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Soziale Gerechtigkeit und reale Freiheit

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Erst vor kurzem wurde in diesen Blättern * das Buch „Die Zukunft des Christentums“ besprochen, das eine soziologische Untersuchung von anglikan:scher Seite darstellt. Das Buch wurde als Weiser zu einer geeinten Chrienheit gewertet, da sich in ihm Christen der anglikanischen Kirche im wesentlichen zu den gleichen Grundsätzen bekennen, wie die Päpste in ihren verschiedenen Rundschreiben und Äußerungen zur sozialen Frage. Es ist darum sicherlidi von Interesse, daß auch im Lager des Calvinismus sich eine Stimme erhoben hat, welche die heutige soziale Frage gleichfalls vom Blickpunkte der christlichen Gesellschaftsauffassung her untersticht: Das Buch des Züricher Theologen und Universitätsprofessors Dr. Emil B r u n n e r: „Gerechtigkeit, Eine Lehre von den Grundgesetzen der Gesellschaftsordnung“ (Zwingli-Verlag, Zürich, 1943).

Das lebendig geschriebene Werk geht von dem Zerfall der abendländischen Gerechtigkeitsidee aus; es erblickt in dieser Tatsache mit Recht die Hauptursache für die chaotischen Zustände in der heutigen Gesellschaft, behandelt sodann die Grundprinzipien der christlichen Soziologie und zieht daraus seine Folgerungen für eine gerechte Ordnung der Familie, der Wirrschaft, des Staates und der Völkergemeinschaft.

Brunner weist überzeugend nach, daß der totale Staat nichts anderes ist, „als der in politische Praxis umgesetzte Rechtspositivismus, die tatsächliche Außerkraftsetzung der antik-christlichen Anschauung vom göttlichen ,Naturrecht'. Gibt es keine göttliche Norm der Gerechtigkeit, dann gibt es auch keinen kritischen Maßstab für das, was ein Staat als Rechtsordnung zu setzen beliebt. Gibt es keine überstaatliche Gerechtigkeit, dann kann eben der Staat alles als Recht erklären, was ihm paßt, dann gibt es für seine Willkür keine Schranke, als seine tatsächliche Macht, seinen Willen durchzusetze n.“

In der Erkenntnis, daß der totale Staat die Erbschaft der Geschichte vertan hat und daß die Notwendigkeit eines Neubaues unausweichlich geworden ist, wirft Brunner die Frage auf: „Wo ist die Gerechtigkeitsidee, die allein einen solchen Aufbau ermöglicht, denn diese Frage ist nicht eine, sondern es ist die Frage der Gegenwart.“

Brunner bietet uns einen interessanten Überblick über die Geschichte der Gerechtigkeitsidee, die zugleich eine Geschichte des Naturrechts ist. Er sondert klug das Zeitliche vom Bleibenden und stellt die ewigen Wahrheiten des Naturrechtsgedankens klar heraus. Mit bewundernswerter Klarheit behandelt er die ewigen Prinzipien der Gerechtigkeit, der Freiheit und Gleichheit und stellt fest, daß die christliche Gesellschaftsauffassung die einzige ist, „die diese Idee der Gerechtigkeit in sich trägt, die mit der Anerkennung der gleichen, unbedingten Person-sonwürde die Anerkennung der Gemeinschaftsverantwortlichkeit als Pflicht und Recht gegenseitiger Abhängigkeit und Dienstbarkeit verbindet, die einzige, die ebensosehr die Gleichheit wie die Ungleichheit der Menschen zur Geltung bringt und die Selbständigkeit des einzelnen zugleich mit seiner Unterordnung unter ein soziales Ganzes im Gotteswillen verankert weiß. Sie allein vermag darum den Menschen vor den Ansprüchen eines einseitigen Individualismus wie eines einseitigen Kollektivismus zu schützen.“

Bemerkenswert ist auch Brunners Feststellung, daß nicht nur die Verfügungsgewalt über Leib und Glieder dem Menschen ursprünglich, von Schöpfungs wegen zugeteilt ist, sondern auch das Eigentum: „Wer über nichts verfügt, kann auch nicht frei handeln. Ist er doch bei aillem, was er tun will, auf die Erlaubnis anderer angewiesen, die ihm also, wenn es ihnen so gefällt, jedes konkrete Handeln in der Welt unmöglich machen können. Ohne Eigentum gibt es kein freies Personleben. Wer bei jeder Bewegung, die er macht, auf fremden Boden tritt, an fremdes Eigentum rührt, ist kein freier Mensch. Und zwar muß das Wort Eigentum durchaus wörtlich, als Eigen-tum, also, wie wir heute sagen, als Privateigentum verstanden werden. Ohne Privateigentum gibt es keine Freiheit. Kol-lektiveigcntum kann niemals den Freiheitswert des Privateigentums ersetzen. Wo der Staat Alleineigentümer ist und ich Nichteigentümer bin, da bin ich, mag im übrigen der Staat eine Demokratie sein, ein Staatssklave, ein Sklave der volonte generale, die meinem eigenen Willen keinen Freiheitsraum läßt.“

Mit Recht macht jedoch Brunner andererseits darauf aufmerksam, daß das Privateigentum dem Menschen nicht unbedingt gehört, sondern nur als Gotteslehen. „Den anderen Menschen gegenüber ist der Mensch ein Eigentümer, ein allein Verfügender; Gott gegenüber ist er immer nur ein Lehensmann, der Rechenschaft schuldig ist. So steht alles Eigentum, von der Gereditigkeit aus gesehen, unter dem ,Gemeinschaftsvorbehalt'. Alles Eigentum ist nämlich erworben unter Bedingungen, die der Erwerbende nicht selbst geschaffen hat. Er erwirbt Eigentum unter dem Schutze des Staates, in einer Kulturwelt, die er nicht selbst hervorgebracht hat. Darum hat die Gemeinschaft immer ein Mit-Recht am Privateigentum, das sie zum Beispiel in Form von Steuern und Abgaben geltend macht.“

Auch die Frage des gerechten Lohnes findet bei Brunner eine zutreffende Darstellung, an deren Spitze der Satz steht: „Arbeitsleistung darf nicht als Tauschware betrachtet werden.“ Es wird dargelegt, daß zwei Lohnprinzipien um den Vorrang streiten: Der Bedürfnislohn und der Leistungslohn. „Welcher ist der gerechte? Es ist gerecht, wenn der, der mehr leistet, mehr bekommt. Es ist gerecht, daß der, der sein Möglichstes leistet, auch wenn es ein Geringes ist, als vollwertiges Glied der Arbeitsgemeinschaft, als Mensch, der menschenwürdig soll leben können, behandelt wird. Eine Verbindung der beiden Lohnprinzipien ist also notwendig.“

Interessanterweise zieht Brunner aus seinen Darlegungen unter anderem auch die wichtige Erkenntnis, daß es heute weniger um die Errichtung einer formalen Demokratie geht, obwohl gerade dieses Thema von der Politik des Tages derzeit in den Vordergrund gestellt wird, „sondern um die soziale Gerechtigkeit und um die reale Freiheit der Bürger, die einerseits vom monopolistischen Großkapitalismus, andererseits vom kommunistischen Syndikalismus und Totalstaat bedroht sind“.

Diese kurzen Hinweise mögen eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung dieses Werkes geben, das wir als Ruf aus dem uns befreundeten Nachbarland und ak Beweis gleichgerichteter Bestrebungen im calvinischen Lager mit doppelter Freude zur Kenntnis nehmen. Nicht zuletzt stimmen wir auch vollauf mit Brunner überein, wenn er feststellt: „Es ist höchste Zeit, daß wieder einmal , Theologen, Philosophen und Juristen sich zusammentun, um miteinander den Sinn dieser großen Idee, der Idee der Gerechtigkeit zu ergründen und klarzumachen, was das Geredite sei, damit der Verwüstung Halt geboten und in den verwüsteten Gefilden ein Neubau gerechter Ordnungen in die Hand genommen werden kann.“

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