
Schattenexistenzen: Wenn die Dunkelheit lockt
Einmal ans Licht getreten, fordern Schattenexistenzen die Gesellschaft heraus. Der Philosoph Peter Strasser erklärt, warum wir sie brauchen.
Einmal ans Licht getreten, fordern Schattenexistenzen die Gesellschaft heraus. Der Philosoph Peter Strasser erklärt, warum wir sie brauchen.
Die Eule der Minerva, das Tier der Weisheit, beginnt ihren Flug in der einbrechenden Dämmerung. Was wäre – frei nach Hegel – die Welt ohne Schattenexistenz? Freilich, in den Schatten nistet auch das Tagscheue, es verbirgt sich in dunklen Straßenecken, schmuddeligen Cafés, Hinterhöfen gleich neben den Abfalltonnen, um jene Dienste anzubieten, die manche von uns dringend benötigen. Und es gibt die Existenzen, welche nicht mehr rausgehen aus der Düsternis ihrer vier Wände, weil sie an der Flasche oder der Nadel hängen oder aber hinter verschlossener Tür mit dem Gedanken spielen, aus dem Fenster zu springen.
Es gibt die Obdachlosen, die ihre sieben Sachen hinter einer Parkbank horten, scheu darauf bedacht, ungesehen zu bleiben. Und dann gibt es die „Nerds“, die sich mit Pizzen vollstopfen und mit Energydrinks nachspülen, während sie ihr elektronisches Equipment als Schutzwall nützen, um nicht „unter die Leute“ gehen zu müssen: nichts schlimmer als ein sonniges Geplauder über den sprichwörtlichen Gartenzaun!
Die Totenreiche der Alten
Wir hingegen, welche die Gepflogenheiten des bürgerlichen Lebens respektieren, die Mitmenschlichkeit pflegen, unsere Steuern bezahlen, Höchstgeschwindigkeiten einhalten und dabei keine Spaßverderber sind, brauchen das helle Tageslicht nicht zu scheuen, oder? Indes, laut Bergpredigt, Matthäus 5,45, geht die Sonne über den Guten wie den Bösen auf, und der Regen fällt auf Gerechte wie Ungerechte. In unseren Albträumen rumoren bleiche Nachtmahre, uns Selbstgerechten zur Mahnung. Auch die schattenlos Guten sind vergänglich wie Schatten.
Da ich mich eines fortgeschrittenen Alters erfreue, denke ich, humanistisch gedrillt, bei dem Begriff „Schattenexistenz“ spontan an die Totenreiche der Alten, wohin wir ja alle nach unserem Ableben verfrachtet werden sollen. Dort, in diesen dunkelnden, aber nicht ausgesprochen nächtigen Gefilden, würden wir bis zum Nimmerleinstag als unsere eigenen Schatten umzugehen haben.
Ich weiß nicht, was mir weniger lieb wäre: das Höllenfeuer, vor welchem dem Christenmenschen graut, oder diese ewige Langeweile im toten Grau in Grau, zusammen mit all den anderen Seelenzombies, die einst lebendige Menschen waren. Und wie der Name schon sagt, die „Schattenexistenzen“ leben verborgen in ihren Refugien, Rückzugsorten der Anonymität, und huschen quasi vorbei; jedenfalls wird man mit ihnen keine gemütliche Teestunde samt Plausch über Sein und Nichtsein zelebrieren können.
Schattenexistenzen, obwohl dem Gesellschaftsbetrieb immanent, sind Wesen, die man am liebsten aus den Augenwinkeln wahrnimmt, es sei denn, sie treten fordernd ans Licht. Exemplarisch hat der Dichter Heimito von Doderer die Figur des Hausmeisters von einst gestaltet: Gleich einem „Troglodyten“ – Höhlenbewohner – aus seiner Kellerwohnung emporsteigend, knöpft er dem Nachtschwärmer für das Aufsperren der Haustüre nach 22 Uhr das „Sperrsechserl“ ab. Ganz anders Doderers „Ruass“, der, rund um die Ereignisse des Justizpalastbrandes vom 15. Juli 1927, die Zerstörung der alten Ordnung vorantrieb: Die Schattenexistenz hatte sich zum Feuerteufel radikalisiert.
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