnis der Konstitution der makrophysischen Körper, die allein nach Thomas hylomorph waren, zu der neuen hylomorphen Konstitution der mikrophysischen Materie?

Hier ist nicht der Platz, darauf näher einzugehen. Aber eines ist wichtig. Nach den Darlegungen des Papstes ist jedenfalls Metaphysik, wenigstens soweit sie eine Metaphysik der Materie sein will, nicht völlig unabhängig vom jeweiligen Stand der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft bietet der Metaphysik völlig neue Subjekte für metaphysische Prädikate an, völlig neue Fragen für metaphysische Antworten und völlig neue Tatsachen für metaphysische Theorien. Aus neuen Subjekten, Prädikaten, Fragen und Antworten ergeben sich notwendig neue Thesen und Argumente.

Metaphysik solle daher zuerst der Physik das Wort lassen, z. B. > darin, welches die letzten Einheiten seien. Sie soll dort anfangen, wo die Naturwissenschaft aufhöre und sie solle metaphysische Gedanken dort in den Dienst der Naturwissenschaft stellen, wo diese mit ihren Gedanken 2u Ende sei. Zu diesem Zweck sei es für die Naturphilosophen unerläßlich, die moderne Physik zu studieren.

Diese programmatische Papstrede steht nicht vereinzelt da. Sie ist eine der vielen Aeußerun-gen des Heiligen Vaters zu demselben Thema. Am nächsten steht ihr wohl die bekannte Rede über den Gottesbeweis aus der Bewegung.12. Beide scheinen, das gemeinsame Ziel zu haben, an konkreten Beispielen, dort an den Gottes-beweisen, hier am Hylomorphismus, die Revision des Thomismus vorzuexerzieren, die zu jenem Neuthomismus führt, den die Kirche will. Er ist weit weg von einem opportunistischen Zitatenschatzthomismus, dem das System gleichgültig ist, dem aber die Werke des hl. Thomas eine Fundgrube von Texten sind, die sich bei Gelegenheit vorteilhaft zitieren lassen. Er ist aber auch ebensoweit weg von jenem starren Thomismus, dem nicht bloß das System als Ganzes, sondern auch dessen Einzelheiten so wichtig sind, daß es nichts für ihn gibt, was in Thomas nicht zu finden ist, und alles unantastbar bleibt, was der Meister vor siebenhundert Jähren meinte.

Die Fingerzeige dieser Papstrede wie . ihrer Geschwister sind daher eine einmalige Gelegenheit, auf diesem, an Beispielen gezeigten Weg in der gewiesenen Richtung weiterzugehen, um wissenschaftlichen Fortschritt der Physik und kostbares Erbgut unserer Metaphysik miteinander harmonisch zu verbinden.

Anmerkungen: 1 Vom 14. IX. 1955. AAS 47 (1955) 683-691. ' Cael 2, 26.

* Ps 36, 6 (8); Is 40 (Parma 14, 528 a post med; Job 9, 1 (Parma 14, 38 a fin); Hebr 1, 5 (Parma 13, 679 a fin).

' Siehe Anm. 2.

* caelum .79—155. \.

* vercell (42) 5; pot 5, 5 c. 7 3, 77, 4 c; minimum 1.

* 2 d 13, 1, 3 c.

'.Mitterer, Albert. Kirchlichkeit des neuen Weltbildes. Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 2 (1955) 173-196.

* D 1799.

in WW 1 =, Das Ringen der alten Stoff-Form-Metaphysik mit der heutigen Stoff-Physik. Innsbruck (Tyrolia) 1935. Vergriffen.

11 WW 2 = Wesensartwandel und Artensystem der physikalischen Körperwelt. Bressanone-Brixen (A. Weger) 1936. Auslieferung auch Herder, Wien.

12 GBB = Der Gottesbeweis aus der Bewegung nach Thomas v. Aquin und nach Papst Pius XII. In: Theologische Fragen der Gegenwart (Kardinal-Innitzer-Festgabe) Wien (Domverlag) 1952.

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