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Selbstbesinnung der Philosophie

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Niemals ist das kennzeichnende Problem einer Zeit lediglich eine theoretische, gewissermaßen akademische Streitfrage gewesen. Eine solche Deutung der Philosophie wäre außerstande, den Zwang, die Leidenschart und die Not zu erklären, die einen Sokrates trieb, den Giftbecher zu nehmen, oder die einen Ciordano Bruno befähigte, vor der letzten Konsequenz nicht zurückzuschrecken. Das dominierende Denkproblem einer Zeit ist immer zugleich oder vielleicht gar anfänglich ein praktisches, ein den Menschen in seinem unmittelbaren Lebensvollzug unmittelbar berührendes und bedrängendes. Auch unsere Gegenwart steht unter einer solchen zentralen Frage. So geht es in der Existenzfrage bezeichnenderweise um die praktische Existenz des Menschen, um sein Hineingehaltensein ins Nichts, um da« Absurde, die Sinnlosigkeit, das Sein zum Tode. Aber hinter der konkreten Not verbirgt sich die theoretische Frage, zu der die Analyse der menschlichen Existenz heute vorstoßen muß: das Problem des Sinnes menschlichen Seins, ja des Seins überhaupt.

Der denkende Mensch von heute, in seiner Ratlosigkeit an die Philosophie verwiesen, findet jedoch keine Philosophie mehr vor, deren Kompetenz unangefochten wäre. Im Gegenteil: „Die Fragwürdigkeiten des täglichen Lebens erscheinen vielmehr gerade als Reflex einer Standort-losigkeit der Philosophie selbst, die bei geringster Änderung der Ausgangsposition und Betrachtungsweisen kaleidoskopartig eine andere Gestalt erkennen läßt.“ Dieser Satz stammt von Richard W i s s e r und ist einem Werk entnommen, das vor kurzem im Max-Niemeyer-Verlag in Tübingen erschienen ist, und das als eine Art Selbstbesinnung der Philosophie auf die philosophische Grundfrage der Gegenwart höchstes Interesse verdient;

Zunächst mag der Umstand verblüffen, daß das Thema „Sinn und Sein“ nicht in Form einer Monographie, sondern als ein philosophisches Symposion angegangen wird. Aber nach dem Gesagten läßt sich der Gedanke nicht abweisen, daß ein philosophisches Symposion, also das dialo-sjs-c¥ angelegte Mit; imd Gegeneinander im Gespräch, vielleicht die ursprünglichste Art und Weise ist, die Vertreter der Philosophie, die Philosophen, au einer Rechenschaftsablage zu bringen. Der Herausgeber, Richard Wisser, vom dialogischen Charakter des Denkens und den Möglichkeiten kommunikativer Wahrheitsfindung überzeugt, hat 50 Gelehrte aus allen Teilen der Welt in diesem Band um ein zentrales Thema versammelt. Der weltumspannende Kreis der Mitarbeiter ist beredtes Zeugnis für die weltweite philosophische Tätigkeit des Mainzer Ordinarius für Philosophie, Fritz-Ioachim von Rlntelen, dem dieses großartige Symposion gewidmet ist.

Wenn es auch nicht möglich ist, den Gang des Denkens nachzuzeichnen, der durch die Vielfalt der Auffassungen, den Ernst des Strebens und die Fülle der Erkenntnisse dieses Werk zu einer der bedeutendsten geistigen Sammlungen unserer Zeit werden läßt, so sei doch an einigen Beispielen die Tiefe und Weite des Gesprächs demonstriert, Werner laeger, der wohl bekannteste Altphilologe deutscher Zunge, stellt dem modernen technisch-materiellen Reizkult die Maßstäblichkeit des philosophischen Lebensideals klassisch-griechischen Menschentums gegenüber. Die Passion mittelalterlichen Denkens schildert eindrucksvoll der bedeutende Franzose lacques M a r i t a 1 n, Hauptvertreter des Neothomismus. Brillant ist die Überlegung des Spaniers Julian Marias, des Nachfolgers Ortega y Gas-aets, in der er nach der literarischen Form fragt, die modernes Philosophieren annehmen muß, soll es nicht im -Pts>^o-ralen Stil“ vergangener Zeiten seine Wirk-s-amkeit verlieren. Mitten ins Herz der gegenwärtigen Philosophie des Nichts (Sartre) zielt die Untersuchung des französischen Professors an der Sorbonne, Paul Ricoeur. Er weist Hoffnung versprechend nach, daß die „Urbejahung“ tiefer als alle Negation reicht; daß nicht das Nichts im Sein nistet, sondern das Sein selbst noch im Nicht« seine Macht beweist.

Nach dieser Präambel, die das Grundproblem von Sinn und Sein überzeugend vor Augen führt, beginnt das eigentliche Symposion, das zwei Hauptteile umfaßt: I. „Vom Sinn de« Seins“, und IL „Vom Sinn menschlichen Seins“. Nach einer gewissenhaften Klärung des Sinn-Begriffes (I. E. Hey de, Berlin), werden charakteristische Wege der Seinserkenntnis geschildert: phänomenologische, erkenntnistheoretischc, persona-listische, fundamentalontologische und metaphysische. Unter den metaphysischen Sichten des Seins verdienen vornehmlich die Ausführungen des indischen Vizepräsidenten Sarvapalli Radhakrishnan

Beachtung, die des japanischen Zen-Bud-dhisten Daisetz Teitaro Suzuki und die der beiden deutschen Philosophen Johannes B. Lötz (Rom) und Max Müller (München). Gabriel Marcels existenzphilosophischer Exkurs über den Nihilismus leitet vom Theoretischen in« unmittelbar Praktische, den II. Teil des Symposions, über.

Prachtvoll, wie der „Mensch in «einer Freiheit“ von so verschiedenartigen Denkertemperamenten, wie dem englischen Positivisten A y e r (London), dem Spanier Munoz A1 o n • o (Madrid), dem Nordamerikaner William Ernest Hok-king (Madison) oder den stilistisch und geistig gewandten italienischen Existenzphilosophen Nicola Abbagnano (Turin), beschrieben und analysiert wird. Dem halb boshaften, halb augenzwinkernden Humor und der trockenen, aber gütigen Menschlichkeit der Engländer steht eine Gestalt wie die Martin B u b e r t (Jerusalem) gegenüber, dessen Beitrag über den Wechselbezug von Ich und Du aus der so ganz unspitzfindigen, tiefen Frömmigkeit dieses Mannes schöpft. Nicht unerwähnt dürfen auch bleiben die edler Geistigkeit entstammenden Überlegungen Eduard Sprangers zur Kulturkrise unserer Zeit und die impulsiven Gedanken des bekannten Geisteswissenschaftlers Erich Rothacker über Geschehen und Geschichte. Vor allem aber verdient die umfangreiche Abhandlung des Herausgebers, Kichard Wisset, besondere Be achtung, dem es gelingt, das vielseitig Werk Fritz-Joachim von Rintelens der Leser al« einheitliche Gestalt plastisch un stilistisch bestechend vor Augen zu füll na

Das Symposion rundet sieh, wenn ei so prominenter Denker wie Aloys W e n z (München) und vornehmlich der groß englische Universalhistoriker Amol T o y n b e e (London) der Frage nach der Sinn der Geschichte ihre Aufmerksamkei schenken. Wisser hatte das Gespräch ml einer philosophischen Selbstbesinnung ei öffnet: „Daß die Welt aus den Fugen ge raten sei, ist in unserer Zeit keine leer Behauptung mehr. Als ursprünglich philo sophische Erfahrung einer total anmuten den Infragestellung überkommener Lebens haltungen und Weltanschauungen versetz sie den Menschen von heute in die ihn eigentümliche Unruhe.“ Toynbee schließ das Symposion mit den Worten: „De göttliche Funke der Schöpferkraft ist un erloschen in uns, und wenn uns di Gnade gegeben ist, ihn zur hellen Flamm zu erwecken, dann können selbst di Sterne in ihrem Lauf unseren Willen nich überwinden!“ Es ist das Verdienst diese Werkes, daß es die Bannmeile des Nihilii mus und Pessimismus durchbricht und de; Menschen von heute wieder freimacht fü den Kern der Dinge und der Welt: fü Sinn und Sein.

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