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Sinn und Verantwortung der traditionellen Naturphilosophie

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Josef Gredt definiert die Naturphilosophie als „die vollkommene Wissenschaft vom veränderlichen Seienden“. Kein Vertreter einer modernen Naturwissenschaft wird sich erkühnen, zu sagen, daß seine Wissenschaft in diesem Sinne „eine vollkommene“ sei. Er wird im Gegenteil bestrebt sein, den Geltungsbereich der von ihm erforschten Naturgesetzlichkeit streng zu umgrenzen. Und er tut recht so, denn er kann sich stets nur auf eine begrenzte Erfahrung berufen. Unberechtigt aber wäre die Behauptung, daß der menschliche Verstand nicht imstanäe sei, hinter den der Erfahrung allein zugänglichen Erscheinungen das „Wesen der Dinge“ zu erschließen. Die Leugnung der Fähigkeit des Verstandes, auf das Seiende als solches, als seinem allgemeinen Gegenstand, gerichtet zu sein und die körperliche Wesenheit, insofern sie allgemeine Wesenheit ist, zu erfassen, mit anderen Worten „innerlich zu lesen“ (intellegere), führt zu jenem „modernen Agnostizismus“ und zu einer „Entwertung der Leistung der Wissenschaft“, wie es Anton Fischer in seinem Buche „Die philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnis“ trefflich darlegt.

Die Auseinandersetzung mit dem Problem der Erkenntnis (Erkennbarkeit der Wahrheit und Angabe eines Wahrheitskriteriums) steht“ daher nicht nur am Anfang jeder Philosophie, sondern jeder Wissenschaft überhaupt. Auch die modernen Naturwissenschaften können darauf nicht ganz verzichten. Allerdings versuchen sie ihre Meisterschaft durch eine oft übertriebene Selbstbeschränkung unter Beweis zu stellen. Dabei aber entziehen sie ihrem wissenschaftlichen Gebäude den Boden. Hier ist vor allem an den „Wiener Kreis“ gedacht, nach dem „die Logik nur aus konventionellen Festsetzungen über Gebrauch von Zeichen und aus Tautologien auf Grund dieser Festsetzungen“ besteht (Carnap). Es ist klar, daß eine Naturwissenschaft, die sich auf diesen schwankenden Boden stellt, keine Wirklichkeit, die wesentlich hinter den Erscheinungen steht, erkennen kann. Eine „erste Philosophie“ wird daher als Voraussetzung jeder Naturwissenschaft jene grundlegenden erkenntnistheoretisdien Tragen lösen müssen. Hieher gehören die höchsten Sein- und Denkprinzipien, allen voran das Kausalitätsprinzip. Aufgabe der Naturwissenschaft wird die Erforschung der gesetzmäßigen Zusammenhänge der Außenwelt (der Welt der Ersdieinungen) sein. Alles, was über diese Tätigkeit hinausgeht und durch schlußfolgerndes Denken gewonnen wird, gehört streng genommen bereits in das Gebiet der Naturphilosophie. Die moderne Naturwissenschaft hat darauf keineswegs verzichtet, sie hat vielmehr die Arbeit des Naturphilosophen nicht selten in eigener Regie durchgeführt. Daß sie dabei sehr oft auf Irrwege geraten ist, das beweisen die nicht wenigen verhängnisvollen Irrtümer des naturwissenschaftlichen Materialismus.

Die traditionelle Naturphilosophie stellt in der natürlichen Ordnung der Dinge wesentliche Seinsstufen fest. Schon eine oberflächliche (vorwissenschaftliche) Beobachtung des Seienden zeigt ihr einen Unterschied zwischen anorganischem (unbelebtem) Stoff und lebenden Organismen, die wieder in pflanzliche, tierische und mensddiche Organismen zerfallen, je nachdem, ob sie nur über das vegetative oder auch über das sensitive Leben, beziehungsweise auch über geistige Fähigkeiten verfügen. Ebenso hält die traditionelle Naturphilosophie innerhalb der verschiedenen Seinsstufen (abgesehen von der höchsten) an „Arten“ fest, die wesentlich voneinander verschieden sind.

Jedes einzelne Seiende wird aus einem doppelten Prinzip aufgebaut: aus dem völlig unbestimmten, alle Möglichkeiten in sich bergenden Urstoff (hyle) und der diese Möglichkeiten aktualisierenden substantiellen Wesensform (morphe). Durch sie wird der Urstoff substantiell bestimmt. Durch das Angreifen akzidenteller Formen wird die Körpersubstanz, der „zweite Stoff“, nebensächlich verwirklicht. Aber nur durch diese nebensächlichen Bestimmungen (Gestalt, Farbe usw.), durch die Akzidentien, ist das körperliche Sein unseren Sinnen zugänglich. Die Substanz als solche ist sinnlich nicht erkennbar, sie kann nur durch den Verstand erschlossen werden.

Nach dem hier kurz dargelegten H?lo-morphismus sind Stoffumwandlungen durch das Zerstören einer substantiellen Form, an deren Stelle eine andere Form tritt, zu erklären. Aber diese neue Form entsteht nicht etwa aus dem Nichts, sie kommt vielmehr durch Aktualisierung der in dem Stoff bereits vorhandenen Möglichkeit zustande. Einer solchen Stoffumwandlung muß eine entsprechende Stoffzubereitung vorausgehen. Diese vorhergehenden Stoffzubereitungen sind die Akzidentien, die durch die beschaffenheitliche Veränderung an der zu zerstörenden Substanz hervorgebracht werden und die diesen Untergrund veranlassen, seine substantielle Form zu verlieren und eine andere zu erwerben.

Abgesehen von rein philosophischen Überlegungen (namentlich über das Wesen der Veränderung) kann sich die traditionelle Naturphilosophie heute auch auf die Ergebnisse der modernen Naturforsohung stützen. Da ist an erster Stelle die Überwindung des atomistisch-mechanistischen Standpunktes auf dem Gebiete der anorganischen Welt zu erwähnen. Die Ergebnisse der Atomforschung sprechen sämtlich für den Hylomorphismus. Alles, was der Vitalisrnus auf biologischem Gebiete zu seiner Rechtfertigung anführt, ist gleichfalls Beweismaterial der traditionellen naturphilosophischen Anschauung vom Wesen des veränderlichen Seienden. Jedenfalls ist die Vorstellung vom Leben, die sich im Entelechiebegriff von Driesch ausdrückt, mit der Vorstellung von der Seele (anima vegetativa, sensitiva und rationalis) als Formidee der Lebewesen (Pflanze, Tier, Mensch) aufs engste verwandt. Ganz besonders aber sprechen die biologischen Unterschiede zwischen Mensch und Tier, auf die Adolf Portmann in seinem Werke „Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen“ aufmerksam macht, für die wesentliche Verschiedenheit dieser beiden Seinsstufen, wie sie die traditionelle Naturphilosophie behauptet. Dazu kommen die neuesten Forschungsergebnisse der . Prähistorie, Anthropologie und nicht zuletzt der Ethnologie. Hingewiesen sei nur auf den in Südengland gefundenen Piltdown-Menschen, in dem wahrscheinlich der älteste bis heute bekannte Menschenfund zu sehen ist. Die genannten Spezialwissenschaften führen jedenfalls zu dem Ergebnis: „Der Urmensch... war seinem Leibe nach Mensch mit Homo-recens-Merkmalen, dem Gott die Geistseele eingehaucht hat, er war schon Homo sapiens. Vernunftmensch.“ (Wilhelm Koppers, Urmensch und Ur-religion in „Wissen und Bekenntnis“, Ölten.) Nicht unerwähnt soll auch die Tatsache bleiben, daß bei Zerstörung gewisser Gehirnpartien des Menschen die Übernahme deren Funktionen durch andere Partien beobachtet wurde, was nur durch ein dem Organismus innewohnendes .Formprinzip im Sinne des aristotelischen Hylomorphismus verstanden werden kann.

Aus der durch Tatsachen gestützten Vorstellung der traditionellen Naturphilosophie ergeben sich namentlich für die Biologie wichtige Folgerungan. Eine mechanistische Entstehung des Lebens sowie eine Entwicklung der Arten auseinander im eigentlichen Sinne des Wortes ist aus prinzipiellen (philosophischen) Gründen unmöglich. Sie widersprechen dem Prinzip vom zureichenden Grunde. Das Höhere kann nicht aus dem Niederen entstehen. Auch etwa vom Schöpfer in die Materie, beziehungsweise in die niederen Arten, gelegte immanente Kräfte reichen zu einer verständlichen „Erklärung“ nicht aus.

Es muß nachdrücklich betont werden, daß ein Einspruch hier nicht etwa von selten der Dogmatik erhoben wird. Das einzige, worauf die Dogmatik bestehen muß, ist die Tatsache der Schöpfung als solcher und die unmittelbare Erschaffung der menschlichen Seele. Eine „Entwicklungstheorie“ oder die Verwendung eines tierischen Leibes bei der Erschaffung des Menschen steht mit keinem Dogma oder Schrifttext im Widerspruch. Sie widersprechen aber der uns als gesichert geltenden Stoff-Form-Lehre und der Lehre von den wesensverschiedenen Seinsstufen. Gewiß könnte eine Stoffzubereitung vorhandener Substanzen durch den Schöpfer bei der Erschaffung der höheren Formen angenommen werden. So kann sich zum Beispiel die menschliche Geistseele eben nur in dem ihr entsprechenden Körper als Geistseele betätigen, kann aber nicht einfach einem Tierleib eingehaucht werden. Dasselbe gilt für das Problem der „Entstehung der Arten“ und in besonderer Weise für die Entstehung des Lebens. Eine solche hier angedeutete Stoffzubereitung durch den Schöpfer käme einer Neuschöpfung gleich. Da hier, was das tatsächliche Werden betrifft, weder ein Beweis dafür noch da gegen erbracht werden kann, so handelt es sich eigentlich nur um einen Wortstreit. Nicht zu verwechseln mit der von der traditionellen Naturphilosophie abgelehnter. „Entstehung der Arten“ ist eirie auf natürlicher Basis zu erklärende Veränderlichkeit der Arten im Laufe der Zeit unter Beibehaltung der wesentlichen Artmerkmale und die Entstehung neuer Spielarten (Rassen). Die Entscheidung, was im Einzelfall „wesentliche Artmerkmale“ sind, hat selbstverständlich der Biologe zu treffen.

Eine ernste wissensdiaftliche Natur Philosophie wird es vermeiden müssen, dort ein Urteil laut werden zu lassen, wo weder die Erfahrung, wenigstens unsere heutige, noch das Schlußverfahren gesichertes Erkenntnisgut bieten. Es gibt neben einer berechtigten und notwendigen Naturphilosophie auch einen Naturmystizismus. Naturmythen vorgeschichtlicher Epochen und vage Theorien über das Wesen der Dinge und die Entstehung und das Ende der Welt haben mit wissenschaftlichen Arbeiten nichts gemein. Insbesondere werden wir es vermeiden müssen, Theorien zu halten, weil sie angeblich mit der Schrift besonders übereinstimmen, oder weil sie sonst dogmatisch gut verwertbar zu sein scheinen. Hier sei daran erinnert, daß nach der Lehre der Kirche die Schrift die Heilsgeschichte der Menschheit zum Gegenstande hat, aber kein naturwissenschaftliches oder naturphilosophisches Werk ist. Daß die Anschauungen der traditionellen. Philosophie dazu verwendet werden, manche Glaubens-wahrheiteh, vor allem Glaubensmysterien, dem menschlichen Verstände näher zu bringen, ist eine andere Sache. Der Dogmatik wäre aber hier mit jeder beliebigen anderes lehrenden Naturphilosophie, falls sie nur die Wahrheit lehrte, ebenso gedient. Wahr aber kann nur eine Anschauung sein. Daß die Anschauung der traditionellen Naturphilosophie auch dogmatisch „verwertbar“ erscheint, spricht jedenfalls für den gläubigen Menschen zu ihren Gunsten. Dieser Umstand darf aber bei der Wahrheitsfindung keine Rolle spielen. Darum soll der Forscher bei seiner Arbeit auch auf nichts anderes Rücksicht nehmen, als darauf, daß er mit der Erfahrung und mit den logischen Denkgesetzen nicht in Widerspruch kommt. Dann kommt er auch nicht in Widerspruch mit der geoffenbarten Wahrheit.

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