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Sprache eines wahrhaft Wissenden

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NOTIZEN, TAGEBÜCHER, LEBENSERINNERUNGEN. Von Ferdinand Ebner. Ebner Schriften II. Herausgegeben von Franz S e y r. Kösel-Verlag, München, 1903. 1194 Seiten. Preis 60 DM, Subskriptionspreis 54 DM.

Jenes ungewöhnliche Maß an geistigen und körperlichen Leiden, das die Tagebücher Ferdinand Ebners, wenn auch nur andeutungsweise, enthüllen, scheint unabdingbar notwendig gewesen zu sein, um die letzte Wahrheit über das Wesen des menschlichen Geistes, die — in gewisser Weise Voraussetzung der geistigen Existenz jedes einzelnen — bereits von Augustinus ausgesprochen worden war, neu zu entdecken und in einer auch für die Menschheit des 20. Jahrhunderts zugänglichen Weise zu formulieren. Denn wer vermöchte diese Wahrheit, die Wahrheit, daß der Grund alles menschlichen Seins, im letzten also auch die absolute Wahrheit selbst, nichts anderes sei als die Liebe, die Liebe des menschlichen „Ich” als Geist zu einem anderen Geist, einem „Du” — im letzten zum „Ur-Du” Gottes —, heute noch zu begreifen, wenn sich ihre Explikation gleichsam innerhalb des Wissens vollzieht, daß diese Liebe im absoluten Sinne auch das konkrete Ich des Denkenden selber in die ungebrochene und fraglose Gemeinschaft mit Gott einbeziehe; wer vermöchte der Augu- stinischen Lehre, daß „die Liebe” im Grunde „die Liebe des Geliebten liebe” (in dieser unbedingt vorausgesetzten Gegenliebe daher in gewissem Sinne auch sich selbst), heute noch Geltung zu verschaffen, nachdem die eigentliche Grundvoraussetzung dieser Einsicht, das unmittelbare Verständnis absoluter Heiligkeit, gerade im Bereich des theoretischen Denkens schon seit vielen Jahrhunderten verlorengegangen ist!

Die Sprache des um die Wahrheit Ringenden aber, die Sprache dessen, der die „Realität” des „Ich” in sei-ner Beziehung auf ein „Du” (die „Wirklichkeit des Geistes” also) nicht aus seiner fraglosen Einbezo- genheit in diese gnadenhafte Relation der gegenseitigen Liebe begreift, sondern vielmehr aus seinem Ausgeschlossensein aus diesem Liebes- bezug, ist auch dem skeptischen, seiner schuldhaften Verstrickung sich immer mehr bewußt werdenden Menschen des 20. Jahrhunderts in unmittelbarer Weise einsichtig und eröffnet überdies gerade darin, wie die jüngsten Augustinusforschungen beweisen, einen neuen Zugang zum Augustinischen Denken selber. Aber nicht nur das. Dieses gleichsam negative Selbstverständnis des Menschlichen aus der existentiell unerfüllten Sehnsucht nach der allerletzten Wahrheit, die sich eben nur in der vollkommen universalen Liebe verwirklicht, erschließt auch das eigentliche Wesen des anderen, in der Kontinuität der Tradition übrigens überwiegenden Pols abendländischen Philosophierens, das Verständnis des idealistischen Denkens, das sich von dieser neuen Perspektive aus eben gleichfalls als ein freilich uneingestandenermaßen negatives Selbstverständnis des Menschlichen, als ein bewußtes Beharren auf der fiktiven Selbstgesetzlichkeit des Ich, darstellt.

Kurz vor seinem Tode scheint allerdings auch Ferdinand Ebner die Sprache des um die Wahrheit Ringenden mit der Sprache eines wahrhaft Wissenden, mit der Sprache absoluter und universaler Liebe also, vertauscht zu haben. Freilich konnte sich dieses Wissen keineswegs in der Korrektur seiner bisherigen Einsichten äußern — würde doch eine Korrektur nichts anderes bedeuten als einfach die Fixierung eines neuen, mit seinem bisherigen Denken eben in Widerspruch stehenden Standpunktes —, sondern nur in der Zurücknahme alles Denkens überhaupt, also auch in der Zurücknahme des eigenen Denkens, das als Weg zu dieser letzten Wahrheit hin in gewisser Weise allerdings als durchaus notwendig erscheint. Mit der Erreichung dieses Zieles, mit dem Bewußtsein der alles — nun tatsächlich eben auch das eigeneich umfassenden Liebe, die eo ipso auch das Bewußtsein der Vergebung des eigenen Verschuldens impliziert, ist hier, angesichts des Todes, freilich auch die Überzeugung der Vergebung aller menschlichen Schwächen überhaupt verbunden, so daß sich jener große Ankläger aller Philosophie und Theologie, aller Wissenschaft und Kunst am Ende seines Lebens in einen Anwalt alles Menschlichen verwandelte.

Neben den Tagebüchern in der eigentlichen Bedeutung des Wortes den „subjektiven Tagebüchern”, wie Ferdinand Ebner selber sie nennt —, den unmittelbar die Umstände seines persönlichen Lebens betreffenden Aufzeichnungen also, die dem ersten Band dieser Ausgabe gegenüber (er enthält neben den Pneumatologischen Fragmenten, den Brenner-Aufsätzen und einigen Nachlaßwerken vor allem auch mehrere Aphorismensammlungen) eine grundsätzlich neue Dimension eröffnen, beinhaltet der vorliegende Band auch eine umfangreiche Auswahl aus den „objektiven Tagebüchern”, hier, um Zweideutigkeiten im Titel zu vermeiden, „Notizen” genannt und mit Recht — gleichsam den Übergang von den eigentlichen schriftstellerischen Werken, dem Gedachten, zur Person des Denkers selber bildend — als erster Hauptteil an die Spitze dieses Bandes gestellt. Bei der ohne Zweifel überaus glücklichen Auswahl der Zitatstellen war ein doppelter Gesichtspunkt maßgebend. So geht es Professor Franz Seyr, dem verdienstvollen Betreuer dieser Ausgabe, neben der Verdeutlichung „des Entwicklungsganges,. den Ferdinand Ebners Den- ken nahrp” — wobei natürlich auch die der Lebensphilosophie verpflichteten Anfänge entsprechend zu berücksichtigen waren, vor allem aber jene Periode des eigentlichen Durchbruchs seines personalistischen Denkstils — in erster Linie auch darum, alle „jene Denkmotive, die in seinen Fragmenten, Aufsätzen und Aphorismen weniger zur Geltung kommen”, hier wenigstens anklingen zu lassen.

Bei der Auswahl aus den „subjektiven Tagebüchern” — ihnen ist der zweite Hauptteil des vorliegenden Bandes gewidmet — war neben dem Bestreben, einen möglichst lückenlosen Einblick in sein äußeres Leben zu vermitteln, ein im eigentlichen Sinne „metabiographisches” Anliegen (Seyr spricht von einem „pneumatographischen Aspekt”) maßgebend, das Anliegen nämlich, Ebners geistiges Ringen in der eigentlichen Bedeutung des Wortes — in jenem strengen Sinne also, der gerade durch seine eigenen Schriften in wohl endgültiger Weise definierbar wurde — als das Ringen des Menschen um den unmittelbaren Bezug zum Ur-Du Gottes deutlich zu machen.

Der dritte Abschnitt — „Lebenserinnerungen” betitelt — enthält eine Reihe autobiographischer Skizzen Ferdinand Ebners und bildet in gewisser Weise geradezu den existentiellen Kern dieses Bandes. Denn gerade hier — in den „Notizen zu einer Geschichte meines geistigen Lebensganges” etwa, in denen sich Ferdinand Ebner, der große Entlar- ver Otto Weiningers und Siegmund Freuds und der Verfechter einer neuen Redlichkeit auch in den Belangen des philosophischen Denkens, keineswegs scheut, wenig rühmliche erotische Abenteuer und selbst kleine Eigentumsdelikte aus seinen Jugendjahren einzugestehen — wird unmittelbar deutlich, daß das „Ergriffensein” von der letzten und absoluten Wahrheit nicht nur ein unentwegtes, sich dem Leiden nicht entziehendes geistiges Ringen zur Voraussetzung hat, sondern ebensosehr auch den Willen zur Wahrheit als solcher, die unbedingte Wahrhaftigkeit des Denkenden selber als die eigentliche Offenheit zur Wahrheit hin.

Ein erst zum vollen Textverständnis verhelfendes biographisches Nachwort, Hinweise zur Textgestaltung, ein Anmerkungsapparat und eine umfangreiche Bibliographie zeugen von der profunden Sachkenntnis Professor Seyrs, der auch den dritten, bereits in Vorbereitung befindlichen Ebner-Band, einen Brief-Band, redigieren wird.

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