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Sozialismus und Christentum

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Hat wirklich erst das Erlebnis des zweiten Weltkrieges die Geister zu leidenschaftsloser Erwägung der Frage aufrütteln müssen, ob und inwieweit es eine unversöhnliche Fehde ist, in der Sozialismus und Kirche gegeneinander stehen müssen und ob irgendwo die Kräfte zu einer reformatorischen Erneuerung der gesellschaftlichen Ordnung vereinigt werden können? Die Diskussion darüber ist vor einem Jahre in Österreich eröffnet und seitdem auch in anderen Staaten lebendig worden. Eine der bemerkenswertesten Episoden darin war die Rede, die am 22. Mai der gewesene sozialistische Ministerpräsident Hollands, Professor Willem Schermerhorn, an der katholischen Universität von Loewen hielt und in der dieser Führer der Arbeiterpartei Hollands es aussprach: „Die geistigen Kräfte bestimmen die Richtung des sozialen Fortschrittes nd die Entscheidungsschlacht wird geschlagen werden durch die Reakti-viernng jener Werte, die im Christentum begründet sind.“ — In dem kürzlich erschienenen Heft 5 der Monatsschrift „Zukunf t“, der publizistischen geistigen Werkstatt des österreichischen Sozialismus, setzt sich mit dem Thema „Kirche und Sozialismus“ Ernst Mayer auseinander. Der Verfasser macht darin eine beachtliche Untersuchung, die auffällt durch ihre ruhige Sachlichkeit und ihre erkennbare Ausrichtung auf ein positives Ergebnis. Daß er die tiefste Ursache des Gegensatzes, die Dogmatik des dialektischen Materialismus, wie sie Engels formulierte und wie sie in die sozialistische Literatur und Praxis einer langen Periode eingegangen ist, nicht in ihrem ganzen Umfang und nur in dem aus diesem Prinzip sich ergebenden „Klassenkampf“ ein nicht grundsätzliches Hindernis erkennt, darf fürs erste nicht überraschen. Richtig definiert der Autor einen wichtigen Ausgangspunkt der Diskussion:

„Die Kirche ist die erste und älteste Heilsinstitution des Abendlandes, sie ist nach Umfang und Einrichtung allen ähnlichen Bestrebungen der römisch-griechischen Antike weit überlegen, sie zielt, ihrem spirituellen Wesen gemäß, auf den einzigen Anteil des Menschen am Unvergänglichen, auf das Heil und die Rettung seiner Seele ab. Und erst soweit als das,jenseitige Geschick vom irdischen Wandel abhängig scheint, glaubt sie sich berechtigt und verpflichtet, um des einen willen auch den anderen zu lenken. So war die Kirche seit ihrem ersten Tage zugleich eine geistlichgeistige und eine weltliche Einrichtung.“ Von diesen richtigen Sätzen aus müßte der Weg nicht weit sein zum Verständnis, wo das Interesse der Kirche beginnt, auch weltliche Einrichtungen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Grundsätzen zu bringen. Es ist deshalb schwer zu verstehen, wie der Autor zu dem Schlüsse kommt:

„Sofern die katholische Kirche in der Lage ist, die nun einmal erfolgte Entwicklung gelten zu lassen und den Grundsatz wechselseitiger Toleranz anzuerkennen — wobei wir die größeren Schwierigkeiten des dogmengebundenen Katholizismus gegenüber einer mehr oder minder relativierenden Weltanschauung nicht verkennen —, sofern vor allem die Kirche bereit ist, auf eine direkte Beeinflussung des politischen Geschehens zu verzichten und die V e r q u i k-kung der unerläßlichen weltanschaulichen Diskussion mit sozialen Fragen zu vermeiden, ist ein tiefergehender Konflikt zwischen Kirche und Sozialismus weit aus dem Bereich der Wahrscheinlichkeit gerückt.“

Wenn wir den Autor recht verstehen, so meint er, daß die Kirche darauf zu verzichten habe, ihre Grundsätze und ihre Lehre auch dort geltend zu machen, wo von ihr im Gegensatz zu sozialistischen Anschauungen sittliche Werte innerhalb sozialer Probleme erblickt werden, weil sonst eine „Verquickung der weltanschaulichen Diskussionen mit sozialen Fragen“ erfolgen würde. Diese Annahme scheint der folgende Satz zu bestätigen:

„Heute sind die Reformgedanken des Sozialismus so sehr Gemeingut geworden, daß auch die Kirche sie mit geringen Einschränkungen im akzeptieren vermag tmd sich im übrigen immer mehr auf ihren seelsorglich-kultischen Aufgabenkreis beschränken lernt. Damit hat die Entwicklung dieses Verhältnisses einen Punkt erreicht, an dem die längst fällige reinliche Trennung der Sphären möglich erscheint.“

Bei einer so einfach schematischen Auffassung, die an der Verpflichtung der Kirche als Hüterin höchster sittlicher und nicht selten von der Politik — auch sozialistischer Politik — bestrittener Werte vorbeisieht, würde man bald zu Enttäuschungen kommen. Immerhin schätzen wir schon in dieser Untersuchung der „Zukunft“ die unverkennbare ernste Absicht, weil jedes redliche Bemühen uns alle der Wahrheit und dem Erreichbaren näherführt. Wo eine Hand in ehrlicher Absicht ausgestreckt wird, dort soll sie ergriffen werden. Der erste Ertrag sachlicher Auseinandersetzung kann in weiten Kreisen der Abbau der Vorurteile sein, das Besinnen auf die menschliche Gemeinschaft und ihre moralischen Bindungen.

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