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Selbstbildnis des Volkes

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Oft drängt sich uns bei Betrachtung spätmittelalterlicher und neuzeitlicher Sakralplastik und zum Teil auch alter sakraler Gemälde der unabweisbare Eindruck auf, daß die in diesen Werken dargestellten göttlichen und legendären Personen eine solche Fülle individueller menschlicher Züge., an sich tragen, daß sie uns nicht als freie künstlerische Gestaltungen, sondern als die wörtliche Übertragung von Naturvorbildern in die Kunstwerke hinein, als Bildnisse erscheinen. Man glaubt in diesen Fällen allgemein, daß hinter diesen Kunstwerken als Vorbilder reale Persönlichkeiten gestanden sind, daß hier Bildnisse vorliegen.

Diesen Äußerungen liegt die Meinung zugrunde, daß die Künstler des späten Mittelalters und der folgenden Kunstepochen ebenso nach lebenden Modellen gearbeitet hätten, wie dies die Künstler der italienischen Renaissance und nach ihnen die akademisch geschulten Kunstschaffenden bis auf unsere Tage getan haben. Doch wissen wir aus zahlreichen Schriftquellen und aus der lebendigen Werktradition der volksnahen alpenländischen Bildschnitzerkunst, daß diese Anschauung falsch ist. Die alten Künstler übertrugen nicht wählerisch Zug um Zug ihrer Modelle in das Kunstwerk; der unendliche Reichtum an künstlerisch vertieften individuellen Zügen, die ihre Werke so packend, so unvergeßlich machen, stammt aus anderer Quelle: diese alten Meister besaßen, so wie wir es noch heute an Kindern, einsamen Menschen und den Angehörigen primitiver Volksstämme beobachten, ein angebotenes, durch Erfahrung geübtes, ungemein treues und umfassendes Formengedächtnis, das Eindrücke aus dem Alltagsleben bewahrte, geistig verarbeitete und weiterbildete) so daß sie, fallweise von der schöpferischen Phantasie aufgerufen, in die Kunstwerke einfließen konnten. Daraus entstand jener Reichtum an erlebten Einzelzügan, die sich zu einer zwingenden Wesenseinheit zusammenschließen und an Bildnisse denken lassen. — Diesem Formgedächtnis der Künstler entsprach im damaligen Volk als Kunstpublikum eine auch im einfachsten Menschen hochentwickelte Aufnahmefähigkeit auch für komplizierte Formgefüge, etwa die sinnvolle Formenwirrnis spätgotischer Architektur; ferner eine liebevolle, eingehende Betrachtung der Kunstwerke, ein Miterleben und Sichversenken, das unsere oberflächliche und schnell fertige Zeit nicht mehr kennt. Man erfaßte damals die Kunstwerke im Original — nicht in Abbildungen — und unbeschwert von kunstgeschichtlichen Rückerinnerungen. Auf dieser Grundlage zeigte die sakrale Kunst jene Erscheinung, die man als „Selbstbildnis des Volkes“ bezeichnen könnte, nämlich die Abbildung der typischen leiblichen und geistigen Wesenszüge des Volkes durch seine Künstler, die mit dem Volke lebten und für es schufen.

So entstanden zwar nicht Bildnisse, wohl aber unvergeßliche bildnishafte Charaktertypen: Wo das Bildnis nur den menschlichen EinzelfaLl einseitig und beschränkt schildert, gibt „des Volkes Bild“ eine umfassende Wesensschilderung. Sie entspricht der Vorstellung, wie der Mensch als Gefäß des Göttlichen in begnadeten Momenten, bei entscheidendem Handeln sein könnte oder sollte. Dieses geistige Wunschbild umkleidet sich mit persönlichstem Leben; es gestaltet jene Menschentypen, die innerhalb eines Volksstammes während seiner jahrhundertelangen Geschichte immer wieder auftauchen können und müssen und gleichsam die Invariante des Volkscharakters darstellen; Typen also, von denen die Wirklichkeit in den einzelnen Individuen immer neue Abwandlungen gibt. In diesen volksnahen Werken hoher Kunst prägt sich das Volkstum, dem sie entstammen, unbewußt, ‘rein und mit der Bedeutung eines geschichtlichen Dokuments aus. Gesichtszüge und Affekt, Wuchs und Geste zeugen von dem Geiste der Entstehungszeit. So knien zu den Füßen der Schutzmantelmadonnen nicht bestimmte Personen, sondern die typischen Vertreter der einzelnen Stände, Vertreter des ganzen Volkes: der Herrscher, der Ritter, der Bauer mit ihren Frauen, der Mönch, die geistliche Frau. Damit kleidet sich die Heilsgeschichte, die Legende in das bunte Gewand des damaligen Alltags, nicht im Sinne der Profanierung, sondern liebevoller Vertrautheit und selbstverständlicher Vergegenwärtigung, die damals durchaus nicht als geistiges Wagnis galt:. Erhebung des Menschlichen bis an die Schwelle des Göttlichen empor.

Dieses „Selbstbildnis des Volkes“ entspringt einer unbeirrt naiven Denkform, in der sich die heilige Geschichte, unbeschwert von historischen Kenntnissen und Überlegungen, von selbst im Gewände des Alltags verkörpert. Dieser Vorgang setzt allerdings ein gesundes Selbstbewußtsein des kunstschaffenden Volkes in der betreffenden Zeit voraus: nur naiv schaffende Zeitalter, wie Spätgotik und Barock, sahen das Göttliche im Gewände des Menschliphen, das Ewige im Zeitlichen, wurden sich der geschichtlichen Abstände gar nicht bewußt. Die Selbstdarstellung des Volkes war möglich nur in tief gläubigen, ihres Geistes sicheren Zeiten; sie entsteht nicht im Bereich dec städtischen, nicht der höfischen Kunstübung, sondern als Krone ländlicher Hochkunst, die in jahrhundertelanger stetiger Entwicklung die seelischen Anliegen des Volkes und seine künstlerischen Fähigkeiten formte. Das „Selbstbildnis des Volkes“ vollendet sich daher in der alpenländischen Kunst als Erfüllung der Volksandacht. Der Oppenberger Altarschrein etwa mit seinem weihnachtlichen Gedränge (um 1490) oder Marian Rittingers „Heilige Nacht von Garsten“ (um 1712) mit dem Mysterium der Epiphanie, die heiligen Gestalten Thomas Schwanthalers und Meinrad Guggenbichlers, die Kinderseligkeit der Werke Stammeis zeigen sie am reinsten.

Zeitalter der Glaubenskämpfe, der Gewissensnot, der Skepsis, aber führen ihre Kunst aus der Wirklichkeit und der Volksnahe in die absolute Welt abstrakter Formen, in die Arme des Manierismus. Das zeigt sich ebenso in der Säkularisation des späten 16. Jahrhunderts, wie in der Seelen- losigkeit des Zeitalters der „Aufklärung“. Solchen Zeiten erscheint das Volkstümliche in der sakralen Kunst als „gemein“, als „profan“, als „lästerlich“, den gleichen Zeiten, die tagtäglich die Häresie des Kitsches begehen und dulden. Deshalb begann das frühe 19. Jahrhundert, da es zur Bildung eines volksverbundenen eigenen Kunststils nicht mehr fähig war, historisierend zu schaffen, das heißt auf abgestorbene Stilformen zurückzjigreifen. Da sich die Vergangenheit nicht in die Gegenwart hineinzwingen läßt, begann damit die Entfremdung zwischen Volk und Kunst, in der wir noch heute leben.

Eben weil der Gegenwart langsam inmitten der Entgeistigung und der künstlerischen Schund- und Massenproduktion der Sinn für echte erlebte sakrale Gestaltung wieder aufgeht, wendet sie ihren Blick zur volksnahen Hochkunst.der eigenen Vergangenheit liebevoll zurück. Wir verstehen es wieder, daß im Mittelalter das Volk seine Andacht an die Schwere des Kreuzestodes, die Trauer der Marienklage und an die Holdseligkeiten des Marienlebens verströmte. Wir erleben es mit allen Fasern unseres Herzens nach, daß besonders das alpenländische Barock Menschlichkeit und Ewigkeit ineinander wob und die triumphierenden, kämpfenden und leiden- aen Boten des Glaubens als liebvertraute Volksangehörige ansah und gestaltete; daß im Gewände des Volkstümlichen ihm die ganze Spannweite der Empfindungen der Menschenbrust darstellungsfähig wurde und in der Hierarchie seiner Kunstformen eine einzige Stufenleiter des Geistes den Verbrecher mit der Gottheit verband; daß nicht allein Leid und Sünde, sondern! sogar (Meinrad Guggenbichler) vergeistigte Heiterkeit sich in den weit erstreckten Bereich des Sakralen einbinden durften, ohne an das Unaussprechliche zu rühren und das Sakrale zu profanieren.

Diese lichte, reiche und tiefe Welt der Gedanken und Formen bildet jenen Teil des Kunsterbes unserer eigenen Vergangenheit, der uns über alle Untenschiede der Bildung und Meinung hinweg so viel bedeutet, daß aus ihm eine neue sakrale Kunst erwachsen könnte.

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