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Sinndeutung des Leidens

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Zu Viktor E. Frankls Buch .Homo Patiens“. Versuch einer Pathodizee. Verlag Franz Denticke, Wien. 115 Seiten

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Zu Viktor E. Frankls Buch .Homo Patiens“. Versuch einer Pathodizee. Verlag Franz Denticke, Wien. 115 Seiten

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Schon in seiner 1946 erschienenen „Ärztlichen Seelsorge' hat der Wiener Neurologe DDr. Viktor E. Frankl von den falschen Anthropologien im Gefolge von Psychoanalyse und Individualpsychologie gesprochen, die eine bloße Karikatur des Menschen zu ihrem wissenschaftlichen Gegenstand gemacht haben. Die in der Nachfolge dieses bedeutenden Buches erschienenen Werke Viktor E. Frankls bis zum „Homo Patiens“ könnte man in dem musikalischen Bilde eines großen „Themas mit Variationen“ fassen. Das Thema heißt Logotherapie und Existenzanalyse, und seine schöpferischen Variationen werden nun durch alle Bereiche des medizinischen, das heißt des seelenärztlichen wie des philosophischen Bemühens durchgespielt. Was dem Psychologen in der harten Empirie des Konzentrationslagers aufging, das wird nun dem Arzt zum wissenschaftlichen Thema seines jüngsten Buches, das er bezeichnenderweise Versuch einer Pathodizee, eine metaklinische Sinndeutung des Leidens nennt. Gleichzeitig ist dieses Buch die Fortsetzung der im „Unbedingten Menschen* begonnenen metaklinischen Kritik des Nihilismus, der sich in den drei Spielarten des Physiologismus (der Mensch ist nichts als Physis), des Psychologismus (der Mensch ist nichts als Lust- oder Geltungstrieb) und des Soziologismus (der Mensch ist nichts als ein umweit- und gesellschaftsbedingtes Wesen) manifestiert. Durch seine Bemühungen, auf existenzanalytischem Wege das Geistige der menschlichen Existenz und damit ihre Transzendenz aufleuchten zu lassen, will Frankl — dies ist der Tenor aller seiner Bücher — die Basis gewinnen, um eben von diesem Geistige her heilend, und das heißt für ihn logotherapeutisch, den seelisch Kranken behandeln. Dabei entwickelt er im Gegensatz zur bisherigen dualistischen Konzeption des Leib-Seele-Problems eine tria-listische, indem er streng zwischen Körper, Seele und Geist im Sinne des Ansatzes von Ludwig. Klages unterscheidet, jedoch in der Gegenposition zu letzterem den Geist, der für ihn personaler Geist ist, wider die Klages-schen Ansprüche der Seele in Schutz nimmt. Es darf nicht verschwiegen werden, daß schon in diesem Dreieransatz Gefahren beschlossen liegen, über die man eingehend diskutieren muß. i

Aus der Kritik der drei Nihilismen erwächst notwendig für den Seelenarzt eine Pathologie des Zeitgeistes. Vier wesentliche Befunde stellt Frankl auf: die provisiorische Daseinshaltung, die fatalistische Lebenseinstellung, das kollektivistische Denken, der Fanatismus. Sie stehen alle in einem inneren Zusammenhang. Wir können diese Befunde nur dann fruchtbar für uns machen, wenn wir von der nihilistischen Sinnleugnung zur geistigen Sinndeutung vorstoßen, indem wir eine kopernikanische Wendung vollziehen und die Lebensfragen „ver-antworten“, das heißt die Antworten in unsere Tat umsetzen. Dieses Umsetzen in die Tat ist dann gleichzeitig Sinnerfüllung des Daseins, für die Frankl in seiner metaklinischen Sinndeutung des Leidens drei Möglichkeiten sieht: die schaffende und weltgestaltende — die erlebende und weltrezeptive — die seins- und schicksalserleidende Möglichkeit. Es geht gerade bei der letzten um die Sinnerfüllbarkeit des Leidens, die im Grunde unbegrenzt ist. Frankls Pathodizee, wie seine ganze Lehre der „Ärztlichen Seelsorge“, intendiert im Grunde eine Ethik, die die Autonomie des Menschen überwindet, weil sie sich einem Höheren, für Frankl ist dies der „unbewußte Gott“, die transzendente „Uberperson , verantwortlich weiß. So führt Frankls Sinndeutung des Leidens gleichzeitig in eine Kritik des Humanismus sowohl anthropozentrischer als auch anthropomorpher Spielart. Auch in diesem Kapitel würde man da und dort klarere und schärfere Definitionen wünschen, besonders dort, wo es um die Probleme der Theodizee geht, die Frankl nur sehr am Rande streift und keineswegs mit seiner eigenen Problematik „konfrontiert“. Durchaus mißverstanden scheint uns der Autor das Wesen des Konfessionellen und des Dogmatischen zu haben.

Versuch einer Systematisierung der Erziehungsmittel. Von Ferdinand Birnbaum. Verlag für Jugend und Volk, Wien 1950. 352 Seiten.

Dieses umfassende Werk des 1947 verstorbenen Professors an der Bundeslehrerinnen-bildungsanstalt in Wien hat dessen Witwe Maria Birnbaum, unterstützt von Freunden ihres Mannes, aus dem wissenschaftlichen Nachlaß des Verewigten herausgegeben und so in dankenswerter Weise der pädagogischen Fachwelt erschlossen. Als Ziel des Werkes, dem eine Dissertation des Verfassers aus dem Jahre 1936 zugrunde liegt, hatte sich der Autor gestellt, die „erdrückende Fülle der heute vorliegenden Kunstgriffe der Erziehung systematisch zu inventarisieren“. In vier Ordnungskreisen behandelt Birnbaum evo-lution6fördemde, progressive, repressive und transformative Kunstgriffe. Der Verfasser wollte in bescheidener Weise nur eine „Vorarbeit“ leisten für spätere Darstellungen, die in noch exakterer Weise dem Pädagogen möglichst viele Kunstgriffe der Erziehung in kritischer überschau bieten, wie sie die Psychologien der Gegenwart, Insbesondere die Tiefenpsychologien, enthalten. Birnbaum hat aber auch die bewährten überlieferten Erziehungsmittel, einschließlich der zu den höchsten Werten führenden, organisch in sein höchst beachtenswertes System eingebaut. Es ist wahrlich mehr als bloße Vorarbeit, die der allzu früh Verstorbene geleistet hat. Hier liegt ein fundamentales Werk vor, das in seiner Fülle nur in breitester Darstellung entsprechend gewürdigt werden könnte. Auf diesem knappen Raum sei abschließend nur noch festgestellt, daß das Werk Birnbaums sicherlich

zu den bedeutendsten pädagogischen Neuerscheinungen der letzten Jahre gehört.

Die Messe. Von Paul Claudel. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn. 66 Seiten.

Paul Claudel betet. Er feiert mit die Messe. Da er ein Meister des Wortes ist, nehmen seine Gebete die Form von Gedichten an, seine Teilnahme am Meßopfer wird zu einer mächtigen Komposition in Versen. Alles, aber auch wirklich a 11 e 6, ist in sie einbezogen: die Schönheit der Welt, Bekanntschaft ferner Länder, die Erinnerung an liebe und liebste Menschen, das Gedenken an die unter dem Gesetz des Krieges 6tehende Heimat. Für diese und noch mehr Gedanken ist Platz, sie fügen sich in harmonischer Ordnung um den „Mittelpunkt der Welt“, als den Claudel das Meßopfer erkennt nud anerkennt. Einer Zeit starker Depiession und heftigem Heimwehs — „La Messe lä-bas“ wurde 1917 „in der Verbannung“ als Botschafter in Brasilien aufgezeichnet — verdanken wir dieses Werk, das mit zu dem Schönsten gehört, was der große französische Dichter-Diplomat geschrieben hat.

Novalis. Der Dichter der blauen Blume. Von Friedrich H i e b e 1. Bern, Francke 1951. 306 Seiten.

Zum 150. Todestag von Novalis veröffentlicht der Verfasser, seines Zeichens Professor in Princeton, eine Monographie über den Dichter in dem rühmlichst bekannten germanistischen Spitzenverlag A. Francke, Bern, auf die, ihrer, bedeutsamen Ergebnisse wegen, besonders aufmerksam gemacht werden muß. Anders als die im Vorjahre erschienene Novalis-Monographie von Hederer legt Hie-bel das Gewicht auf die innere Genese der Persönlichkeit des Dichters und auf das inter-pretatorische Element. Von besonderem Gewicht scheint mir die Entwicklung der Harden-bergschen Märchen aus der Auseinandersetzung mit Goethes Märchen, die Betonung der Übertragung von Goethes Methode, Naturwissenschaft zu betreiben, auf ein zukünftiges System der Naturphilosophlei weiter die grundsätzlichen Hinweise auf die allmähliche Entstehung der weiblichen Idealgestalt im Dichten Hardenbergs, die sich aus verschiedenen Elementen von Isis über Demeter und Maria bis zur Jungfrau Sophia kristallisiert.

In klarer und leicht verständlicher Sprache werden höchst bedeutsame Gedanken entwickelt. Der Kerngedanke scheint mir der von der Auffassung der Hardenbergschen Märchen als Apokalypse zu sein. Tatsächlich überträgt Novalis die durch Goethes Märchen geschaffene Form der naturphilosophischen Apokalypse auf seine eigene Märchenform. Damit gelingt es dem Verfasser, die Leitmotive von Sündenfal), Versöhnung und Wiedergebuit als die Grundstruktur des Hardenbergschen Denkens zu enthüllen. Die Beziehungen zwischen dem Chiliasmus früherer Zeiten und Novalis finde ich nur blaß angedeutet. Die sdiicksal-hafte Begegnung zwischen Friedrich Schlegel und Novalis ist etwas kurz geraten. Aber gar nicht hoch genug zu werten sind die klar und scharf herausgearbeiteten Denkstrukturen des Dichters. Ihrem näheren Verständnis dienen die graphischen Strukturskizzen, die den musikalischen Grundcharakter der Hardenbergschen Dichtungen in ihrem Formeharakter veranschaulichen sollen. Diese Monographie ist in ihrer überaus klaren und stillen Darstellungsart besonders dazu geschaffen, ein in sich geschlossenes Bild von Novalis zu geben. Anmerkungen und eine reichhaltige Bibliographie erhöhen den wissenschaftlichen Gebrauchswert des feinsinnigen, bedeutungsvollen Buches. Dr. Robert M ü h 1 h e r

Theseus. Von Ernst J i r g a 1. Osterreichische Verlagsanstalt, Innsbruck 1950.

Ernst Jirgal fühlt sich zu diesem Thema aus der sagenhaften Vorzeit hingezogen, weil er in der Heldengestalt des Theseus ein Sinnbild — das des „Stifters“ — zu sehen vermeinte, das besonders der heutigen Jugend von Bedeutung sein könnte. Der Autor spürt Parallelen mit der Gegenwart auf: auch heute seien viele ohne Vater, andere fronten noch im Feindesland oder seien „nicht ebenbürtig wieder zu Hause“. In mancher Hinsicht, meint Jirgal, sei unsere Jugend noch gefährdeter als Theseus, weil sie sich nicht wie dieser an mächtigen Vorbildern wie Herakles stärken kann, sondern sich mit „Eintänzern von Weltanschauungen“, mit „Rennfahrern um Profit“ begnügen muß. So wird Jirgals Theseus mehr als eine neue Darstellung und Auslegung des mythischen Stoffes; eine Prosadichtung mit lehrhaften und pädagogischen Tendenzen, intarsiert mit moralisierenden Elementen und modernen Aspekten. Auffällig sind der eigenartig gedrechselte Stil und ein sehr eigenwilliges Wortgefüge, ein Satzbau, der das Verständnis des knapp und dicht vorgetragenen Werkes nicht eben erleichtert. Es gibt Stellen darin, bei denen der Ausdruck gleichsam Geheimfächer zu besitzen scheint. Die eigentlichen Gedankengänge verlaufen manchmal unterirdisch wie Karstflüsse. Wer sich durch solche Schwierigkeiten nicht abschrecken läßt, wird dem verborgenen Gehalt dieser sicherlich dichtsrischen Aussage nahekommen können.

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