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Schlüsselbegriff Sozialisation

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Der Mensch, der im dargelegten Sinne die Gemeinschaft zu seiner Entwicklung braucht, hat im Anschluß an die Gemeinschaft die Fähigkeit, neue Werte zu schaffen. Das heißt: die Gesellschaft realisiert Ideen, sie schafft diese Ideen aber nicht; denn solches geschieht, wie Scheler sich ausdrückt, entweder durch die freie Tat des einzelnen oder durch die Realfaktoren, das heißt durch das in Geschichte und Gesellschaft sich äußernde Trieboder Drangleben der Einzelpersönlichkeiten und ihrer Interessen. Es war ein Verdienst Scbeiers, seinerzeit darauf hingewiesen zu haben, daß der Mensch die Gesellschaft überragt, weil er nicht nur ein biologisches Wesen ist, sondern auch Person.

In diesem Sinne hat die Pastoralkonstitution des II. Vaticanums (Kirche und Welt), die ausführlich auf das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft im staatlichen Bereiche eingeht, ausdrücklich festgehalten: „Die Kirche ist zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person“ (Nr. 76).

Wir können also über die allgemeine Feststellung hinaus, daß der Mensch ein soziales Wesen ist, das Verhältnis von Gesellschaft und Einzelmensch näher erläutern: Der Fortschritt der menschlichen Person und das Wachsen der Gesellschaft bedingen sich gegenseitig. „Wurzelgrund, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institution ist die menschliche Person, die wieder von ihrem Wesen her des gesellschaftlichen Lebens bedarf.“ — „Da alsc das gesellschaftliche Leben“, sc heißt es in der eben zitierten Pastoralkonstitution, „für den Menschen nicht etwas äußerlich hinzukommendes ist, wächst der Mensch aus allen seinen Anlagen und kann seiner Berufung entsprechen durch Begegnung mit anderen, durch gegenseitige Dienstbarkeit und durch den Dialog mit den Brüdern... In unserer gegenwärtigen Zeit mehrer eich beständig aus verschiedener Ursachen die gegenseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten. So entstehen mannigfache Verbindunger von Institutionen öffentlichen und privaten Rechtes. Obwohl dieser “Vorgang, den man ,Sozialisation' bezeichnet, gewiß nicht ohne Gefahrer ist, bringt er doch viele Vorteile für die Festigung und Förderung der Eigenschaft der menschlichen Person und für den Schutz ihrer Rechte mit.“

Ich fasse zusammen: Die Gesellschaft hat die Aufgabe, die materiellen I^ebensbedingungen für der einzelnen sicherzustellen. Aber nach nur das: sie hat ihre Hilfe anzubieten, damit der Mensch alles habe was er zu einem guten und geordneten Leben braucht, damit er siel geistig und sittlich vervollkommne Die Gesellschaft hat weiter die Bedingungen daifür zu schaffen, dal der Mensch die Aktualisierunger seiner Möglichkeiten, die wahr Glückseligkeit erreiche. Das is abjektiv Gott als das sümmun eudaimonia oder das innere Glück in der fruitio Dei; so drückt es Thomas von Aquin im Anschluß an Aristoteles aus.

Die Rolle der Gesellschaft

In der christlichen Auffassung, derzufolge der Einzelmensch in seiner unantastbaren Würde, Freiheit und Verantwortung so stark herausgestellt wird, hat die Gesellschaft die Aufgabe, dem Menschen die Bedingungen für seine Vervollkommnung zu schaffen. Diese Vervollkommnung des Einzelmenschen ist eine natürliche und übernatürliche; in diesem Sinne haben wir auch eine zweifache Gesellschaftsordnung; in unserer abendländischen Sicht und Ausdrucksweise sagen wir kurz: Staat und Kirche.

Es ist also eine überragende Rolle, die die menschliche Gesellschaft in bezug auf die Vollendung des Menschen spielt. Daraus geht aber auch hervor, welche Bedeutung jene haben, die sich um die rechte Ordnung in der menschlichen Gesellschaft bemühen, um eine Verbesserung der Gesellschaft selber zu erreichen, als Voraussetzung und Mittel für die Vervollkommnung des einzelnen. Von denen, die solches tun, sagen wir, sie stehen im Dienste der Politik. Politik kann und darf darum nicht von vornherein als ein schmutziges Geschäft angesehen werden, sondern als ein Bemühen, die gesellschaftliche Ordnung so zu gestalten, daß wir in dieser Gesellschaft als einzelne einen möglichst hohen Grad der Vollendung unserer menschlichen Existenz erreichen. Alle, die sich so um die Verbesserung unserer primären und sekundären gesellschaftlichen Ordnungen und gemeinschaftlichen Strukturen bemühen, die das in der rechten Erkenntnis und rechten Absicht tun und so Politik treiben, verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung.

Abkehr vom falschen Ideal

Wir sehen damit aber auch, von welcher Bedeutung das moralische und intellektuelle Klima unserer gesellschaftlichen Einrichtung ist. Ihr Hochstand oder Tiefstand beeinflußt das kulturelle und wirtschaftliche Milieu. Das Bemühen des einzelnen wiederum, sein Streben nach Vervollkommnung, beeinflußt aber auch wieder die Gesellschaft, in der wir leben. Die einzelnen wirken durch ihren intellektuellen oder moralischen Hochstand oder Tiefstand auf die Gesellschaft, durch ihr geistiges und moralisches Engagement oder Desinteresse verbessern : oder verschlechtern sie das soziale Klima, die soziale Wirklichkeit. So bestimmt die Gesellschaft den . Einzelmenschen als gesellschaft-. liches Wesen und so wird die Ge-, Seilschaft in ihrem Werte mit-, bestimmt durch die Mitarbeit an den I gesellschaftlichen Aufgaben des ein-i zelnen.

: Bedauerlicherweise ist im Verlauf ; der letzten Jahrhunderte ein großer auch innerhalb der Christen in Verlust geraten. Aus verschiedenen historischen Gründen wurde ein falsches Ideal konstruiert, demzufolge die Vollendung des Menschen sich möglichst abseits oder jenseits von Gesellschaft, Politik und Welt vollziehen soll. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert. Die Tatsache, daß seit Johannes XXIII. keine Enzyklika den Vatikan verlassen hat, die nicht Sozialenzykiika genannt werden könnte, ist dafür ein äußeres Zeichen. Johannes XXIII. hat in seiner Enzyklika „Mater et Magistra“ neue Akzente gesetzt. Er hat nicht nur die demokratische Regierungsform, zu der sich die Kirche lange Zeit in einem Spannungsverhältnis befand, gutgeheißen, sondern auch die Katholiken in der ganzen Welt verpflichtet, sich um die Probleme der Gesellschaft zu kümmern, auf dem Gebiete der Wirtschaft und Politik mitzuarbeiten. Dazu soll sich jeder Katholik das notwendige Wissen aneignen, um sachgerecht mitsprechen zu können. Er soll sich zudem um jenes Maß an sittlicher Reife und Vollkommenheit bemühen, was notwendig ist, um das Leben gerade in einer demokratisch organisierten Gesellschaft meistern zu können. „Jeder“, so heißt es in „Mater et Magistra“ (Ausgabe E. Welty, Freiburg 1961, Nr. 179), „der sich Christ nennt, muß es als seinen Auftrag und als seine Sendung ansehen, sich mit aller Kraft für die Vervollkommnung der Gesellschaft einzusetzen und sich bis zum äußersten zu bemühen, daß die Menschenwürde in keiner Weise angetastet wird, vielmehr alle Schranken niedergelegt und alle Hilfen beigestellt werden, die ein Leben nach der Tugend anziehend machen und befördern.“

Das Thema meines Vortrages wird in dem gleichen Rundschreiben folgendermaßen aufgegriffen: „Niemand soll sich deshalb dem eitlen Wahn hingeben, die eigene geistige Vervollkommnung und die irdische Alltagsarbeit widersprechen einander ... Es soll niemand meinen, man müsse sich den Werken des zeitlichen und irdischen Lebens notwendigerweise entziehen, um nach christlicher Vollkommenheit zu streben; oder man könne sich auf keinen Fall einer solchen Tätigkeit hingeben, ohne die eigene Würde als Mensch und als Christ aufs Spiel zu setzen“ (Nr. 169; vgl. 222, 247, 255).

Die zunehmende Vergesellschaftung

Wie sehr das Vatikanische Konzil in seiner genannten Pastoralkonstitution die gesellschaftlichen Fragen aufgegriffen hat, wurde bereits erwähnt. Lassen Sie mich noch aul die einleitenden Sätze des gesellschaftlichen Abschnittes dieser Konstitution hinweisen: „Zu den charakteristischen Aspekten der heutiger Welt gehört die Zunahme der gegenseitigen Verflechtungen unter der Menschen, zu deren Entwicklung der heutige technische Fortschritt ungemein viel beiträgt. Doch das brüderliche Gespräch der Menscher findet seine Vollendung nicht in diesen Fortschritten, sondern grundlegender in jener Gemeinschaft vor Personen, die eine gegenseitige Achtung der allseits erfaßter geistigen Würde verlangt. Durch Förderung dieser Gemeinschaft vor Personen bietet die christliche Offenbarung eine große Hilfe gleichzeitig führt sie uns zu einen“ tieferen Verständnis der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens, die der Schöpfer in die geistige und sittliche Natur des Menschen eingeschrieber hat“ (Nr. 23).

Auf die weltweite Bedeutung der zunehmenden Vergesellschaftung des Menschen nimmt das genannte Dokument in folgender Weise Bezug: „Aus der immer engeren, allmählich die ganze Welt erfassender gegenseitigen Abhängigkeit ergib sich als Folge, daß das Gemeinwohl das heißt die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlicher Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern eir volleres und leichteres Erreichen dei eigenen Vollkommenheit ermöglichen, heute mehr und mehr einer weltweiten Umfang annimmt unc deshalb auch Rechte und Pflichter mit sich begreift, die die ganze Menschheit betreffen. Jede Gruppe muß den Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen anderer Gruppen ia dem Gemeinwohl der ganzer

Menschiheitsfamilie Rechnung tragen“ (Nr. 26).

Wenn also in der Pastoralkonstitution „Kirche und Welt“ den sozialen und gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit soviel Aufmerksamkeit geschenkt wird, so ist es nicht zu verwundern, daß auch in der dogmatischen Konstitution über die Kirche der gesellschaftliche Charakter der Kirche stark betont wird im Gegensatz zu den mehr individuellen Tendenzen einer früheren Zeit. Die Ansätze dazu in Pius' XII. Rundschreiben „Mystici corporis“ sind im Bilde vom Volke Gottes entfaltet und in kirchensoziologischer Hinsicht vertieft worden. Es wäre aber schade, wenn das Pendel der nachkonziliaren Zeit so weit nach der einen Seite ausschlagen würde, als ob in der Kirche von heute nur noch neue Organisationsformen, neue Organismen, neue liturgische Gemeinschaftsformen beziehungsweise ihre Reformen und ihre Umformung wichtig wären — ohne zu bedenken, daß der Glaube und das Leben aus dem Glauben Sache des einzelnen und der persönlichen Entscheidung ist, die von keiner kirchlichen Gemeinschaft oder neuen organisatorischen Einrichtung abgenommen werden kann. Die Spannung zwischen dem Glauben des einzelnen und dem Leben in der kirchlichen Gemeinschaft kann nicht zugunsten des einen oder anderen aufgehoben werden.

Die gemeinsamen Werte

Im staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche wird heute oft von Pluralismus im .Sinne verschiedener Weltanschauungen und Gruppen-interessen gesprochen. Um so mehr verspüren wir heute die Notwendigkeit, im Interesse der Gemeinschaft und der Gesellschaft eine gemeinsame Wertbasis zu betonen, nach gemeinsamen Grundwerten der Kultur Ausschau zu halten, in der Erziehung und Bildung der jungen Generation sowie durch Einflußnahme auf die öffentliche Meinung das stärker zu betonen. Gerade in der wltanschatrlich-pluralistisdien Gesellschaft müssen gemeinsame Werte und Grundlagen vorhanden sein. Wir müssen uns heute mehr denn je vor Augen halten, daß unsere moderne Gesellschaft nicht lebensfähig sein kann ohne gemeinsame Grundüberzeugungen. Die Freiheit darf nicht als eine Freiheit von etwas, sondern als eine Freiheit zu etwas gesehen werden, zur Menschenwürde und zur Demokratie. Der Freiheitsbegriff im Westen wird nur noch einigermaßen zusammengehalten durch den Abwehrwillen gegen den Kommunismus. Es fehlen hingegen die positiven Werte, die Fragen um Daseinssinn und Daseinsgestaltung. Wir verspüren einen offenkundigen Verfall des noch gemeinsamen Wertgrundes infolge wissenschaftlicher Überheblichkeit, fachwissenschaftlicher Spezialisierung, parteiideologischer Erstarrung und hedonistischer Lebensauffassung (Messner, Kulturethik, 516).

Das geistige Klima der Demokratie wird durch die soziale Tugend der Gesprächshaltung bestimmt Die Gesprächsibereitscbaft muß zu einer neuen Besinnung des Westens auf den Einheitsgrund gemeinsamer Wertüberzeugung führen. Als solche seien nur erwähnt: die Antike, das Christentum, die geistigen Kräfte der Neuzeit. Sie müssen schließlich zu einer geistigen Renaissance unserer Welt führen, um der heutigen geistigen Stagnation zu begegnen.

Die Notwendigkeit des Miteinander

Das Bewußtsein, daß der Mensch seine Vollendung in der Gesellschaft und nicht ohne die Gesellschaft erreicht, ist heute gemeinsamer Bestandteil christlicher und nichtchristlicher Denksysteme unserer Zeit. Verschieden ist nur die Auffassung von der Art und Weise dieser Vollendung: Auf der einen Seite ist es die innerweltliche humanistische Vollendung, auf der anderen Seite die jenseitige theozen-trische Vollendung. Aus diesen beiden verschiedenen Auffassungen resultieren verschiedene politische Konzepte. Diese verschiedenen politischen Gebilde leben aber heute In einer Welt, die durch den zivilisatorischen und industriellen Fortschritt zu einer Einheit zusammengewachsen ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, miteinander zu leben. Die Form dieses Zusammenlebens wird sich von der bisherigen Phase der Koexistenz wandeln müssen zur Phase der Kooperation, wie Papst Paul VI. in seiner UNO-Rede am 4. Oktober 1965 gesagt hat. Zusammenarbeiten ist aber nur möglich auf einer gemeinsamen Basis, Diese gemeinsame Basis wird durch den Dialog zwischen den verschiedenen Weltanschauungen geschaffen werden müssen.

Prof. Nemschak, der Leiter des Institutes für Wirtschaftsforscbuni in Wien, erzählte mir unlängst vor einem Vortrag in Moskau vor Fachleuten der Gesellschaftswiissenschafl und Wirtschaftswissenschaft. In der offenen Aussprache dieser Fachleute sei die Konvergenz der westlichen und östlichen Welt deutlich geworden. So wie sich im westlicher Bereiche gewisse Ordnung unc Planungsaspekte aufdrängen, s< wird die kommunistische Wirtscbaf genötigt, individuelle Gesichtspunkte und solche der freien Marktwirtschaft zu assimilieren. In seinen Vortrag konnte er unwidersprocher folgendes sagen: „Die Wirtschaftsforscher, Soziologen und Politologer in Ost und West sollen sich vo: allem bemühen, die grundsätzlicher Unterschiede der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem< zu verstehen, und nicht primär aue die Bekehrung des Gegners bedach sein... In den hochentwickelter Industriegesellschaften von heute is nicht mehr der Boden und aucl nicht mehr das Kapital als produziertes Produktionsmittel, sonderr der Mensch mit seiner schöpferischen Initiative, seinem Forschungsdrang, Erfindergeist unc Verantwortungsbewußtsein für di< Gemeinschaft die weitaus wichtigste Produktionskraft. Daher müsser beide Wirtschaftssysteme der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit größte Auifimerksamkei widmen.“

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