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In einer seiner legendären Vorlesungen in Berlin - vor einem größtenteils nicht akademischen, enthusiastisch lauschenden Publikum -sprach der Soziologe und Philosoph Georg Simmel über eine chinesische Porzellanschale mit zarten Tuschzeichnungen. Er verwies auf deren Doppeldeutigkeit: Einerseits die spontane Zeichnung; andererseits der Brennvorgang, der erst die Materialisierung des Kunstwerks gewährleistet. In dieser offenen Dialektik von fließender Dynamik und objektiver Formgebung sah Simmel die wesentliche Komponente seines Denkens. Zeit seines Lebens beschäftigte sich Simmel mit ästhetischen Themen und veröffentlichte Bücher und Essays über Goethe, Rembrandt, Michelangelo oder Rodin. Das ist jedoch nur eine Facette seines umfangreichen Werkes. Der heute als Klassiker und Mitbegründer der Soziologie geltende Gelehrte - ein wesentlicher Theoretiker der frühen Moderne -war ein schillernder Intellektueller, der die traditionelle Spezialisierung der akademischen Welt sprengte. Er wirkte als Philosoph, Soziologe, Kunst-und Kulturhistoriker -meist außerhalb des akademischen Betriebs. Er verfasste Studien über die "Probleme der Geschichtsphilosophie", die "Philosophie des Geldes","Die Großstädte und das Geistesleben" oder über die "soziale Differenzierung". In zahlreichen Essays äußerte er sich über die Freundschaft, den Fremden, die Soziologie der Familie, den Reiz von Alpenreisen oder die Mode. Metaphysische Spekulationen über das Wesen des Menschen lehnte Simmel ab; er interessierte sich vielmehr für das konkrete Individuum und sein gesellschaftliches Umfeld. Dabei betonte er das Element des Fließens in den Wechselwirkungen im Zusammenleben der Menschen, "all die tausend momentanen oder dauernden, bewussten oder unbewussten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen".

Unbequemer Denker

Geboren wurde Georg Simmel am 1. März 1858 als jüngstes von sieben Kindern einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die zum Christentum konvertierte. Sein Vater verstarb bereits 1874; der Musikverleger Julius Friedländer -ein Freund der Familie -wurde zu seinem Vormund bestimmt. Simmel erbte später von ihm ein beträchtliches Vermögen, das ihn wirtschaftlich unabhängig machte; dadurch konnte er sein theoretisches Werk ohne Rücksicht auf akademische Institutionen verfassen. Ab 1876 studierte Simmel in Berlin Geschichte, Philosophie, Völkerpsychologie und Kunstgeschichte. Bereits zu Beginn seiner angestrebten akademischen Laufbahn hatte der Querdenker mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Sein erster Promotionsversuch scheiterte; die Arbeit "Psychologisch-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik" wurde mit der Begründung abgelehnt, "dass sie einen aphoristischen Charakter habe, die in einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht erlaubt sei". Dieser Vorwurf wurde von einigen Universitätsphilosophen später immer wieder geäußert. Nach der erfolgreichen Habilitation kam es bei der Antrittsvorlesung zu einem Eklat, weil Simmel dem Vorsitzenden widersprach. Damit hatte er sich eine Karriere als Professor verbaut; er wirkte als Privatdozent. Seine Vorlesungen waren ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem sich das gebildete Berliner Publikum einfand. In überfüllten Sälen entfaltete Simmel Konturen verschiedener Lebensstile der Moderne. 1890 heiratete Simmel die Malerin und Schriftstellerin Gertrud Kinel, die auch philosophische Bücher schrieb. Ihr gemeinsames Haus wurde zu einem Ort des geistigen Austausches, wo sich Rainer Maria Rilke, Edmund Husserl, Ernst Bloch oder Max Weber einfanden. 1900 erhielt Simmel eine unbezahlte außerordentliche Professur für Philosophie in Berlin. Erst im Alter von 56 Jahren wurde er ordentlicher Professor an der Universität Straßburg, wo er am 26. September 1918 an Leberkrebs verstarb.

Simmels gesamtes theoretisches Werk war von der Intention geprägt, eine Phänomenologie der Moderne zu entwerfen. Mit der Moderne wurde Simmel schon seit seiner frühesten Jugend in der lärmenden Großstadt Berlin konfrontiert. Die um die Jahrhundertwende stark expandierende Metropole wies eine bis dahin nicht vorstellbare Fülle an verschiedenen Sinneseindrücken auf. Der Philosoph Theodor Lessing beschrieb Simmels Jugend in Berlin, die "von schreienden Lichtreklamen, rasselnden Straßenbahnen, keuchenden Omnibussen, giftig grünem Gaslicht und von einem wahnsinnigen Getöse einer tobenden Menschenmasse geprägt wurde". Gleichzeitig wuchs das Warenangebot in den Kaufhäusern, in denen ein künstliches Paradies der Warenwelt inszeniert wurde, das eine "Schaufenster-Qualität" der Dinge vermittelte. In der Großstadt verortete Simmel auch den Sitz der Geldwirtschaft, die er als die Ursache der Entwicklung der sozialen Beziehungen ansah.

In der 1900 publizierten umfangreichen Studie "Philosophie des Geldes" hatte sich Simmel mit der Rolle des Geldes und dessen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben beschäftigt. Für den Soziologen war das Geld das Objektive, "an dem alles Persönliche endet". Das Geld -als "Generalnenner aller Werte" - ermöglicht einen Warenaustausch, in dem die jeweilige Qualität der Ware am Geldwert bemessen wird. "Das Geld wird zum fürchterlichsten Nivellierer, der den Kern der Dinge aushöhlt". Als "Ausdruck und Äquivalent aller Werte" verwandelt es sich von einem Mittel des Tausches zum absoluten Selbstzweck. Das Geld misst alles "mit unbarmherziger Objektivität" und verkehrt alle natürlichen und menschlichen Qualitäten.

In Simmels Salon

Für Simmel stellte sich die Frage, welche Möglichkeiten das Individuum hat, sich in einer durch die Herrschaft dieser "objektiven Kultur" nivellierten Gesellschaft zu verhalten; oder um es mit Theodor W. Adorno auszudrücken, ob ein Leben im ganz Falschen möglich sei? Darauf antwortete Simmel mit der Konzeption einer soziologischen Ästhetik, die alle Lebensbereiche betraf und als Vorbild für das Kunstgewerbe der Wiener Werkstätte diente. Simmel schuf für sich ein solches ästhetisch durchgestyltes Refugium in seiner Wohnung, wie der Bericht seiner Studentin Margarete Susman zeigt: "Das Arbeitszimmer war mit kostbaren, alten Perserteppichen belegt. Bilder großer Meister, eigenhändige Zeichnungen von Rodin hingen an den Wänden. Überall standen Vasen und Schalen fernöstlicher Kunst, auserlesene Buddhafiguren." Simmel verstand sein ästhetisches Reich keineswegs nur als Ort eines individuellen Rückzugs, sondern als Schauplatz einer "gepflegten Geselligkeit". Er schätzte das Gespräch innerhalb einer vertrauten Gesellschaft. Wesentlich war, dass die Geselligkeit ein bestimmtes intellektuelles Niveau aufwies; sie sollte eine "Geselligkeit unter Glei-

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