6646956-1958_29_15.jpg
Digital In Arbeit

Skepsjs oder neues Bewußtsein?

Werbung
Werbung
Werbung

München hat schon manchen akademischen Kongreß beherbergt. Zum 800-Jahr-Jubiläum aber hat man sich etwas Neues ausgedacht, einen Internationalen Kulturkritikerkongreß. Es war ein Versuchsballon, der manchmal zu lichten Höhen emporstieg, dann aber wieder hilflos in den Niederungen umherschwankte. Das lag einmal an organisatorischen Mängeln; man hat noch nicht die Erfahrungen, wie etwa die Genfer oder die Darmstädter mit ihren kursorischen Expertengesprächen. Es lag weiter an dem etwas vielschichtigen Begriff „Kulturkritik“. Kultur, so sagte ein Teilnehmer, sei das, was in der Zeit Bestand habe, was also die eigene Zeit überdauere. Aber man meinte doch wohl (und darauf liefen schließlich die meisten Diskussionen hinaus) mit dem Wörtchen „Kulturkritik“ die kritische Analyse des unmittelbaren Jetzt und Hier. Auch in der Interpretation des „Kulturellen“ herrschten extreme Gegensätze von Hannah Arendts engerer Umzirke-lung des musisch-geistigen Bereiches bis zu Peter de Mendelssohns herausfordernder Behauptung, die Atombombe sei eine der größten kulturellen Leistungen der Menschheit. Schließlich litt die Tagung gelegentlich an der Zusammensetzung der Teilnehmer. Es entbehrte nicht tragischer Züge, wie einige der zahlreich vertretenen deutschen Emigranten der dreißiger Jahre jene Brücken zur Gegenwart verfehlten, welche auch — wie die Diskussion öfter feststellte — in umgekehrter Richtung von der jungen Generation der deutschen Dichter, Künstler usw. oft verfehlt wird: die Brücke zur geistigen Tradition. Unversehens rückte somit oft das Trauma der Hitler-Diktatur mehr in den Vordergrund als die Frage nach dem Stand der weit über rein deutsche Perspektiven hinausgehenden kulturellen und geistigen Situation von 195 8.

Dennoch boten viele Diskussionsbeiträge und vor allem eine Reihe von Hauptreferaten wesentliche Einsichten zur Lage der abendländischen Kultur. Gerade die konträren Aspekte, die sich beispielsweise aus den verschiedenen geistigen Standorten des katholischen Soziologen von Nell-Breuning und des pragmatischen Atheisten Ludwig Marcuse oder aus Walter Muschgs Akzent auf der europäischen Tradition und Hannah Arendts Plädoyer für Amerika und überkontinentales Denken ergaben, brachten oft eine echte und spannende Dynamik in die Diskussionen.

Die Vorträge im einzelnen/ Max Horkheimer (Frankfurt) stellte als erster Redner die kritisch-schöpferische Seite der Philosophie heraus; in der Kritik der Kultur hätten von Plato (der den Menschen vom Mythologischen zu einem diesseiti-gewgteistigen Ideal erzögen ätbe)- über Augastiit fcisi.l heute die Denker ihren zeitlichen Auftrag gesehen. Gefahren sehe Horkheimer jedoch gegenwärtig im Zurückweichen des Geistes vor der materiellen und ökonomischen Progression. Hannah Arendt, die heute in New York lebende deutsch-jüdische Emigrantin, vertiefte dieses Bild noch durch ihren Fingerzeig auf die Verdinglichung der Kulturwerte und ihre Wandlung zum ökonomischen Verbrauchsobjekt. Nach diesen beiden Grundsatzreferaten folgten je ein Mediziner und ein Literarhistoriker mit oppositionellen Aspekten zum allgemeinen Denk-und Meinungstrend. Arthur Jores, der Hamburger Psychosomatiker, ging im Frontalangriff gegen alle möglichen Theorien von der „falschen Ernährung“ bis zur lokalen Erklärung der sogenannten Zivilisationskrankheiten vor, als er diese schlankweg als Folgen zweier Fakten erklärte: Erstens sei der moderne westliche Mensch nicht mehr in eine Ordnung gebettet, die ihm seine Verhaltensweise verbindlich vorschreibe; diese Bindungslosig-keit aber mache ihn unsicher, medizinisch gesprochen: neurotisch. Zweitens aber fehle ihm das Bewußtsein höchster Selbstentfaltung. Walter Muschg wiederum, der bekannte Basler Literaturprofessor, ging mit der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts sowie mit dem Umgang der Deutschen mit ihrer Literatur, scharf ins Gericht. Ihr ständiger „Blick zurück“ habe (und er nannte als Kronzeugen Thomas Mann, von Hofmannsthal, den späteren Hauptmann u. a.) die Weltsicht getrübt, während die wahren Seher CCafka) erst postum gelesen würden. Ein anderer Literarhistoriker, der Pariser Germanist Maurice Boucher, setzte sich nicht mit musischen Fragen, sondern mit dem Dilemma auseinander, in welches der heutige Mensch durch die Technik von der Atomphysik bis zur Kybernetik steht. Er sei verloren, wenn er dieser rationalen Welt nicht die imponderablen Werte des Geistes und des Herzens gegenübeiStelle. Ludwig Marcuse (Los Angeles) versuchte eine Analyse des Kulturpessimismus, während am letzten Abend Oswald von Nell-Breuning den Pessimismus, der durch den pluralistischen Charakter der heutigen Gesellschaft mit gefördert werde, durch den Ausblick auf eine „föderalistischere Gesellschaftsordnung“ aufzuhellen suchte, bei welcher der Familie wieder als eigentlicher Zelle der Gesellschaft eine wesentliche Rolle zufallen müsse.

In den folgenden Diskussionen wie auch in der abschließenden vierstündigen Generaldebatte Hamen besonders die Gegensätze zwischen den Kulturpessimisten und den Optimisten zutage. Die ersteren, ob sie es sich eingestanden oder nicht, trauerten dem „Nicht mehr“ mancher kulturellen und geistesgeschichtlichen Tatsache nach: das fragwürdig gewordene Elitenbewußtsein, der Ueberhang des Technischen gegenüber dem Geistigen, die Verkümmerung der individuellen Entfaltung von Kultur im Briefwechsel und anderen Regungen des Einzelnen. Nur eine kleine Minderheit der jüngeren und mittleren, Generation sah in diesem Pessimismus nur eine Verabsolutierung des zu jeder Zeit wachen Empfindens von der „guten alten Zeit“; in Wahrheit sei unsere Zeit und ihre Kultur nicht schlechter und nicht chancenloser als alle Vergangenheit zusammen. Die tödliche Gefahr der Menschheitsvernichtung wurde nicht verkannt, wenn nach manchem Diskussionsexkurs ins Allzuprivate und ins Tagespolitische am Schluß Jean Gebser (Bern) in einem (leider viel zu kurzen) Diskussionsbeitrag wieder auf die philosophische Ebene zurückkam: Krisen seien keine zuverlässigen Zeugen des Untergangs, Krisen seien stets Epochen des geistigen Umbruchs, des Umdenken-Lernens gewesen; und wenn es eine Chance für unsere Zeit gäbe, so sei es nicht die des Kulturpessimismus und -Skeptizismus, sondern die Bereitschaft, die Gegebenheiten von Technik und wachsender Allgemeinintelligenz fruchtbar zu nutzen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung